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E-Book

Helden

Über Massenmord und Suizid

AutorFranco 'Bifo' Berardi
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl282 Seiten
ISBN9783957573025
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Von der Columbine High School bis zum Batman-Kino-Massaker in Aurora, Amokläufe sind in den letzen Jahren zu einer grausigen Routine geworden. Hinzu treten scheinbar ideologisch oder religiös motivierte Massenmorde wie die von Anders Breivik oder islamistischer Terrorkommandos. All diese Wahnsinnstaten faszinieren und verstören und lassen uns letztlich ratlos zurück. Franco 'Bifo' Berardi nähert sich diesen Abgründen der Gegenwart mit detektivischer Akribie: Er erstellt Fallstudien, liest die Manifeste der Attentäter und analysiert die Gemeinsamkeiten im Drang zum zerstörerischen Selbstmord. Entgegen individueller Dämonisierungen gelingt es ihm, die Schreckenstaten als epidemisches Phänomen zu deuten. In ihrer Rache an der Gesellschaft treiben die Täter das gesellschaftliche Prinzip des ?Survival of the fittest? auf die Spitze: Man kann nur noch gewinnen, wenn man andere Leben zerstört. So beweisen sie sich zumindest einmal in ihrem Leben, die Geschicke der Welt zu lenken, Herr übers eigene Dasein, eben Helden zu sein.

Franco 'Bifo' Berardi, geboren 1949 in Bologna, ist Philosoph und Medientheoretiker und war in der revolutionären Autonomia-Bewegung in Italien aktiv. Er publizierte (u. a. mit Guattari) diverse Bücher zur Verschränkung von Kommunikation, Psychologie und Ökonomie.

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Leseprobe

Vier Anmerkungen in Gestalt eines Prologs


1


Im Juli 2012 beschloss ich, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte damals gerade von dem Attentat gelesen, das während der Premiere des jüngsten Batman-Films in einem Kino in Colorado verübt worden war. Von einer Mischung aus Widerwille und perverser Faszination hatte ich mich schon oft dazu verführen lassen, geradezu begierig über derartige Massenmorde zu lesen, wie sie heutzutage überall und andauernd stattzufinden scheinen – insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch erst als ich von James Holmes und dem Massaker in Aurora las, beschloss ich, über dieses Thema auch zu schreiben. Es war nicht etwa die Gewalt und Absurdität eines Landes, in dem einfach alle nach Belieben Schusswaffen erwerben können, ganz unabhängig davon, ob sie psychische Probleme haben oder nicht. Daran haben wir uns längst gewöhnt. Was mich am meisten faszinierte, war die metaphorische Dichte einer Tat, die die Trennung zwischen Spektakel und echtem Leben (oder echtem Sterben, was dasselbe ist) aufzuheben schien. James Holmes hatte vermutlich nie Guy Debord gelesen. Wir handeln oft, ohne die Texte zu unserem Handeln gelesen zu haben. Dennoch hatte Holmes’ Auftritt etwas Situationistisches. Die gesamte Geschichte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts wurde hier auf einen einzigen Punkt zusammengeführt und auf schreckliche Weise neu inszeniert. »Weg mit der Kunst, weg mit dem Alltag, weg mit der Trennung zwischen Kunst und Alltag« forderten die Dadaisten. Holmes, so wurde mir plötzlich klar, wollte die Trennlinie zwischen Betrachter und Film aufheben. Er wollte Teil des Films sein.

Und so begann ich, wie getrieben über dieses Attentat zu lesen. Mein Interesse führte mich schon bald zu noch ganz anderen Geschichten ganz anderer Männer (weißer, schwarzer, alter, junger, reicher, armer Männer, ausschließlich jedoch zu den Geschichten anderer Männer, zu keiner einzigen Geschichte nur einer einzigen Frau – wer weiß schon, warum?), die wahllos Menschen erschossen hatten, und bald darauf begann ich, noch andere Massenmorde zu recherchieren, die viel früher stattgefunden hatten. Diese Nachforschungen brachten mich zu der Erkenntnis, dass sich das Werden unserer heutigen Welt sehr viel besser begreifen lässt, wenn man sich genauer mit derlei fürchterlichen Wahnsinnstaten auseinandersetzt, anstatt sich ausschließlich mit dem sehr beherrschten Wahnsinn unserer Ökonomen und Politiker zu beschäftigen. Ich betrachtete die Qualen des Kapitalismus und den langsamen Untergang der sozialen Zivilisation und betrachtete sie vor einem sehr speziellen Hintergrund: dem des Verbrechens und des Selbstmords.

