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Heiligkeit aushandeln

Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft (1560-1790)

AutorDaniel Sidler
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl593 Seiten
ISBN9783593437514
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis62,99 EUR
Die Zuschreibung von Heiligkeit war in der frühen Neuzeit einem Aushandlungsprozess unterworfen, an dem ganz unterschiedliche Akteure beteiligt waren: Päpste, Priester und Gläubige, aber auch die Heiligen im Himmel selbst, die - so die Annahme - Wunder bewirkten oder auf andere Weise in den Kanonisationsprozess auf Erden eingriffen. Ausgehend von Gnadenorten in der katholischen Eidgenossenschaft, folgt diese Studie dem Landespatron Niklaus von Flüe und anderen, in der Eidgenossenschaft als 'Vielselige' bezeichneten Figuren von ihrer Verehrung im lokalen Kontext bis zu den Verfahren der Kultanerkennung.

Daniel Sidler forscht an der Universität Bern und arbeitet als Lehrer und Kulturvermittler.

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Leseprobe
Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung der Dissertation, die ich 2016 an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern eingereicht und verteidigt habe. Wie jede Dissertation hat auch die meine von der ersten Projektskizze bis zur Drucklegung einen langen Weg zurückgelegt, der für mich meistens spannend und manchmal beschwerlich war, auf dem mich jedoch stets zahlreiche Menschen wohlwollend begleiteten. Es ist mir ein großes Anliegen, jenen Personen und Institutionen, die in besonderem Maße zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben, namentlich zu danken. Dank gebührt allen voran meinem Doktorvater Christian Windler, der mich seit meinen frühen Studienjahren gefördert und in vielfältiger Weise unterstützt hat. Er hat das Projekt nicht nur angeregt und für ideale Rah-menbedingungen gesorgt, sondern stand mir während des gesamten Ar-beitsprozesses in allen Belangen hilfsbereit zur Seite. Kaspar von Greyerz danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und seine Hinweise, die ich für die Drucklegung noch einarbeiten konnte. Danken möchte ich auch Stefan Rebenich für seine Anregung, das Manuskript in die 'Historischen Studien' aufzunehmen, und den übrigen Reihenhe-rausgebern für ihre Einwilligung in diesen Vorschlag. Jürgen Hotz danke ich für die engagierte und umsichtige Betreuung der Publikation. Nicht möglich gewesen wäre dieses Projekt ohne die finanzielle Unter-stützung durch verschiedene Institutionen und Stiftungen: Der Janggen-Pöhn Stiftung verdanke ich die Finanzierung erster Archivrecherchen, dem Schweizerischen Nationalfonds eine Stelle im Rahmen des Projekts 'Lokale Frömmigkeitskulturen und translokaler Katholizismus' und der Dr. Joséphine de Karman-Stiftung ein Stipendium zur Fertigstellung des Manuskripts. Die Arbeit am Projekt hat mich im Laufe der Jahre in zahlreiche Archive und einige Museen geführt, wo ich von engagierten und interessierten Fachpersonen offen empfangen wurde. