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E-Book

Himmel und Erde

Unordentliche Erinnerungen

AutorMario Adorf
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783462309669
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Aus der Eifel in die weite Welt - Mario Adorfs Erinnerungen sind ein Kaleidoskop voller Abenteuer und Überraschungen für die Leser.Ein herrliches Erinnerungsbuch des großen Schauspielers Mario Adorf. Eine Autobiographie der anderen Art - von den Komödien und Tragödien der Kindheitstage im Eifelort Mayen bis zu dem, was immer nur hinter den Kulissen passiert: die wahren Überraschungen, Pointen und Wunder eines Lebens. Mario Adorf, Deutschlands beliebtester Schauspieler, ist seit vielen Jahren auch ein erfolgreicher und viel gelesener Schriftsteller. Aber lange hat Mario Adorf aus guten Gründen gezögert, ein autobiographisches Buch zu schreiben. Die Zeit des Wartens ist nun vorbei. Himmel und Erde ist ein überraschendes, erstaunliches Buch der Erinnerungen an ein unvergleichliches Leben zwischen den Tagen der Kindheit in einem kleinen Eifelstädtchen und der großen Welt des internationalen Films. Geschichten auf Geschichten rollen vor dem Leser ab, in denen sich das Nebensächliche und Zufällige oft als wichtiger entpuppt als die Darstellung »offizieller« Lebensabschnitte und Karrierehöhepunkte. Und als unterhaltsamer sowieso. Das uneheliche Kind zwischen katholischen Nonnen und der Hitlerjugend, illegales Schweineschlachten in den Kriegsnächten, und: Was tun, wenn man 1944 als deutscher Junge im Wald plötzlich zwei amerikanischen Bomberpiloten gegenübersteht? Später geht es um die ganze Welt, von Hollywood und Mexiko nach Moskau und Sibirien, und der Leser kann nur staunen - über kuriose Stunt-Katastrophen, über Partys mit russischen Kosmonauten, über bissige Eisbären am Set und warum eine wichtige Szene in der endgültigen Fassung der Blechtrommel fehlt. Mit von der Partie: Brigitte Bardot und Sean Connery, Horst Buchholz und Billy Wilder, Caterina Valente, Michelangelo Antonioni und Sir Alec Guinness.

Mario Adorf, geboren am 8.9.1930 in Zürich, aufgewachsen in Mayen/Eifel, lebt heute in Paris und München. Seit über 60 Jahren trat er in ungezählten Bühnenrollen und deutschen sowie internationalen Filmproduktionen auf. Darüber hinaus ist er Entertainer und Sänger. Seit 1992 veröffentlichte er zahlreiche Bücher bei Kiepenheuer & Witsch, u.a. Der Mäusetöter, Der Dieb von Trastevere, Der römische Schneeball, Der Fotograf von San Marco und zuletzt Himmel und Erde - Unordentliche Erinnerungen.

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Leseprobe

Zwischen Orgel und Fanfaren


Das Spitälchen · Maria zu lieben · Der Fluch · Silberpfeile · Arme Menschen · Das magische Auge · Zwischen Orgel und Fanfaren

Ich habe kaum Erinnerungen an die ersten Jahre im Marienhaus, von den Mayenern »Spitälchen« genannt, das Waisenhaus der Stadt, in das meine Mutter mich, als ich drei Jahre alt war, geben musste. In jenem Jahr 1933, das die Machtergreifung durch Hitler brachte, hatte sie sicher keine Zeit, sich um Politik zu kümmern. Bis dahin hatte sie mich mitgenommen, wenn sie zum Nähen in die Wohnungen ihrer Kundinnen ging. Ich war offenbar kein besonders ruhiges Kind, und man gab meiner Mutter zu verstehen, dass man sie gerne zum Kleidernähen in die Wohnung ließ, dass sie aber nur allein und nicht mit ihrem Kleinen willkommen sei.