Die ganze, nackte Wirklichkeit des Kapitalismus liegt heute offen vor uns. Und sie ist schrecklich.

2

Dieses Buch handelt jedoch nicht nur von Verbrechen und Selbstmorden, sondern ganz grundsätzlich von der Errichtung eines nihilistischen Königreiches und von dem suizidalen Trieb, der gemeinsam mit einer Phänomenologie der Panik, Aggression und folglich auch Gewalt die Kultur unserer Zeit durchdrungen hat. Dies ist die Prämisse, unter der ich das Phänomen Massenmord betrachte, wobei ich mich besonders auf die »spektakulären« Implikationen und auf die suizidale Dimension dieser Mordtaten konzentrieren werde.

Dabei interessiere ich mich nicht etwa für den gewöhnlichen Serienmörder, also jenen nur heimlich sadistischen Psychopathen, der sich für das Leid anderer begeistert und der es liebt, anderen beim Sterben zuzusehen. Ich interessiere mich für Menschen, die selbst leiden und aufgrund dieses Leidens zu Verbrechern werden, weil sie allein auf diese Weise ihrem psychopathischen Verlangen nach einer Öffentlichkeit Ausdruck verleihen können, um endlich aus der Hölle ihrer Existenz herauszufinden. Ich schreibe über junge Menschen wie Seung-Hui Cho, Eric Harris, Dylan Klebold und Pekka-Eric Auvinen, die sich das Leben nahmen, nachdem sie versucht hatten, mit der Ermordung unschuldiger Menschen die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Ich schreibe auch über James Holden, der gewissermaßen symbolisch Selbstmord beging, ohne sich im eigentlichen Sinne zu töten.

Ich schreibe über »spektakulär« mörderische Selbstmorde, weil diese Killer auf ganz besonders extreme Weise eine der Hauptentwicklungsrichtungen unserer Zeit verkörpern. Ich sehe sie als Helden eines nihilistischen Zeitalters von geradezu »spektakulärer« Dummheit: des Zeitalters des Finanzkapitalismus.

3

In ihrem Buch The Wretched of the Screen erinnert sich Hito Steyerl an die Veröffentlichung von David Bowies Single Heroes im Jahr 1977:

Pünktlich zum Beginn der neoliberalen Revolution und der digitalen Transformation der gesamten Welt singt Bowie von einer neuen Art Heros. Der Held ist tot – lang lebe der Held! Doch Bowies Held ist kein Subjekt mehr, sondern ein Objekt: ein Ding, ein Bild, ein prächtiger Fetisch – eine Massenware, getränkt von Begehren und aus dem Jenseits der Qualen seines eigenen Niedergangs auferstanden. Man muss sich nur das Video zu dem Lied aus dem Jahr 1977 anschauen, um zu verstehen: Im Clip sehen wir den vor sich hin singenden Bowie aus drei verschiedenen Perspektiven, während verschiedene Schichttechniken sein Bild verdreifachen. Bowies Held ist geklont worden und hat sich in ein Bild verwandelt, das beliebig reproduziert, multipliziert und kopiert werden kann so wie das Gitarrenriff des Songs, das sich mühelos durch Werbeclips für alles Mögliche zieht. Ein Fetisch, der Bowies glamourösen und durch nichts zu beeindruckenden Post-Gender-Look als Produkt verpackt. Bowies Held ist kein legendenhafter Mensch mehr, der exemplarische und begeisternde Großtaten vollbringt. Er ist nicht einmal mehr eine Ikone, sondern ein leuchtendes Produkt von posthumaner Schönheit: ein Bild und nichts als ein Bild. Die Unsterblichkeit dieses Helden geht nicht mehr auf die Stärke zurück, noch jede nur vorstellbare Tortur durchgestanden zu haben, sondern auf seine Fähigkeit, fotokopiert, recycelt und wiedergeboren zu werden. Die Form und Erscheinung dieser Unsterblichkeit mag verändert und gar zerstört werden, doch ihre Substanz wird ewig unberührt bleiben. Die Unsterblichkeit des Dings liegt in seiner Endlichkeit, nicht in seiner Ewigkeit.[1]