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Namentlich danken möchte ich Urs Sibler, dem Leiter des Museums Bruder Klaus Sachseln, der mir bereits früh im Projekt die Möglichkeit bot, eine kleine Ausstellung zum Thema mitzugestalten. Dankbar bin ich, dass ich unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Bern Freundinnen und Freunde gefunden habe, auf deren Unterstützung ich bei den zahlreichen Fragen, die ein Dissertationsvorhaben mit sich bringt, zählen durfte. Für Hinweise und kritische Gegenlektüren danke ich Andreas Affolter, Samuel Weber und Philipp Zwyssig. Ganz besonders dankbar bin ich Nadine Amsler und Nadir Weber, die das Projekt vom ersten Antragsentwurf bis zur Fertigstellung begleitet, mit ihren stets wohlwollenden Ratschlägen viel zum Vorankommen beigetragen und sich zum Schluss die Zeit genommen haben, große Teile des Manuskripts zu lesen. Überaus dankbar bin ich auch Bernhard Stöckli, der mit viel Liebe zum Detail die Karten im Anhang erstellt und mich ganz nebenbei in die spannende Welt der Kartographie eingeführt hat. In der Endphase des Projekts unverzichtbar war ebenso die Hilfe von Tobias Wiederkehr, der mit großer Akribie die Bibliographie und die Fußnoten überarbeitet hat. Wenn sich schließlich die sprachlichen Ungereimtheiten in diesem Buch in Grenzen halten, so ist dies zu einem großen Teil das Verdienst von Gerda Baumgartner, Judith Ehrensperger und Franziska Moor, die den Text sorgfältig lektoriert haben. Zum Scheitern verurteilt ist jeder Versuch, in Worten zum Ausdruck zu bringen, wofür ich Judith darüber hinaus alles danken möchte. Sie hat mich immer wieder in irdische Gefilde zurückgeholt, wenn ich allzu sehr im Heiligenhimmel schwebte, mir die Hand gereicht, wenn ich am Aushandeln der Heiligkeit zu verzweifeln drohte, und mich auf all meinen gedanklichen und physischen Reisen - nicht nur jenen nach Rom - begleitet. Herzlich danken möchte ich nicht zuletzt meinen Eltern Max und Lucia Sidler. Interessiert und verständnisvoll haben sie mich während des gesamten Studiums in allen Belangen unterstützt und geduldig darauf gewartet, bis die Gedanken ihres Sohnes nun zwischen zwei Buchdeckel passen. Lucia, Max und Judith widme ich diese Arbeit in tiefer Dankbarkeit. Bern, im Juni 2017Daniel Sidler Einleitung Am 3. Dezember 1680 bereitete die Stadt Luzern ihrem Herrscher, unter dessen Protektion sie sich einige Jahre zuvor gestellt hatte, einen großen Empfang. Die Gassen waren herausgeputzt, der städtische Rat und kirch-liche Amtsträger versammelt, Ordnungshüter positioniert und die Menschen aus der Stadt, dem Umland und den benachbarten katholischen Orten herbeigeströmt. Als das Geläut der Glocken sämtlicher Luzerner Kirchen die Ankunft des neu einziehenden Machthabers signalisierte, holten ihn die Luzerner bei der Peterskapelle ab, von wo ihn, prachtvoll mit Gold und Edelsteinen geschmückt, Patres des städtischen Jesuitenkollegiums auf einer Sänfte in einer Prozession durch die Stadt führten. An der Spitze des Umzugs ging ein junger, als Schutzengel verkleideter Mann, der symbolisierte, dass Stadt und Landschaft sich umfassenden himmlischen und irdischen Beistand von ihrem Protektor erhofften. Hinter ihm marschierten in festgelegter Ordnung zunächst, den Rosenkranz betend, die Schüler des Jesuitenkol-legiums und, Heiligenstatuen in die Höhe haltend, die Mitglieder der vier städtischen marianischen Kongregationen. Anschließend zeigten als Heiden und als indische und japanische Könige verkleidete Prozessionsteilnehmer, wie weltgewandt und weitgereist der in Luzern einziehende Machthaber war. Ein von acht Pferden aus dem Stall des savoyischen Gesandten gezogener Wagen trug ein silbernes Bildnis des Herrschers und ein Dekret, das den Protektor als authentisch und glaubwürdig auswies. Weitere Ordens- und Weltgeistliche gaben sich die Ehre, Trompeter und andere Musikanten begleiteten den feierlichen