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E-Book

Klaus Groths Quickborn

Eine unglaubliche Buch-Karriere

AutorHargen Thomsen
VerlagBoyens Buchverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783804230644
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Ende 1852 erschien in einem Hamburger Verlag ein Gedichtband mit dem Titel 'Quickborn'. Es war das Erstlingswerk des bis dahin vollkommen unbekannten Autors Klaus Groth mit lyrischen Texten in einer niederdeutschen Mundart, die dem gebildeten Lesepublikum nicht vertraut war. Dennoch trat dieses Werk eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte an, erlebte bis zum Tode Klaus Groths 1899 insgesamt 24 Auflagen. Viele Gedichte wurden vertont, und bis heute ist das Buch in immer neuen Ausgaben lieferbar. Es ist der einzige mundartliche Gedichtband, der Bestseller und Longseller geworden ist. Wie dieser Erfolg möglich wurde, auf welchen besonderen Resonanzraum das Werk beim Publikum traf und wie es bis heute wirkt, das beschreibt Hargen Thomsen in einer gut lesbaren Buch-Biographie, die erstmals den 'Quickborn' nicht als niederdeutsche, sondern als Teil der deutschen Literatur und Kulturgeschichte wahrnimmt.

Hargen Thomsen, geboren 1960 in Heide und aufgewachsen auf einem Dithmarscher Marschhof, studierte Germanistik in Göttingen und Marburg. 1990 promovierte er über Friedrich Hebbel und blieb diesem Autor bis heute treu, u. a. als Sekretär der Hebbel-Gesellschaft und Mitherausgeber des Hebbel-Jahrbuchs. Er war Mitherausgeber der kritischen Briefausgabe Hebbels (1999) und Mitarbeiter an der historisch-kritischen Ausgabe seiner Tagebücher (2017). Zu seinen weiteren Veröffentlichungen zählt eine Briefausgabe der Hamburger Schriftstellerin Amalia Schoppe (2008). Unter vielen Aufsätzen und Vorträgen sind auch solche zum Tagebuch als literarischer Kunstform, zum Hamburger Stadttheater und zum spätantiken Autor Cassiodor. Im Boyens Buchverlag erschien 1993 'Min ol Heimatdörp', eine Sammlung niederdeutscher Erinnerungen, die er zusammen mit seinem Vater Johann Wilhelm Thomsen herausgab.

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Leseprobe

„Volksleben“ – Die Entdeckung einer neuen Welt


1. Die ersten Landleute auf dem Parnaß


„Gestern Abend war ich bei Goethe bis 11 Uhr, und er laß mir aus den Alemannischen Gedichten vor, was nun aus seinem Munde gar herzig klingt. Göthe recensirt sie, u. Du wirst Dich des Werkes freuen.“1

So schrieb am 27. Januar 1805 Heinrich Voß an seinen Freund R. B. Abeken. Voß war der älteste Sohn des Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voß (der mit zwei niederdeutschen Idyllen als Vorläufer Groths eine nicht unbedeutende Rolle spielt2) und lebte in den Jahren 1804 bis 1806 in Weimar, wo er klassische Sprachen am dortigen Gymnasium unterrichtete und fast täglich in Goethes Haus am Frauenplan verkehrte. Johann Wolfgang von Goethe, schon damals eine Institution der deutschen Kultur, deren Nimbus über das rein Persönliche weit hinausging, zog gern talentierte junge Leute in sein Haus und setzte sie bei Gelegenheit auch für literarische Hilfsarbeiten ein. So soll Voß jr. bei der Überprüfung der Metrik von Hermann und Dorothea, Goethes schon 1797 erstmals gedrucktem Hexameterepos, mitgeholfen haben.3 Voß erinnert sich noch 15 Jahre später (in einem Brief an denselben Adressaten) an jenen Abend im Januar 1805 und schmückt die Szene anekdotisch etwas aus:

„Ich wollte, Du hättest Göthe den Abend gesehen, als er Hebels Gedichte gelesen. Nach neun Uhr Abends lud er mich noch ein; ‚und wenn Sie im Schlafrock wären (sagte der Bediente), Sie sollten nur so zu meinem gnädigen Herrn kommen; er muß Sie noch sprechen.‘ Als ich kam, sprudelte ein serapiontischer Erguß über die Gedichte; der am anderen Morgen um 7 Uhr schon Recension war. Selige Zeit, da ich Goethes Wandnachbar war, u. er mich herbeiklopfen konnte!“4