Kurz vor dieser Stelle schreibt Steyerl:

1977 liefert die Punkband The Stranglers eine eindeutige Analyse der Lage, als sie das Offensichtliche formuliert: Heldentum is over. Trotzki, Lenin und Shakespeare sind tot. In diesem Jahr 1977, in dem die Linke zum Begräbnis der RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe strömt, legt das Cover eines The Stranglers-Albums seinen eigenen riesigen Kranz aus roten Nelken nieder und verkündet: KEINE HELDEN MEHR. Nie wieder.[2]

In der klassischen Tradition gehörte der Held in das Reich der Epik, nicht in das der Tragödie oder Lyrik. Der Held war jemand, der sich die Natur zu Diensten machte und mit reiner Willenskraft und größtem Mut über die historischen Ereignisse herrschte. Er gründete Städte und schlug die dämonischen Mächte des Chaos zurück. Dieses Bild findet sich noch in der Renaissance, und so lässt sich auch Machiavellis Prinz als der Held des modernen politischen Narrativs lesen: als der Mensch, der den Nationalstaat errichtet, die industrielle Infrastruktur schafft und einer gemeinschaftlichen Identität Form verleiht.

Diese epische Gestalt des Heldentums verschwand gegen Ende der Moderne, als die Komplexität und das Tempo der menschlichen Entwicklungsgeschichte die reine Willenskraft überforderten. Als das Chaos überwog, wurde das epische Heldentum durch riesige Simulationsmaschinen ersetzt. Der Raum des epischen Diskurses wurde von Semio-Konzernen in Beschlag genommen und von Apparaten, die der Ausstrahlung weit verbreiteter Illusionen dienten. Diese Simulationsspiele nahmen häufig die Form kultureller Identitäten an, beispielsweise in populären Subkulturen wie Rock, Punk, der Netzkultur und so weiter. Hier nimmt die spätmoderne Form der Tragödie ihren Ursprung: nämlich an der Schwelle, an der wir die Illusion mit der Realität verwechseln und die Identität für eine wirklich authentische Form der Zugehörigkeit halten. Dieses Missverständnis wird oft von einem eklatanten Mangel an Ironie begleitet, insbesondere wenn der Mensch auf die ununterbrochene Deterritorialisierung unserer Zeit reagiert, indem er sein enormes Verlangen nach einer wirklichen Zugehörigkeit durch Morde, Selbstmorde, Fanatismus, verschiedenste Aggressionen und Kriege auslebt.

Ich glaube, dass der simulierte Held der Subkultur allein durch Ironie und ein bewusstes Verständnis dieser Simulation im Herzen des heroischen Spiels noch einmal eine Chance erhält, sich selbst zu retten.

4

Im Jahr 1977 gelangte die Geschichte der Menschheit an einen Wendepunkt. Die Helden starben oder, besser gesagt: Sie verschwanden. Dabei wurden sie nicht etwa von den Feinden des Heldentums getötet, sondern erreichten eine ganz andere Dimension: Sie lösten sich auf, verwandelten sich in Geister. Nachdem die Menschheit von Pseudohelden aus einer trügerischen elektromagnetischen Substanz getäuscht worden war, verlor sie nun ihren Glauben an die Wirklichkeit und an die Freuden des Lebens und glaubte von nun an nur noch an die unendliche Proliferation der Bilder. 1977 war das Jahr, in dem die Helden zu verblassen begannen und schließlich aus der Welt des physischen Lebens und der historischen Leidenschaften in die Welt der visuellen Simulation und sinnlichen Stimulation weiterzogen. Dieses Jahr 1977 markierte einen dramatischen...

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