Zug, es folgte der Herrscher selber auf seiner Sänfte, hinter ihm die Chorherren, der städtische Rat und schließlich die Bevölkerung. Die Prozession endete nach einer Stunde vor der Jesuitenkirche, wo Hochamt und Vesper gefeiert wurden, die ein achttägiges, mit allen religiösen Würden begangenes Freudenfest einleiteten. Mit dieser Prozession empfing Luzern natürlich keinen weltlichen Herrscher oder Machthaber, und schon gar keinen, der leibhaft auf der Sänfte gesessen hätte. Auf jener Trage lag vielmehr eine Blutpartikel des vor mehr als hundert Jahren in Indien verstorbenen, 1622 vom Papst in Rom zum Heiligen gekrönten Franz Xaver. Luzern hatte den ersten jesuitischen Asienmissionar, den die katholische Kirche als 'Missionar der Inder' verehrt, 1654 zu seinem Schutzpatron gewählt und ihm 1677 die neu gebaute Jesuitenkirche geweiht. Die Blutpartikel, die in der Prozession von der Peterskapelle, wo sie einige Tage aufbewahrt worden war, an ihren Bestimmungsort überführt wurde, verdankte Luzern dem Jesuitenpater Alois Konrad Pfeil, der um die Jahreswende 1676/77 nach mehreren Jahren am Luzerner Kollegium in die Überseemission nach Brasilien aufgebrochen war. Pfeil hatte die Reliquie in Lissabon von einem Ordensbruder erhalten, der sie wiederum in Goa vom Vorsteher des dortigen Kollegiums geschenkt bekommen hatte. Via Ordensgeneral und Domherren von Besançon übermittelte Pfeil die kostbare und authentifizierte Reliquie schließlich den Luzerner Jesuiten. Luzern erhielt damit einen kleinen Teil des über die halbe katholische Welt verteilten Leichnams: Der Hauptteil des Körpers befand sich seit 1554 in Goa, der rechte Unterarm war 1615 nach Rom in die Jesuitenkirche Il Gesù überführt worden, der rechte Oberarm war auf die Kollegien von Malakka, Makao und Cochin verteilt, eine andere Armpartikel befand sich in Köln, ein Ohr in Lissabon, ein Stück des Brustbeins in Tokio, ein halber Zeh an Xavers Geburtsort Javier - die Liste ließe sich fortsetzen. In der Luzerner Jesuitenkirche war Xavers Blutpartikel, die fortan in einem Reliquiar aufbewahrt und einmal jährlich auf dem Altar ausgestellt wurde, nicht die einzige als authentisch verehrte Heiligenreliquie. Mit dem Bau der neuen Kirche konnte auch ein anderer heiliger Gegenstand, den die Jesuiten bereits 1580 erhalten hatten, erstmals in einer eigenen Seitenkapelle öffentlich ausgestellt werden. Es handelte sich bei dieser Reliquie um den Rock von Bruder Klaus von Flüe (1417-1487), dem in der ganzen Eidgenossenschaft bekannten Eremiten aus Sachseln in Obwalden, der erst kurz vor der Weihe der Luzerner Jesuitenkirche von der römischen Kurie seliggesprochen worden war. Anlässlich jener Weihe hatten die Jesuiten auch Bruder Klaus' Rock in einer Prozession durch die Stadt getragen. Dem Ziel einer weltweiten Verehrung nach dem Vorbild Franz Xavers kam Bruder Klaus damit einen kleinen Schritt näher: Nachdem sich seine kultische Verehrung zuvor vorwiegend auf die Pfarrei Sachseln, in deren Pfarrkirche sein Leichnam begraben lag, konzentriert hatte, war diese Seitenkapelle in der Franz Xaver-Kirche der zweite Ort in einem Kirchenraum, an dem eine seiner Reliquien dauerhaft zu sehen war - gute Voraussetzungen also, um den Papst alsbald von seiner Heiligkeit zu überzeugen. Beide Dinge, die Blutpartikel von Franz Xaver und der Eremitenrock von Bruder Klaus von Flüe, blieben nicht lange wirkungslos, sondern wurden an ihrem neuen Bestimmungsort sogleich 'wundertätig': Noch während der