Das Werk, das Goethes „serapiontische“ Begeisterung erregte, waren die Alemannischen Gedichte, zuerst 1803 anonym erschienen. Goethe las die zweite Auflage von 1804, in der der Autor sich erstmals nannte: Johann Peter Hebel, am 10. Mai 1760 in Basel geboren, aufgewachsen im badischen Hausen, im Tal der Wiese gelegen, eines Nebenflusses des Rheins, den er im ersten seiner Alemannischen Gedichte poetisch verewigen sollte. Zu der Zeit, als er seine Gedichte schrieb und veröffentlichte, lebte er als Gymnasialprofessor in Karlsruhe. Berühmt geworden durch die Alemannischen Gedichte ebenso wie durch die Kalendergeschichten aus dem Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds (1811), beendete er seine berufliche Karriere als Prälat der lutherischen Landeskirche und Mitglied der ersten Kammer der badischen Ständeversammlung. Er starb am 22. September 1826 auf einer Dienstreise in Schwetzingen, wie die Obduktion ergab an Darmkrebs.

Goethes Rezension, laut Voß jr. sofort nach der Lektüre entstanden, erschien am 13. Februar 1805 in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“5 und ist in gewissem Sinne epochemachend gewesen, weil durch die Anerkennung der wichtigsten literarischen Autorität Deutschlands zum erstenmal ein mundartlicher Gedichtband zur Literatur geadelt wurde. Es ist nicht so, daß die Idee, in Mundart zu dichten, Hebels ureigenste Erfindung gewesen sei. Er hat Vorgänger gehabt, und einige davon hat auch Goethe rezensiert, z. B. Johann Konrad Grübels 1798 erschienene Gedichte in Nürnberger Mundart, 6 oder ein Lustspiel Der Pfingstmontag (1816) in Straßburger Mundart, 7 das Goethe, vielleicht in nostalgischer Erinnerung an seine Straßburger Studentenzeit, außerordentlich breit rezensiert. Ja, sogar ein niederdeutscher Dichter taucht in Goethes Schriften zur Literatur schon auf, der in Schwerin geborene und in Rostock lebende Diederich Georg Babst (1741–1800).8

„Feierliche oder merkwürdige Vorfälle besang er teils in hochdeutscher, teils in plattdeutscher Sprache. Im Jahr 1789 gab er eine Sammlung lustiger, aber wahrer Schwänke plattdeutsch in drei Teilen heraus, 9 verfaßte nachher noch manches kleine Gelegenheitsgedicht in beiden Mundarten, 10 worin er merkwürdige, für Rostocks Bewohner interessante Begebenheiten besang.“11

Was Goethe hier inhaltlich beschreibt, ist typisch für die ältere Mundartdichtung: Sie ist Gelegenheitsdichtung im eigentlichen Sinn des Wortes und auf lokale Interessen beschränkt. Auch Klaus Groth hat diese Art von Literatur gekannt und beschreibt sie in seiner Artikelreihe Über Mundart und mundartige Dichtung (1873):

„Wer nicht aus Neigung oder Beruf mit den Sachen zu tun hat, der macht sich keine Vorstellung von der Anzahl Schriftsteller in deutschen Mundarten, der Menge mundartiger Bücher, Broschüren und fliegender Blätter, meistens aus der Zeit nach Herder und Goethe, als ob man ihren Forderungen nach Natur und Laune, nach Idiotismen und Freiheit hätte nachkommen wollen. Wohl ein Beweis, daß die Forderung Herders eine wohlbegründete gewesen.12 Man kann Bibliotheken damit füllen. Gewöhnlich dringen sie nicht über ihr kleines Gebiet hinaus, in der Schweiz z. B. nicht über ihren Kanton oder – wie in Zürich, Basel, auch in Köln, Aachen, Nürnberg – nicht aus der Stadt. Sie behandeln oft ganz partikulare Interessen, die weiter hinaus keine Teilnahme finden, besingen einen verdienten Mann, das Lob der Heimat, oder sie geißeln Albernheiten und Mißbräuche und verlieren sich oft in Pasquillen.“13