Das Marienhaus war ein großer, düsterer, fast schwarzer Basaltbau mit einem gotischen Treppengiebel, zwischen Stehbachstraße und Glacis gelegen. Die Ringstraße nannte man aus alter Franzosenzeit noch immer Glacis. In früherer Zeit war das Spitälchen wohl, wie der Name sagt, ein Spital, aber nach dem Bau des Krankenhauses in der Siegfriedstraße wurde es das städtische Waisenhaus. Ein Stockwerk diente auch als Altersheim. Auf dem Grundstück, das mir als Kind riesengroß erschien, hatten außer dem Hauptgebäude eine Kirche, ein Wasch- und Bügelhaus und ein Leichenhäuschen ihren Platz. Der große Hof zum Glacis hin diente als Spielplatz, der mit seinem spitzen Splitkies für immer wieder aufgeschürfte Knie sorgte. In einer Ecke war ein Sandkasten für die Kleinsten. Davor eine Schaukel und ein Reck. Das ganze Grundstück umschloss eine hohe Mauer, wegen der spitzen Glasscherben, die oben einzementiert waren, ein abschreckendes Hindernis für jeden, der sich als Ausreißer hätte versuchen wollen. Meine erste Erinnerung ist recht genau: Ich stehe im Treppenhaus und kann kaum über die Fensterbank schauen. Dazu stütze ich die Fußspitzen auf eine der Fliesen, die über den Stufen der Treppen entlanglaufen. Ich sehe über die Hofmauer bis zur Möhrenstraße hinauf. Die rote Fahne mit dem weißen Kreis und dem schwarzen Hakenkreuz, die aus dem von hier unsichtbaren »Braunen Haus« über die Straße ragt, ist weniger als sonst zu sehen, und man erklärt mir, dass sie auf Halbmast gesetzt ist. Als ich frage warum, erfahre ich: »Der Hindenburg ist gestorben.« Wusste ich, dass dies der alte Mann mit dem weißen Stiftenkopf und dem gezwirbelten Schnurrbart war, oder hat sich dieses Bild erst später der Erinnerung der lakonischen Todesnachricht hinzugesellt, so wie ich diesem Ereignis sicher erst später ein Datum geben konnte: den 22. August 1934.

Ich erinnere mich nur an wenige der etwa fünfzehn Jungen im Waisenhaus, von denen die meisten älter als ich waren. Da war der starke, sportliche Karl, vor allem Herbert, der Anführer der kleinen Bande, die er um sich scharte und zu der ich als Kleinster gehören durfte. Er führte uns heimlich ins Leichenhäuschen, als Mutprobe, wenn wieder einmal jemand dort aufgebahrt lag. Ich würde heute noch den stickigen, süßlichen Geruch der Totenkammer wieder erkennen. Herbert schlug das Leichentuch zurück, und wir sahen schaudernd eine Greisin aus dem Altersheim, die wir noch wenige Tage vorher über den Hof hatten humpeln sehen. Ihr spitzes Gesicht war gelblich, und um ihre dürren, gefalteten Hände war ein Rosenkranz geschlungen. Herbert nahm das Gefäß mit dem Weihwasser, tauchte den Wedel hinein, sprengte es kreuzweise über die Leiche, gluckste dabei: »Dominus, wo bist du?«, und gab sich selbst die Antwort: »Et cum schpiritus tuo«, platzte vor Lachen und gab den Sprengel an den Nächsten weiter, und wir alle mussten es ihm nachtun.

Da war noch Josef, ein dreijähriger wunderschöner Junge mit großen meerblauen Augen, der aber offenbar zurückgeblieben war, nicht gehen und sprechen konnte, den man »ohs Jüppche« nannte und den alle abgöttisch liebten, vor allem die Mädchen, die ihn streichelten und küssten und sich darum rissen, ihn herumtragen und verwöhnen zu dürfen. Er starb sehr bald. Zielscheibe unseres Spotts allerdings war der taubstumme Steff, eine Art Faktotum des Spitälchens. Wenn wir ihn wieder einmal geärgert hatten, schüttelte er den Zeigfinger hoch über dem kahlen Kopf und quälte kaum verständlich die Worte aus seiner Kehle: »Gott straft! Gott straft!« Das sorgte dann für Gewissensbisse, und wir verschonten ihn einige Tage lang mit unseren grausamen Streichen.

*

An Sonntagen begleitete mich Schwester Arimathäa – das Waisenhaus wurde von Benediktinerinnen geführt – über das Glacis zu dem schwarzen Eckhaus der Möhrenstraße 1, wo meine Mutter eine Dachkammer gefunden hatte und wo sie mich wenigstens nachts in ihrer Nähe wusste. Ich sprang hinauf in den dritten Stock, wo sie noch schlief. Ich klopfte an die Tür, hörte, wie sie aufstand, die Tür öffnete und gleich wieder zurück ins Bett huschte. Es war die einzige Zeit, in der sie es zuließ, mit mir herumzutollen und zu »schmusen«, sie, die später alle Bezeugungen von Zärtlichkeit mied. Immer gab es ein kleines Geschenk – mal eine Tafel Schokolade, mal ein Zeichenblock mit Farbstiften oder eine Wollmütze –, das sie versteckt hatte und das ich suchen musste: »Kalt – kälter – Nordpol – warm – wärmer – heiß«. Einmal hatte sie für mich eine weiße Seidenbluse mit Rüschen oder ein andermal gar einen schwarzen Samtanzug gemacht. Oder es gab schwarze Lackschuhe, die drückten und die mit einem Riemchen über den Rist nur mit Mühe zu schließen waren.

