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E-Book

Hitlers Charisma

Die Erfindung eines deutschen Messias

AutorLudolf Herbst
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783104007052
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Hitlers Charisma - wie die NS-Propaganda den deutschen Messias schuf Hitler war nicht von Anfang an der, an den man sich heute erinnert. Der bekannte Historiker Ludolf Herbst zeigt vielmehr, dass die manipulativen Möglichkeiten moderner Propaganda, die die NSDAP wie keine andere Partei beherrschte, bis heute unterschätzt werden. Der »Führer« wurde Schritt für Schritt von der NS-Propaganda zum Messias stilisiert und damit mehr und mehr zur Ikone öffentlicher Verehrung. Die noch immer verbreitete Vorstellung vom »charismatischen Führer« verweist Herbst in das Reich der Legenden.

Ludolf Herbst, geboren 1943, studierte Geschichte, Germanistik und Politische Wissenschaften; Promotion (1973) und Habilitation (1982). Von 1983 bis 1991 war er am Institut für Zeitgeschichte in München als Stellvertretender (zuletzt als kommissarischer) Direktor tätig, anschließend lehrte er bis 2008 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist einer der besten Kenner des Dritten Reiches; seine Darstellung »Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945« (1995) gilt als Standardwerk. Weitere Veröffentlichungen (u.a.): »Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945« (1982); »Die Commerzbank und die Juden 1933-1945« (zus. mit Thomas Weiher 2004). Umschlaggestaltung: Hißmann, Heilmann, Hamburg / Imke Schuppenhauer Umschlagabbildung: Propaganda-Plakat aus den 1930er Jahren © akg-images

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Leseprobe

Bisherige Versuche einer Analyse des Nationalsozialismus
mit Hilfe der Weberschen
Herrschaftssoziologie


Die Fälle, in denen der Charisma-Begriff in historischen Darstellungen über den Nationalsozialismus, das nationalsozialistische Herrschaftssystem und dessen zentrale Figur, Adolf Hitler, verwendet worden sind, sind Legion. Die Fälle, in denen sich Historiker zu diesem Zweck ernsthaft mit Max Webers Herrschaftssoziologie auseinandergesetzt haben, sind dagegen selten und zu gering an Zahl, um einen Forschungsbericht {26}zu rechtfertigen. Es wird daher ein Mittelweg beschritten: Es werden neben denjenigen Fällen, in denen explizit und in ernstzunehmender Weise auf Weber Bezug genommen wird, auch solche berücksichtigt, in denen dies nicht der Fall ist, sofern diesen Arbeiten Bedeutung für den Forschungsprozeß zukommt und sie den Begriffen Max Webers sinnvoll zugeordnet werden können.

Die erste Studie, die diese Kriterien erfüllt, ist Hermann Rauschnings »Revolution des Nihilismus«. [31]Rauschning war ein nationalsozialistischer Dissident. 1931 der NSDAP beigetreten, hatte er 1933 als Spitzenkandidat der NSDAP in Danzig die Wahlen gewonnen und war seit dem 20.Juni 1933 Senatspräsident in Danzig. 1934 geriet er in Konflikt mit dem Gauleiter von Danzig, Albert Forster. Da Hitler nicht für ihn Partei ergriff, trat er Ende 1934 zurück. Er emigrierte in die Schweiz, wo er als freier Schriftsteller arbeitete, und emigrierte 1948 in die USA. Rauschning schrieb als Zeitgenosse auf der Basis seiner eigenen Lebenserfahrung und Kenntnis des Nationalsozialismus. Offenbar kannte er auch Hitler, mit dem er wenigstens einmal vertraulich gesprochen hatte. 1939 verfaßte er auf dieser Basis eine zweite Schrift »Gespräche mit Hitler«, deren Verlauf und Inhalt weitgehend frei erfunden waren. [32]Das Buch wurde ebenso wie die »Revolution des Nihilismus« ein Bestseller. Rauschning hatte mit der »Revolution des Nihilismus« nicht die Absicht, eine historische Analyse zu verfassen: »Mein Ziel ist ein solches praktischer Politik«, schrieb er, »eine Bedingung zur Überwindung dieser Revolution und ihrer despotischen Diktatur aufzuweisen.« [33]