Feierlichkeiten im Dezember 1680 ereigneten sich einige wundersame Geschehnisse, die die Jesuiten in ihrem Jahresbericht verzeichneten. Eine Frau beispielsweise, die ein Bild des Heiligen, das sie zuvor mit der Blutpartikel - respektive wohl deren Reliquiar - berührt hatte, auf den Kopf ihres Kindes legte, berichtete, dass ihr Kind darauf in einen wohltuenden Schlaf gefallen sei, nachdem es zuvor 'ein halbes Jahr wegen schrecklichem Weinen und starken Kopfschmerzen' nicht hatte schlafen können. Und am Altar von Bruder Klaus zeugten in den folgenden Jahren Kerzen und Votivgaben von der Hilfe, die die Luzerner Bevölkerung in ihren Nöten von diesem Seligen erhalten hatte. Ein in der gesamten katholischen Welt verehrter, vom Papst gekrönter Heiliger, der, repräsentiert durch eine aus Goa via Lissabon importierte Blutpartikel, in Luzern fast wie ein König empfangen wurde; der Rock eines Obwaldner Seligen, von dessen Heiligkeit die katholischen Eidgenossen die römische Kurie zu überzeugen versuchten - beides Reliquien, die Wunder wirkten, die heilten und von alltäglichen Sorgen befreiten: Mit diesem Blick auf jenen Dezembertag im katholischen Vorort Luzern und in die dortige Jesuitenkirche sind die Themen und Interessen dieser Studie bereits genannt. Es geht in den folgenden Kapiteln um den frühneuzeitlichen Katholizismus als eine weltumspannende Religion mit universalem Anspruch. Es geht um lokale Traditionen in den katholischen Orten der Eidgenossenschaft, die in die Kirche integriert, bestenfalls sogar auf eine globale Ebene gehoben wer-den sollten. Es geht um die Zirkulation katholischer 'Heilsgüter', um Blutpartikeln, Röcke, Bilder und andere Dinge, die Wunder wirkten. Es geht um Heilige, Selige und heiligmäßige Figuren, die nicht nur tugendhafte Vorbildkatholiken oder bloß auf Bildern präsente Gestalten waren, sondern bedeutende Akteure, mit deren Eingreifen in ihr Leben die Menschen in der Frühen Neuzeit jederzeit rechneten. Es geht damit letztlich um die Frage, was Heiligkeit in der frühneuzeitlichen katholischen Eidgenossenschaft bedeutete. Bevor wir uns der genauen Begrifflichkeit, den methodischen Zugängen und der Anlage der Studie zuwenden, soll dieses Erkenntnisinteresse zunächst im Kontext neuerer Forschungen zum frühneuzeitlichen Katholizismus situiert werden. 1. Lokale Religiosität und universaler Katholizismus in der Frühen Neuzeit: Situierung im Forschungskontext Mit dem Interesse an lokalen Formen katholischer Religiosität einerseits, am universalen Anspruch der katholischen Kirche andererseits, knüpft die Arbeit an zwei Tendenzen in der Erforschung des frühneuzeitlichen Katholizismus an. Die These einer 'Universalisierung' römischer Normen, die am Konzil von Trient (1545-1563) beschlossen worden war, war bereits im Konfessionalisierungsparadigma angelegt, das seit den 1970er Jahren die Forschung vor allem im deutschsprachigen Raum wesentlich prägte. Dieses Paradigma, unter dem - im Unterschied zu älteren kirchengeschichtlichen Ansätzen - kein rein innerkirchlicher Vorgang, sondern ein sozialgeschichtlicher Prozess verstanden wurde, beschrieb in seiner ursprünglichen, von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling geprägten Form einen alle Konfessionen betreffenden gesellschaftlichen Fundamentalvorgang, bei dem die Kirchen ab Mitte des 16. Jahrhunderts in Abgrenzung zueinander und mit Hilfe der entstehenden Staaten die neuen konfessionellen Normvorstellungen universal durchzusetzen versuchten. Dies