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Kapitalismus, Märkte und Moral

AutorUte Frevert
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783701746064
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ausgehend von den gegenwärtigen Forderungen nach einer 'moralischen Ökonomie', beleuchtet Ute Frevert das schwierige Verhältnis von Kapitalismus und Moral und die Frage, ob grundsätzlich und unterschiedslos alle Waren und Beziehungen dem kapitalistischen Marktmodell eingepreist werden sollten. Diese ist in der gegenwärtigen Debatte um gemeine Güter wie Wasser oder Dienstleistungen, wie Sterbehilfe oder Prostitution aktueller denn je. Spannend ist auch Freverts Darstellung der Erwartungen an Fairness, Gerechtigkeit, Solidarität all jener, die als Produzenten oder Konsumenten an den heutigen globalisierten Märkten teilnehmen. Welche Konsequenzen haben diese Erwartungen? Können sie die Märkte verändern? Und wie haben sich Moral und ökonomische Praxis in der Moderne entwickelt?

Ute Frevert, geboren 1954, zählt zu den prominentesten deutschen Historikern. Sie lehrte Neuere Geschichte in Berlin, Konstanz und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der Yale University, seit 2008 leitet sie den Forschungsbereich 'Geschichte der Gefühle' am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie wurde 1998 von der DFG mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet und erhielt 2016 das deutsche Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Zuletzt erschienen: 'Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht' (2017), zuletzt bei Residenz 'Märkte und Moral' (2019).

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Leseprobe

II Die moralische Ökonomie der Armut


Armut war, anders als Engels behauptete, kein Kind der industriellen Revolution. Auch vorindustrielle Gesellschaften kannten sie. Lebensmittelknappheit trat nicht zuletzt in den periodischen Hungerkrisen auf, die auf Missernten oder Kriege folgten. Das Bild der armen Leute, die sich in den patriarchalischen Verhältnissen des 17. und 18. Jahrhunderts gemütlich eingerichtet hätten, war ebenso schief wie die Vorstellung, es habe damals eine rundweg harmonische Beziehung zwischen Arm und Reich gegeben.

Was es hingegen gab, war eine »moralische Ökonomie«, die den wohlhabenden Schichten und der Obrigkeit bestimmte Verbindlichkeiten auferlegte. Auf deren Balance und Gerechtigkeit wurde sorgsam geachtet; Verletzungen traditioneller Ansprüche und Erwartungsenttäuschungen riefen regelmäßig Unruhen und Aufstände hervor. Kamen Obrigkeit und Wohlhabende ihren angestammten Pflichten gegenüber vermögenslosen Bevölkerungsgruppen nicht nach, reagierten diese mit Empörung und forderten lautstark, die alten Verhältnisse wiederherzustellen.1

Dazu gehörten eine gesicherte und kontrollierte Lebensmittelbewirtschaftung ebenso wie die materielle Versorgung mittelloser Personen. Dass Menschen, die es sich leisten konnten, Almosen an weniger Begüterte verteilten und sie in Notlagen unterstützten, war ein moralisches Gebot, das alle Religionen aufstellten. Dabei ging es keineswegs nur um Nächstenliebe oder Altruismus. Wer Almosen gab, hatte selber auch etwas davon: Er investierte in sein Seelenheil, und er erfreute sich hoher sozialer Anerkennung und Achtung. Großzügigkeit zahlte sich in sozialem und moralischem Kapital aus, zu dem auch die Unterstützten beitrugen: Sie schlossen den Almosengeber und seine Angehörigen in ihre Gebete ein, erwiesen ihnen Respekt, Dankbarkeit und Anhänglichkeit.

Von Reziprozität zu Prävention und Kontrolle


Allerdings war diese moralische Ökonomie nicht in Stein gemeißelt. Ihre Fundamente begannen bereits in der Frühen Neuzeit zu bröckeln. Seit dem späten 18. Jahrhundert erließen Städte und Staaten in rascher Folge Polizeiordnungen und Gesetze, die dem Betteln Einhalt gebieten sollten. Dahinter stand zum einen das Bedürfnis, Armut zu kontrollieren und einzudämmen. Zum anderen wollte man eine Werthaltung durchsetzen, die Arbeit zur individuellen Pflicht erhob und diejenigen, die sich ihr entzogen, bestrafte. Eine gute, dem gemeinen Wohl dienende Verwaltung musste ihrerseits alles tun, um Verarmung vorzubeugen. Arbeitsfähige sollten zur Arbeit angehalten, Unfähige versorgt werden. So hieß es 1794 im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten: »Diejenigen, die nur aus Trägheit, Liebe zum Müßiggange, oder andern unordentlichen Neigungen, die Mittel, sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen, nicht anwenden wollen, sollen durch Zwang und Strafen zu nützlichen Arbeiten unter gehöriger Aufsicht angehalten werden.« Stiftungen, »welche auf die Beförderung und Begünstigung solcher schädlichen Neigungen abzielen«, konnte der Staat aufheben.