Aus diesem gewissermaßen häuslichen Kreis bricht Hebel mit seinen Alemannischen Gedichten aus, und das mit einer mühelosen Selbstverständlichkeit, die heute noch erstaunt und Bewunderung erregt. Quasi ohne Anlauf, ohne vorherige theoretische Beschäftigung oder vorsichtige literarische Absicherung hebt er seine heimische Mundart auf weltliterarisches Niveau, indem er eine Welt zeit- und ortloser menschlicher Empfindungen in die niedrigen Bauernhütten des Breisgau holt – und damit die Bauernhütten zur Welt weitet. „Für Freunde ländlicher Natur und Sitten“ seien die Gedichte gedacht, behauptet der Untertitel, und weiter findet man keine Begründung. Das gerade einmal elfzeilige Vorwort hält sich nicht mit einem Warum oder Wozu oder „Darf man das überhaupt?“ auf, sondern bezeichnet nur knapp den geographischen Raum seiner alemannischen Mundart:

„Er herrscht in dem Winkel des Rheins zwischen dem Fricktal und ehemaligen Sundgau und weiterhin in mancherlei Abwandlungen bis an die Vogesen und Alpen und über den Schwarzwald hin in einem großen Teil von Schwaben.“14

Der eigentliche Kanon der Alemannischen Gedichte umfaßt nur 32 Stücke, die alle im Jahr 1801 gewissermaßen in einem Zug entstanden sind. Erst die 5. Auflage von 1820 bringt weitere, im Lauf der Jahre entstandene Gedichte, die aber nicht mehr die dichterische Kraft der ursprünglichen Sammlung haben. Es gelang Hebel nicht, Goethes Aufforderung „auf diesem Wege fortzufahren“15 zu folgen, die Alemannischen Gedichte blieben ein dichterischer Solitär, Hebel wußte das selbst und fügte sich demütig der Tatsache, daß die Inspiration nur für einen kurzen Zeitraum über ihn gekommen war. Er hütete sich, etwas erzwingen zu wollen, was nicht von selbst kam:

„Im 28st. Jahr, als ich Minnesänger las, versuchte ich den allemanischen Dialekt. Aber es wollte gar nicht gehen. Fast unwillkührlich, doch nicht ganz ohne Veranlassung fieng ich im 41ten Jahr wieder an. Nun gings ein Jahr freilich von statten. […] Aber seit die Gedichte gedruckt sind, tut die Muse wieder kalt, als ob ich wider ihren Willen das Geheimnis ihrer Gunst verrathen hätte. Wenn ich mich recht fühle und schätze, so kann ich seitdem nur noch mich selber nachahmen.“16

Aber dieser dichterische Monolith, der da so seltsam vereinzelt in der deutschen Literatur des klassischen Zeitalters liegt, war doch der Anstoß zu einer kleinen literarischen Revolution, er war der Beginn der modernen deutschen Mundartdichtung. Alle, die nach ihm gekommen sind, ob sie in einer ober-, mittel- oder niederdeutschen Mundart dichteten, waren sich dessen bewußt und haben Hebel als gemeinsamen Ahnen gewürdigt. Und wahrscheinlich hätte es ohne Hebel auch keinen Quickborn gegeben, daher ist es nur gerecht, wenn Klaus Groth ihm in Über Mundart und mundartige Dichtung nicht nur ein eigenes Kapitel widmet, 17 sondern auch in seinen autobiographischen Schriften mehrfach auf den Moment zu sprechen kommt, als er den Alemannischen Gedichten zum erstenmal begegnete, am ausführlichsten in seinen Lebenserinnerungen von 1891:

„Ich denke noch an den Tag als einen der wenigen, wo man bis ins Innere erschüttert wird. Es war im Hochsommer. Ich hatte die zwei Meilen von Heide aus einsam zurückgelegt und langte erhitzt in Tellingstedt an. Ich wandte mich sogleich zum ersten Haus rechts, da wohnte der Pastor, sagte ihm kurz Gutentag, kündigte meinen Besuch auf den Nachmittag und Abend an und erbat mir ein Buch, um mich bei meinem Vetter, der in meiner Mutter Stammhaus wohnte, zu erholen. Dann wandelte ich mit dem Buche, das mir der Pastor unter den Arm gesteckt hatte, an der Kirche vorbei dem bekannten Hause am Mühlbache zu, ging, nachdem ich den Vetter begrüßt, ins kühl überschattete sog. Comtor, mein gewohntes Zimmer, legte mich aufs Bett und las. ‚Die Wiese‘ las ich, oder nein, verschlang ich, las mit einem Rausch von Entzücken, wie mir noch kein dichterisches Kunstwerk verschafft hatte. Das war Fleisch von meinem Fleisch, das war Duft, wie Blumen duften aus einer höheren...

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