habe, so Reinhard und Schilling, europaweit zu einer Disziplinierung und Homogenisierung der Untertanen geführt. Das Konfessionalisierungsparadigma wurde, obwohl zumindest in der katholischen Variante mittlerweile zum 'Epochenphänomen' aufgestie-gen, in den letzten zwei Jahrzehnten nuanciert und teilweise auch heftig kritisiert. Für die protestantische Seite bemängelt beispielsweise Heinrich Richard Schmidt die Vernachlässigung der im Alltag präsenten christlichen Kultur durch die Konfessionalisierungsforschung und schlägt ausgehend von seinen Studien zu den Berner Chorgerichten die 'lokal eingebettete Gesellschaft' als Alternative zum Etatismus vor. Mit Blick auf die katholische Kirche und Kultur kritisiert Peter Hersche sowohl den Etatismus als auch die angeblich sozialdisziplinierende Wirkung der neuen tridentinischen Normen. Der These, dass sich die Konfessionen in gleichförmigen Prozessen entwickelten und funktional äquivalente Disziplinierungsinstrumente herausbildeten, hält Hersche - an die Zwei-Kulturen-These Max Webers anknüpfend - den 'Barockkatholizismus' als charakteristische katholische Kultur entgegen, die sich durch einen weitgehenden Verzicht auf Verhaltensdisziplinierungen und durch 'Muße und Verschwendung' gekennzeichnet habe. Auch Kaspar von Greyerz warnt vor einer funktionalistischen Herangehensweise und einer etatistischen Sicht bei der Erforschung des frühneuzeitlichen Katholizismus und regt stattdessen dazu an, die alltägliche religiöse Praxis in den Blick zu nehmen. Die Werke von Peter Hersche und Kaspar von Greyerz sind Ausdruck einer Tendenz, die Verankerung von Glaubensvorstellungen und -praktiken in den lokalen Lebenswelten ins Zentrum der Untersuchung zu rücken und nach der gestaltenden Rolle der 'einfachen Gläubigen' bei der Entstehung katholischer Konfessionskulturen zu fragen. Die Vorstellung, dass sich nach dem Konzil von Trient eine katholisch-konfessionelle Großgruppe herausgebildet habe, wird dadurch in Frage gestellt und stattdessen die Herausbildung verschiedener 'Katholizismen' propagiert, die sich je nach Region oder der Verankerung in der lokalen Lebenswelt unterschieden. So spricht Marc Forster unter Berücksichtigung der kommunalen Vorgänge im Reich von einem 'local Catholicism', der nicht aus den Glaubensvorstellungen der politischen oder religiösen Eliten, sondern aus jenen der lokalen Bevölkerung hervorging. Konfessionalisierung wird dabei, sofern der Begriff in diesen Studien verwendet wird, nicht mehr als von oben gesteuerter Vorgang, sondern als Interaktionsverhältnis zwischen den unterschiedlichen an der Reform partizipierenden Akteuren und als ergebnisoffener Prozess aufge-fasst, in den, so etwa Andreas Holzem, 'die konfessionelle Großkirche, der Staat, aber auch die aus lokalen Lebenswelten zusammengesetzte Gesellschaft je eigene Elemente einbrachten'. Auch die Rolle kirchlicher Reformkräfte wie der Jesuiten und der Kapuziner erscheint in diesen Studien in einem neuen Licht. Statt in ihnen ausschließlich 'Agenten der Konfessionalisierung' zu sehen, betonen Untersuchungen wie jene von Dominik Sieber zu den Jesuiten in Luzern und von Hillard von Thiessen zu den Kapuzinern in Freiburg und Hildesheim die intermediäre Rolle der Orden zwischen kirchlichen und lokalen Glaubensvorstellungen und ihre Flexibilität im Umgang mit traditionellen Vorstellungen und Praktiken. Wenn die 'konkrete Glaubenspraxis' in diesem Sinn als 'Ergebnis eines Aushandlungsprozesses' beschrieben