Rauschning ist der »Vater« der funktionalistischen Betrachtungsweise des Nationalsozialismus. Der NS-Weltanschauung maß er nur manipulative Bedeutung zu. Im Kern des NS-Systems sah er puren Machtwillen am Werk. Er skizzierte eine Herrschaftsstruktur, in der catilinarische nationalsozialistische Eliten Macht um der Macht willen akkumulieren und {27}alles zerstören, was ihr entgegensteht, weil ihnen nichts heilig ist: »Ziel des Nationalsozialismus ist die totale Revolutionierung aller Ordnungselemente und die totale Beherrschung durch ihre eigene Elite.« [34]Jenseits der Akkumulation von Macht vermochte Rauschning keine Zielsetzung zu erkennen, die der NSDAP wirklich wichtig gewesen wäre: »Diese Bewegung ist in ihren eigentlich treibenden und leitenden Kreisen völlig voraussetzungslos, programmlos, aktionsbereit, in ihren besten Kerntruppen instinktiv, in ihrer leitenden Elite höchst überlegt, kalt und raffiniert. Es gab und gibt kein Ziel, das nicht der Nationalsozialismus um der Bewegung willen jederzeit preiszugeben oder aufzustellen bereit wäre.« [35]

Um die Massen über ihre wahren Absichten hinwegzutäuschen, so meinte Rauschning, hätten die Nationalsozialisten unter Rückgriff auf die völkische Ideologie die Kulisse einer inszenierten charismatischen Herrschaft aufgebaut: »Das Völkische ist Kulisse, Wirklichkeit aber ist die radikale Revolution.« [36]Die Zeitgenossen, so meinte Rauschning, ließen sich hinreißen, »von der Brutalität im Gewand der religiösen Ekstase, von der nationalen und sozialen Rührung in Verbindung mit einem besonderen Haß. Es ist die ›Magie des Extrems‹, die hier wirksam ist.« [37]Die Kulisse der manipulativen charismatischen Herrschaft sah Rauschning im übrigen in jenen Formen veralltäglichten Charismas, die lange Zeit in der Forschung als Ausdruck totalitärer Herrschaft analysiert worden sind und heute unter dem Stichwort der politischen Religion sowie unter kulturgeschichtlichen Fragestellungen neues Interesse gefunden haben [38], nämlich in Festen, Feiern, Riten, Umzügen, Fahnen, Treueeiden usw. Er erblickte in ihnen Formen der »Bezauberung durch Macht« [39], sah ihre Funktion in »der Bezauberung der Masse«. [40]

Die Empfänglichkeit der Masse für diese Form der Kulisse schrieb Rauschning dem allgemeinen Verlust an Orientierung, an geltenden Normen und Werten zu, die Ortega y {28}Gasset mit dem »Aufstand der Massen« thematisiert hatte. [41]Dahinein mischt sich bei Rauschning eine gehörige Portion von Kulturpessimismus, welcher in der Wendung gegen die Nationalsozialisten geradezu rassistische Züge annimmt: »Wieder bemerkt man die Züge, die schon im auslaufenden Hellenentum auffielen, die Verhäßlichung der Gestalten, der Antlitze; nirgends Adel, weder des Blutes noch des Geistes oder der Seele, noch irgendeines inneren Kampfes, einer echten Ruhe, nur flackernde und wieder blind werdende Augen, brutale Mienen, linkische Gebärden, schwammige oder verzerrte Züge, Grimassen, aber kein Ausdruck. Es ist der Typ des Aushilfskellners im Vorstadtgartencafé, der die magische Führung behauptet. In ihm stellt sich nicht bloß die ›Wut einer Partei‹ dar, sondern der Neid und die Machtgier des Kleinbürgers.« [42]

In diesem Kontext nimmt Rauschning Bezug auf Webers Charisma-Begriff. Nur vor dem Hintergrund des Normenverlustes und der Entwicklung eines »nihilistischen Milieus«, nur weil »ältere Motive der Erhebung und Bindung« verdrängt sind, fände eine Messias-Gestalt wie Hitler Gläubige bzw. Anhänger. Rauschning formuliert die seitdem für jede Hitler-Biographie entscheidende Frage [43], »wie eine so gewaltige dynamische Kraft aus geringen und verächtlichen Ursprüngen erwachsen konnte«. [44]Rauschning sucht keine bequeme Antwort: Er sagt nicht, daß das Charisma Hitlers lediglich raffiniert aufgebaute Kulisse ist, aber es sei zu Teilen gemacht, zu Teilen Kulisse.