Julius Ehrentraut, Barmherzigkeit, um 1880

Solche frommen, religiös-kirchlich gebundenen Stiftungen gab es allenthalben. Der weltlichen Obrigkeit waren sie ein Dorn im Auge, denn aus ihrer Sicht galt es, möglichst viele Untertanen erwerbsfähig zu machen. Gerade aus der sozialen Mittelschicht, dem städtischen Bürgertum, erhielt sie dafür Applaus. Die zahlreichen gemeinnützigen Vereine und Patriotischen Gesellschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts sangen das gleiche Lied: Armutsprävention durch individuelle Vorsorge, Bildung und Selbsthilfe. »Ersparungs-Anstalten«, wie sie nicht nur in Hamburg gegründet wurden, sollten es der ärmeren Bevölkerung ermöglichen, in Notzeiten, bei Krankheit und im Alter aus eigener Kraft über die Runden zu kommen, ohne auf Almosen angewiesen zu sein. Die Aussicht, sich durch fleißiges Sparen einen unabhängigen Lebensabend zu sichern, gebe den »redlichen Arbeitern« darüber hinaus ein höheres Maß an »Würde und Selbständigkeit«. Das wiederum wirke sich positiv auf die »Moralität« aus.2

Auch manche Kirchenmänner rückten von dem älteren Almosen- und Versorgungsmodell ab. In den Hungerzeitschriften der 1770er Jahre riefen sie zwar dazu auf, mitleidig zu sein und Geld für die unterernährten Kinder und Erwachsenen zu spenden. Ausgegeben wurde das Geld jedoch nicht primär für Nahrungsmittel, sondern für längerfristige Projekte wie Armenschulen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Es ging also weniger um akute Interventionen in einer Notsituation als um nachhaltige, zukunftsweisende Prävention. Bildung, der Erwerb nützlicher Kenntnisse, galt als Königsweg aus der Armutsfalle. Hier spiegelte sich der aufklärerische Impuls der Zeit. Getragen war er von Bürgern, die anstelle des Staates oder der Kirche aktiv wurden und die traditionelle Nahbeziehung zwischen Spendengeber und Spendennehmer beendeten. Weder kannten die Spender die Empfänger noch die Empfänger die Spender. Die Beziehung wurde anonymisiert und versachlicht. Nur auf besonderen Wunsch konnten Spender mit den unterstützten Personen in Kontakt treten.3

Das war fortschrittlich gedacht und wies den bürgerlichen Reformen des 19. Jahrhunderts den Weg. Spätestens unter den Herausforderungen des Pauperismus, der Massenarmut der 1820er und 1830er Jahre, gerieten die alten Sozialformen unter Druck. Das ließ sich nur bedingt durch die Ausbreitung der industriellen Produktionsweise erklären. Anders als Engels mit Blick auf England meinte, spielten der Kapitalismus und die Mechanisierung der Produktion dafür keine entscheidende Rolle. Vielmehr führten Missernten, Hungersnöte und vor allem ein rasantes Bevölkerungswachstum dazu, dass sich immer mehr Menschen außerstande sahen, sich durch ihrer Hände Arbeit zu ernähren. In dieser Situation stieß das traditionelle Almosengeben an seine Grenzen.

Am längsten hielt es sich noch bei Beerdigungen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war es üblich, bei Begräbnissen reichlich zu spenden. Die Empfänger des Almosens beteten im Gegenzug für das Seelenheil der Verstorbenen. Doch Magistrate und Regierungen ärgerten sich über Horden von Bettlern, die die Trauerhäuser belagerten und »die Vertheilung von Geld unter sie, gleichsam als ein Recht, oft auf die unanständigste Weise« verlangten. Um diesem »Mißbrauch« abzuhelfen, empfahl die Trierer Regierung 1827 den betroffenen Familien, die vorgesehene Spendensumme entweder an den örtlichen Pfarrer oder die Armenverwaltung zu geben. Diese würden sie dann in aller Stille und ausschließlich an »wahrhaft Bedürftige« verteilen. Damit aber war die direkte und gegenseitige Beziehung zwischen Almosengeber und Almosennehmer zerstört.

Vor dem Wiener Centralfriedhof am Allerheiligentag, Holzstich von 1877, nach einer Zeichnung von Vincenz Katzler

An einer solchen Beziehung waren die Almosengeber nicht bloß aus »Pflichtgefühl« interessiert. Auch aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen bat ein rheinischer Landwirt 1843 darum, »daß uns wieder die Freiheit gestattet werde, die Armen, die uns besonders bei jetziger theuerer Zeit so zahlreich besuchen, zu beschenken, ohne deswegen vor Gericht belangt zu werden; wie wir früher gewohnt waren«. Die Gemeinde, die das Almosengeben verboten hatte, sollte es wieder erlauben und den Bürgern damit größere Sicherheit für Haus und Hof schenken. Denn wie leicht, gab der besorgte Landwirt zu bedenken, könnten aufgebrachte Bettler Feuer legen und sich für die Verweigerung des Geschenks rächen?4

William Makepeace Thackeray, Frau und Bettler, undatiert, Mitte 19. Jahrhundert

Was diese Geschichten illustrieren, ist eine moralische Ökonomie, die Reiche und Arme in Reziprozitäts- und Tauschbeziehungen miteinander verband. Almosengeber hielten es für ihre moralische Pflicht, von ihrem Reichtum abzugeben, aber nicht anonym und spendenförmig, sondern persönlich und nach eigenem Gusto. Almosennehmer dankten es ihnen mit Wohlverhalten und Loyalität.

Mit diesem wechselseitigen Geben und Nehmen räumten die Reformen, die besorgte Bürger auf lokaler Ebene in Gang setzten, um der Verarmung und Verelendung der Unterschichten Einhalt zu gebieten, gründlich auf. Zwar erhielt sich die persönliche Beziehung, aber sie veränderte ihre Form und Funktion. Prüfung und Kontrolle standen nun im Mittelpunkt. Als sich die Stadt Hamburg 1788 eine neue Armenordnung gab, wählte sie 180 freiwillige Armenpfleger »aus den bedeutendsten Bürgern« aus, die die in ihrem Revier wohnenden Armen auf deren Bedürftigkeit prüfen und durch »öftere Visitationen« beaufsichtigen sollten. Über jede Familie legten sie einen regelmäßig aktualisierten...

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