wird, 'der mehrere Gruppen und Ebenen involvierte, und das lokal erheblich variieren' konnte, so entsprach das Ergebnis dieses Prozesses nicht einer konfessionell homogenen Kultur. Vielmehr bildeten sich im Zuge der Reformbestrebungen hybride und mehrdeutige Glaubenspraktiken heraus. So wurden in der katholischen Religiosität außerkirchliche Spezialisten wie etwa Wahrsager nie vollständig von kirchlich gebundenen Praktiken verdrängt, sondern zeigen im Gegenteil, wie nahe kirchliche und magische Praktiken in der frühneuzeitlichen Lebenswelt bei-einanderlagen. Auch im Grenzraum zwischen den Konfessionen bilde-ten sich Phänomene der Transkonfessionalität und Kulturen der Ambi-guität heraus, wie neuere Forschungen zu Konversionen und zu konfes-sionellen Grenzgängern zeigen. Während die genannten Arbeiten die dem Konfessionalisierungspara-digma inhärente These einer tatsächlichen Universalisierung und Standardisierung der nachtridentinischen Kirche und Kultur nuancieren, stellen verschiedene neuere Studien die globale Vernetzung und den universalen Anspruch des frühneuzeitlichen Katholizismus ins Zentrum ihrer Untersuchung. Die Globalität im Sinne der Vernetzung verschiedener Missionsgebiete und der Interdependenzen zwischen inner- und außereuropäischer Mission steht etwa am Ausgangspunkt der Studie von Luke Clossey, der im Ziel der Rettung von Seelen die Gemeinsamkeit der in unterschiedlichen Erdteilen tätigen Missionare und darin auch das entscheidende Charakteristikum des frühneuzeitlichen Katholizismus sieht. Mit dem universalen Anspruch des Jesuitenordens und der damit verbundenen Herrschafts- und Regierungspraxis beschäftigt sich Markus Friedrich, der - bei allen Einschränkungen hinsichtlich der effektiven Funktionsweise - auf das beträchtliche Aus-maß an papierbasierter Zentralverwaltung und auf deren flexible Handha-bung durch die Ordensoberen hinweist. Stärker an den Grenzen des universalen Anspruchs sind Studien interessiert, die sich mit der Frage nach der Durchsetzung konfessioneller Normen respektive deren flexibler Auslegung durch die im Zuge der Reform des Kurienapparates im 16. und 17. Jahrhundert neu gegründeten römischen Kongregationen, etwa die Propaganda Fide oder das Heilige Offizium, in der Verwaltung der inner- wie außereuropäischen Mission beschäftigen. In Zweifelsfällen pflegten diese Kongregationen, so zeigt Christian Windler für die Mission in Persien, den Anfragen von Missionaren mit Nichtentscheiden zu begegnen oder Ausnahmefälle zu definieren, um nicht von den Prinzipien der nachtridentinischen Kirche abrücken zu müssen und dennoch den Erfordernissen der lokalen Verhältnisse Rechnung zu tragen. Solche Forschungsergebnisse zeigen damit auch, dass es fruchtbar ist, die Interdependenzen von lokalen Katholizismen und den Ent-scheidungspraktiken in Rom genauer zu untersuchen.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort10
Einleitung12
1. Lokale Religiosität und universaler Katholizismus in der Frühen Neuzeit: Situierung im Forschungskontext15
2. Gnadenorte und Gnadenlandschaften in ihren translokalen Verflechtungen: Untersuchungsgegenstand und methodische Zugänge28
3. Heiligkeit als Aushandlungsprozess: Fragestellung und Aufbau der Studie39
I. Wie im Himmel Roms, so auf eidgenössischen Erden? Heiligenhimmel und Gnadenlandschaften46
1. Die Ordnung des Himmels: Die katholische Reform und die Hierarchie der Heiligen47
1.1 Der Himmel Roms: Die päpstliche Kurie als Stifterin und Hüterin der Himmelsordnung47