Möglich wird der Aufbau einer solchen Kulisse, weil die Möglichkeiten der Medien sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gesteigert haben: »Es ist das Merkmal dieser Zeit, daß riesenhafte äußere Leistungen und Unternehmungen ohne jedes Fundament möglich sind. Die technischen und organisatorischen Hilfsmittel erlauben heute, für einige Zeit jeder Phantasmagorie den Schein der {29}Echtheit zu geben. Und die Suggestivmittel erlauben vorübergehend, jeder Massenstimmung den Stempel des elementaren Ausbruches zu leihen.« [45]Neben der durch die modernen Medien und den Propagandaapparat gemachten, aufgebauten Figur des Charismaträgers sieht Rauschning – ganz in Übereinstimmung mit Webers Kategorien – in Hitler den charismatischen Redner und Demagogen: »Dieses Charisma des Massenführers, des großen Demagogen und Revolutionärs, ist eine Realität, die man nicht wegleugnen sollte, auch wenn man persönlich von ihm nicht berührt ist. So vieles an dem Nimbus des revolutionären Führers gemacht erscheint und auch ist, die Wurzel der entscheidenden Wirksamkeit liegt genau wie bei dem revolutionären Drang des Dynamismus selbst in etwas Irrationalem, in der mediumistischen Begabung des Revolutionärs. Hitler ist Revolutionär und mediumistisch fesselnder und selbst gebundener Massenführer.« [46]

Entscheidende Bedeutung für Hitlers Charisma mißt Rauschning – auch hierin folgt er Weber – der Herstellung einer sozialen Beziehung zwischen Führer und Gefolgschaft bei. Dabei unterscheidet Rauschning zwischen einem engeren und einem weiteren »Gefolgschaftsbegriff«. Im Zentrum des engeren Gefolgschaftsbegriffs steht der Begriff der »Elite«, im Zentrum des weiteren Gefolgschaftsbegriffs steht der der »Masse«. Verbunden sind beide Begriffe durch den Begriff der »direkten Aktion« und den der »Gewalt«. In der Beziehung zwischen dem Führer und den Massen wird die direkte Aktion gewissermaßen gespielt, aufgeführt. Die Masse wird organisiert und mobilisiert, in der Organisation atomisiert und durch den Mythos der Führerbindung motiviert und mobilisiert. Ziel dieser Mobilisierung ist die kollektive Gewalt, der Krieg. [47]Anders formuliert: Ganz wesentlich durch die Führer-Gefolgschaftsbeziehung vollzieht sich die »Entpolitisierung der Masse«. Erreicht wird dies durch ihre »scheinbare Aktivierung«, die den Zweck hat, »ihr in Wirklichkeit jede {30}Aktivität zu nehmen« und sie zum willfährigen Werkzeug des Führers und seiner Clique zu machen. [48]

Neben »die Atomisierung der gegliederten Nation in die in Massenkollektiven zusammengehaltene Masse« tritt der Prozeß der »Ausgliederung einer besonderen Elite«, die Rauschning im Sinne Paretos als die »arrivierende Schicht« begreift. Diese Elite »stellt die eigentliche ›Gefolgschaft‹ des Führers dar«. Gemeint ist mit dieser Elite die neue, nationalsozialistische Führungsschicht, »die eigentliche Trägerin des revolutionären Prozesses«, die den »Beherrschungsapparat« handhabt. Rauschning beschreibt diese Elite als eine gewaltbereite Clique von »Desperados«, die »nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen...

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