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Leben eines Grenzgängers

Erinnerungen. Aufgezeichnet im Gespräch mit Zsófia Mihancsik

AutorPaul Lendvai
VerlagVerlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783218008709
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Paul Lendvai blickt zurück auf ein aufregendes Leben zwischen Ost und West: Im Gespräch mit der renommierten ungarischen Journalistin Zsófia Mihancsik erzählt er von den Jahren der Verfolgung als jüdischer Jugendlicher im Budapest der Vierzigerjahre, vom Berufsverbot und der Internierung als 'politisch Unzuverlässiger' Anfang der Fünfzigerjahre in Ungarn und seiner aufregenden Flucht 1956 über Prag und Warschau nach Wien. Seinen beeindruckenden Weg zum international bekannten Journalisten und weltweit anerkannten Osteuropa-Experten, der in Österreich seine zweite Heimat gefunden hat, schildert er ebenso wie Anekdoten aus dem Arbeitsalltag eines politischen Journalisten. Zentrales Thema des Buches sind auch seine Ansichten und Einsichten über sein Vaterland Ungarn sowie die schockierende Verleumdungskampagne, mit der ihn heute ungarische Nationalisten wegen seiner schonungslosen Analyse in seinem letzten Ungarn-Buch attackieren. Darüber hinaus berichtet er, ohne etwas schönzureden, mit Humor und Selbstironie über persönliche Erlebnisse und erschütternde Begebenheiten in seiner Familie sowie über Privates, das bislang der Öffentlichkeit unbekannt war.

Paul Lendvai, international angesehener Publizist, Autor und Osteuropa-Experte, schrieb viele Jahre als Korrespondent für die Londoner Financial Times und zahlreiche österreichische, deutsche und Schweizer Blätter. Er war ab 1982 Chefredakteur der Osteuropa-Redaktion des ORF und ab 1987 Intendant von Radio Österreich international. Heute ist er weiterhin Mitherausgeber und Chefredakteur der von ihm gegründeten internationalen Zeitschrift Europäische Rundschau, Leiter des Europa-Studios des ORF und Kolumnist des Standard. Er hat 15 Bücher publiziert, viele davon Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt, und ist Träger zahlreicher Auszeichnungen.

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Leseprobe

Im knöchellangen Wintermantel


Wieso warst du im Westen von Anfang an so erfolgreich? Noch dazu so unglaublich schnell? 1957 bist du aus deiner Heimat nach Wien geflohen, hast in Rekordzeit nicht nur dein Auskommen, sondern auch eine beneidenswerte Beschäftigung gefunden, konntest für österreichische Zeitungen arbeiten, und auch für die Financial Times hast du geschrieben. Aufgrund welcher Eigenschaften hast du es geschafft, dich in so kurzer Zeit an die ganz anderen Gegebenheiten im Westen anzupassen? Wieso gab es für dich von Anfang an die Möglichkeit, kreativ zu arbeiten, zuerst unter Decknamen und dann auch unter deinem eigenen Namen?

Vor allem hatte ich einfach Glück, viel Glück. Eine besondere Fügung des Schicksals war es schon, dass ich im Januar 1957 nach Warschau gelangt war, dort fanden nämlich Wahlen statt, und ich bin vielen wichtigen Vertretern der internationalen Presse begegnet. Polen spielte ja 1956 in Europa eine Vorreiterrolle, nicht nur wegen seiner aufmüpfigen Aktionen gegen die Diktatur, sondern auch im Kampf für mehr Pressefreiheit unter den Verhältnissen eines kommunistischen Regimes. Deshalb kamen 1957 aus Anlass der Wahl auch so viele bedeutende Vertreter unserer Zunft nach Warschau. Ich war damals Gast von Trybuna Ludu, dem damals auch von Reformern geführten Zentralorgan der Kommunistischen Partei. Die Zeitung hat auch die Kosten für meinen Aufenthalt übernommen.

Galt die Einladung von Trybuna Ludu dir persönlich?