1.2 Der Himmel über der Eidgenossenschaft: Lokale Adaptationen ...61
2. Himmel auf Erden: Von einzelnen Wallfahrtsorten zu Gnadenlandschaften74
2.1 Kontinuität und Innovation: Frühchristliche und mittelalterliche Heilige in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft76
2.2 Ferne in der Nähe: » Fernwallfahrten « ins nahe Umland103
2.3 Vielselige Eidgenossen: Tod im Ruf der Heiligkeit und die Konstruktion von Heiligen122
3. Zu Gast bei Heiligen: Integration, Ausgrenzung und Überformung der Vielseligen143
3.1 Der Gast als » gran’ santo « : Bruder Klaus, Maria und San Carlo Borromeo in Sachseln145
3.2 Ein geduldeter Gast: Bruder Hans Wagner, Maria Loreto und der Heilige Felix in Hergiswald169
3.3 Der Gast als inoffizieller Kirchenpatron: Der unheilige Alleingang von Bruder Konrad Scheuber in Wolfenschießen179
3.4 Ein hochwillkommener Gast: Petrus Canisius in Freiburg187
3.5 Ein störender Gast: Translationen als Übersetzungen von Reliquien in Dinge198
II. Hand in Hand mit den Heiligen: Zum Erfahren und Vermitteln von Gnade206
1. Gnade erfahren: Interaktionen von Menschen, Heiligen und Vielseligen208
1.1 Gnade und Gnadenerfahrung: Begriffe, Typen und theologische Standpunkte208
1.2 Gnadenräume als Erfahrungsräume: Die Heiligkeit der Dinge237
1.3 Gnadenlandschaften als Erfahrungsräume: Himmlische Gnade und irdische Gelüste auf Prozessionen, Kreuzgängen und Wallfahrten262
1.4 An der Schnittstelle von kollektiven und individuellen Gnadenerfahrungen: Bruderschaften und Gnadenorte275
2. Gnade vermitteln: Kirchliche Reformkräfte als Mittler zwischen Gläubigen und Heiligen289
2.1 Heilige und heiligmäßige Ordensbrüder: Die Orden und ihr eigenes Gnadenrepertoire291
2.2 Lokale Interessen und konfessionelle Normen: Zum Umgang der Reformorden mit dem eidgenössischen Gnadenangebot325
III. Von eidgenössischen Erden in den Himmel Roms? Selig- und Heiligsprechungen358
1. Himmlische Anliegen: Die eidgenössischen Selig- und Heiligsprechungskandidaten362
1.1 Vom hoffnungsvollen Kanonisationskandidaten zum casus exceptus: Bruder Klaus von Flüe362
1.2 Ein Jesuitenkandidat auf eidgenössischen Erden: Petrus Canisius366
1.3 » Alte « Heilige als » späte « Vielselige: Idda von Toggenburg und Burkard von Beinwil368
2. Irdische Geschäfte: Akteure im Dienst der Vielseligen und Praktiken des Verhandelns374
2.1 Translokale Unternehmungen: Die Kreise der Supplikanten und Unterstützer375
2.2 Verhandlungen mit Rom in einem System der » Gelegenheitsdiplomatie «408
3. Unvollendete Heilige: Die Selig- und Heiligsprechungs-verfahren in Rom zwischen Kultapprobation und Scheitern449
3.1 Unbestätigte Heiligkeit: Die eidgenössischen Vielseligen im Urteil Roms450
3.2 Zwischen Orakelspruch und Hierarchieschutz: Römische Entscheidungspraktiken und eidgenössische Perzeptionen462
Fazit470
1. Akteure und Praktiken im Prozess des Aushandelns von Heiligkeit471
2. Die Kategorie der Vielseligen als Charakteristikum des frühneuzeitlichen Katholizismus475
Anhang480
Karten und Katalog der Gnadenorte481
Anmerkungen und Legende481
1. Luzern483
2. Uri489
3. Schwyz ( und Abtei Einsiedeln sowie Republik Gersau)491
4. Obwalden ( und Abtei Engelberg)494
5. Nidwalden497
6. Zug500
7. Solothurn502
8. Freiburg504
9. Appenzell Innerrhoden507
10. Gemeine Herrschaften509
Abkürzungen515
Abbildungsverzeichnis517
Quellen- und Literaturverzeichnis519
Quellen519
Sekundärliteratur533
Personen- und Ortsregister580

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