Ich stand brav abgewendet, wenn sie sich anzog. Sie machte sich fein, wie sie sagte, für unseren gemeinsamen Spaziergang in die Stadt. Sie hielt mich an der Hand, und wir gingen die Ringstraße hinunter, durch das Brückentor, weiter in die Marktstraße. Sie kaufte mir ein Eis oder ging mit mir ins Café Schütz, wo es Kakao und Kuchen gab. Was ich damals nicht wusste, war, dass diese Spaziergänge für sie etwas Demonstratives hatten. Sie wollte den Mayenern stolz ihren kleinen Sohn, den manche hinter vorgehaltener Hand den »Bankert vom Alice« nannten, vorführen und ihnen zeigen, wie fein er angezogen war, mit welchem Anstand er seinen Kuchen essen konnte.

8. 9. 1933 – Dritter Geburtstag. Fotos, aber dazwischen Tränen: Was keiner wusste: Die Lackschuhe drückten. (Rechtenachweis Nr. 1)

Das Leben im Spitälchen ging fast ohne Erinnerungen dahin bis zur Einschulung in die Clemens-Knabenschule weiter unten auf der Ringstraße. Ich sah mit großen Augen und etwas neidisch die bunten, spitzen Tüten meiner zukünftigen Mitschüler. Deren Eltern hatten ihren Sprösslingen ein kleines Schild vor die Füße gestellt, auf dem in Sütterlinschrift »Mein erster Schultag« stand, und mit altmodischen Apparaten Fotos gemacht, aber ich tröstete mich damit, dass meine Mutter mir den schönsten Schulranzen aus rotbraunem Leder gekauft hatte, den ich, später als Tasche umgearbeitet, bis zum Abitur benützt habe.

Meine Mutter hatte für mich eine weiße Seidenbluse mit Rüschen gemacht. (Rechtenachweis Nr. 2)

Der Tag im Spitälchen begann für mich seit jenen ersten Schultagen sehr früh. Um sechs Uhr morgens führte uns eine Nonne zur Frühmesse in die Kirche, die Mädchen auf die rechte, die Jungen auf die linke Seite, wo wir uns in die harten Holzbänke drückten. Die Nonnen mit ihren gestärkten Flügelhauben und den schwarzen Ordenskleidern saßen schon seit fünf Uhr früh in den hinteren Bänken und beteten ihre Rosenkranzlitaneien herunter.

Ich war noch schlaftrunken, bis die Orgel einsetzte und die Kirchenlieder begleitete, die ich bald auswendig konnte und die ich heute noch weiß. Ich sang kräftig mit. »Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn«, »Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf! …« Aber auch die lateinische Liturgie – damals wurden die Messen noch auf Lateinisch gehalten – konnte ich bald auswendig. Das fiel auf. Eigentlich musste man, um Messdiener zu werden, zur ersten Kommunion gegangen, also mindestens zehn Jahre alt sein. Ich war nicht einmal acht, als ich zum ersten Mal mit Herbert zusammen ministrieren durfte. Nur das schwere Messbuch, das auf einem Holzpult mehrere Male während der Messe von einer zur anderen Altarseite getragen werden musste, war noch zu groß und schwer für mich. Beim ersten Gang zur anderen Seite hatte ich mir, als ich vor der Altarmitte das Knie beugen musste, in den Saum des viel zu langen roten Ministrantenkittels getreten, so dass Messbuch samt Pult zu Boden polterte und ich hinterdrein. Die Nonnen schreckten hörbar auf wie ein Schwarm von Kirchturmdohlen, und Herbert, der auf der anderen Altarseite ministrierte, grinste schadenfroh.

Der Priester, der die Messe hielt, war Pater Oster. Er war ein großer, schwerer Mann mit hochrotem Gesicht und der blauroten Knollennase des Trinkers. Er kontrollierte vor dem Gottesdienst in der Sakristei, ob die gar nicht so kleine Karaffe mit dem Messwein auch randvoll gefüllt war. Beim Abbeten der Liturgie lallte er manchmal bedenklich, dann ließ ihn gewöhnlich bald sein Gedächtnis im Stich, und ich war stolz, ihm den fehlenden Text soufflieren zu können. Zum Lohn gab er mir nachher in der Sakristei einige der Pfefferminz- oder Eukalyptusbonbons, die er immer lutschte; wahrscheinlich, um seine Alkoholfahne zu verdecken.

Am meisten liebte ich die Hochämter, bei denen ganze Teile der Liturgie gesungen wurden, und das feierliche »Te Deum«, zu dem wir Messdiener unter dem Dröhnen der Orgelbässe...

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