Ja, sie galt mir als einem Mitarbeiter der Budapester Zeitung Esti Hírlap. Endre Gömöri, mein bester Freund, war nämlich als Sonderkorrespondent des Ungarischen Rundfunks gerade in Polen, als am 23. Oktober 1956 in Budapest die Revolution ausbrach. Er hat den Fehler begangen, mit der ersten Rot-Kreuz-Maschine nach Budapest zurückzufliegen. Hätte er den ersten fahrplanmäßigen Flug abgewartet und wäre dadurch entsprechend später heimgekommen, so wäre er nicht Mitglied des Redaktionskomitees des Freien Senders Kossuth geworden und man hätte ihn nicht 1957 aus dem Rundfunk hinausgeworfen. Auf jeden Fall hatte er Verbindungen nach Polen und empfahl mich bei der Trybuna Ludu. So bekam ich Gelegenheit, eine Reihe polnischer, aber vor allem ausländischer Journalisten kennenzulernen.

Für mich waren die Gespräche, die ich dort führen konnte, in vielerlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zum Beispiel mit Sydney Gruson, dem Berichterstatter der New York Times für Osteuropa-Fragen, und auch mit seiner Frau, Flora Lewis, ebenfalls eine angesehene Journalistin, die später mehrere Bücher schrieb. Wir unterhielten uns über die ungarische Revolution, und ich beklagte mich über das Verhalten der Vereinigten Staaten und Eisenhowers, also darüber, dass man uns etwas versprochen, dann aber nichts Konkretes getan habe. Worauf Gruson bemerkte, er habe Eisenhower schon immer für einen „stupid man“ gehalten. So hatte ich das noch nie gehört, und es imponierte mir mächtig, dass ein Journalist vom Zentralorgan des Imperialismus – dafür hielten wir in Ungarn nämlich die New York Times – gegenüber einem osteuropäischen Pressekollegen so zu reden wagte.

Diese Gespräche beeindruckten mich so sehr, dass sich für mich die Frage stellte, ob ich überhaupt noch nach Budapest zurückkehren sollte. So kam es, dass ich nicht die Route über Prag nach Budapest wählte, sondern in Richtung Wien reiste. In Prag habe ich dann Flora Lewis nochmals getroffen. Sie lud mich zum Abendessen ein und erklärte mir an diesem Abend, ich solle mich nicht täuschen lassen und glauben, im Westen wären alle Menschen so nett und anständig, wie ich es erlebt hatte. Sie hielt mir vor Augen, dass im Westen ein harter Konkurrenzkampf herrschte und es nicht leicht sein würde, da auf die Beine zu kommen.

Du hattest ihr erzählt, dass du, wie es damals hieß, dissidieren, also Ungarn endgültig verlassen wolltest?

Ja. Ich hatte mich ja schon in Warschau entschieden, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Ich sparte die Spesen, die ich von Trybuna Ludu bekam, damit ich mich über Wasser halten konnte, bis ich im Ausland Arbeit fände. Es war mein ganzes Vermögen, alles, was ich damals besaß.

Mein wertvollstes Stück war ein bis zu den Knöcheln reichender Wintermantel, den ich mir zu Hause gebraucht gekauft hatte und den man mir später auf meiner ersten Italien-Fahrt in Florenz aus dem offenen Auto gestohlen hat.

Aber um deine erste Frage zu beantworten: Eine meiner wichtigsten Fähigkeiten war schon damals, dass ich Verbindungen knüpfen und sie auch pflegen konnte. Ich bin nicht schüchtern, habe keine Hemmungen. Sobald ich in Wien war, rief ich einfach jeden an, von dem ich dachte, dass er mir vielleicht helfen könnte.

Waren das lauter neue Bekannte aus Warschau?

Ja. Schon in Warschau hatte ich in Erfahrung gebracht, welche Nachrichtenagenturen und Zeitungen es in Wien gab. Also begann ich, diese durchzutelefonieren, und dann führte der eine oder andere Kontakt zu weiteren Verbindungen.

Du hast ja in Budapest auch bei MTI, der Ungarischen Nachrichtenagentur, gearbeitet. Hattest du nicht schon dort Informationen darüber, wen man im Ausland, also speziell in Wien, ansprechen könnte und mit wem ein Kontakt lohnend wäre?

Nein, aus dieser Zeit hatte ich keinerlei Informationen oder Beziehungen. Schon deshalb nicht, weil ich zu Hause doch drei Jahre lang gar keine Stelle bekommen hatte, also von September 1953 bis Oktober 1956 auch in keiner Redaktion war.

Man hätte mich damals wie den Dichter Joseph Brodsky in der Sowjetunion wegen „dem Gemeinwohl schädlicher Arbeitsscheu“ in die Verbannung schicken können. Aber bei mir war es bloß so, dass ich einfach keine Stelle bekam, keine Arbeit, kein Einkommen hatte, auch keine Versicherung – aber mit dreiundzwanzig interessierte mich Letzteres damals noch am wenigsten.

Also, von daheim kannte ich hier in Wien niemanden richtig, allerdings hatte ich in Warschau auch schon Journalisten getroffen, deren Namen ich aus vertraulichen MTI-Unterlagen kannte.

Wie gesagt, in Wien fing ich an zu telefonieren. So kam ich mit Ronald Preston, dem Korrespondenten der Times, in Verbindung; er hatte früher von Belgrad aus gearbeitet, und seine Frau war eine sehr attraktive Serbin. Ich kam mit Nachrichtenagenturen in Kontakt, aber auch mit dem stellvertretenden Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung Die Presse, und dem Leiter des Auslandsressorts, Adam Wandruszka, der später Professor für Geschichte an der Universität Wien wurde. Und ich wurde auch mit Hugo Portisch, dem damaligen Chefredakteur des Kurier, bekannt, mit dem ich in Österreich am längsten freundschaftlich verbunden bin.

Ich kann also sagen, dass mein Mut und die wilde Entschlossenheit, mein zweites Leben zu beginnen, von entscheidender Bedeutung für mich gewesen sind.

Wie ist es dir damals finanziell ergangen? Denn die ersparten Spesen aus Warschau werden ja nicht lange gereicht haben.

Es ging mir ziemlich bescheiden. Ich bekam zwar für meine Arbeit Geld, aber nur sehr wenig. So habe ich zum Beispiel Leslie Bain, den aus Ungarn stammenden amerikanischen Journalisten, besucht, der eines der besten Bücher über den Ungarn-Aufstand geschrieben hat. Ich erinnere mich, dass ich mit der Straßenbahn bis ans Ende der Welt zu ihm hinausgefahren bin, aber ich traute mich damals nicht, von ihm ein Honorar für meine Informationen zu verlangen. Bei anderen habe ich mich dann doch getraut, bekam allerdings viel weniger, als ich mir erhoffte.

Aber bald hatte ich dann doch etwas Fixes. Ich begegnete nämlich John MacCormack, dem Wiener Korrespondenten der New York Times, der mir unglaublich viel geholfen hat. Er lud mich zum Mittagessen ein, wir haben uns lange unterhalten, und danach sagte er mir, er würde mich anstelle seines Ostmitarbeiters, also des Mannes, der ihm bisher mit Informationen für seine Artikel über den ost- und südosteuropäischen Raum, über die Tschechoslowakei und Ungarn zugearbeitet hatte, engagieren. Ich werde ihm das nie vergessen. Er bezahlte mir 1400 Schilling dafür – das war damals viel Geld –, dass ich für ihn die weitere Entwicklung in Ungarn verfolgte und ihm Material lieferte, schriftlich oder mündlich.

Ich kaufte mir ein altes Radio, hörte Rundfunkberichte, durchforstete Zeitungen nach Material, das Ungarn betraf, und bin so zum „Ungarn-Experten“ der New York Times und anderer Blätter geworden.

Und woher wussten diese Menschen, die du in Wien angerufen oder besucht hast, dass du für diese Arbeit geeignet bist?

Aus Gesprächen mit mir. Vermutlich konnte ich ihnen aufgrund persönlicher Erfahrungen und aus dem, was ich inzwischen an Informationen zusammengetragen hatte, einleuchtend über die frühere und aktuelle Situation in Ungarn berichten.

Von der ungarischen Revolution habe ich kein idealisiertes Bild gemalt, nicht gesagt, dass hier ein Volk mit bloßen Händen über seinen großen Feind hergefallen wäre, habe auch nicht behauptet, dass meine Landsleute schon jahrelang vorher auf eine Gelegenheit gewartet hätten, um den Kampf mit der Diktatur aufzunehmen, und auch von mir habe ich nicht gesagt, ich wäre ein tapferer Freiheitskämpfer gewesen.

Ich berichtete vielmehr, wie ich die ungarische Lage damals gesehen hatte, und vermutlich hielt man meine Berichte und Einschätzungen für plausibel und authentisch.

Vielleicht ist es auch eine glückliche Begabung,...

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