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E-Book

Lesen unter Hitler

Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich

AutorChristian Adam
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783462302035
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Was die Deutschen wirklich lasen. Dass sich die Deutschen Mein Kampf millionenfach in die Bücherregale stellten, dass ein Band wie Darüber lache ich noch heute. Soldaten erzählen heitere Geschichten mehr als zwei Millionen Mal über den Ladentisch ging, das erwartet man für diese Zeit. Doch wer hätte gedacht, dass - wer wollte - in den Dreißigern noch Huxleys Brave New World lesen konnte, Werner Bergengruens durchaus kritisches Buch Der Großtyrann und das Gericht häufig gekauft wurde, dass aus gerechnet Wind, Sand und Sterne von Antoine de Saint-Exupéry, der sich als Pilot aktiv am Kampf gegen die Nazis beteiligte, während des Kriegs ein großer Erfolg in Deutschland war und mitnichten verboten? Dass die in der DDR so beliebten Heiden von Kummerow von Ehm Welk unter der Nazi-Diktatur entstanden und zum Bestseller wurden? Dass Lichtenberg, Rilke, Goethe und selbst Ernst Jünger massenhaft gelesen wurden.Die Buchbranche boomte, trotz der Vertreibung unzähliger Autoren, trotz brennender Bücher und Verbotslisten, gerade im Krieg. Zahlreiche Autoren erreichten mit ihren Werken riesige Auf lagen. Die meisten sind - zu Recht - heute vergessen. Viele aber waren auch in den fünfziger Jahren noch Publikumslieblinge. Manche liest man noch heute. Christian Adam untersucht, wie Bücher unter den Nazis entstanden und wie sie sich - manchmal auch gegen den Willen der Machthaber - zu Bestsellern entwickelten, und welche Bücher wirklich gelesen wurden. Er stellt die politischen Institutionen und Protagonisten vor, die um die Oberhoheit über die Bücher rangen - kurz: er schreibt die Geschichte der Bestseller in der düstersten Epoche der deutschen Vergangenheit, und öffnet damit einen neuen Blickwinkel auf die Mentalität der Deutschen zwischen 1933 und 1945.

Christian Adam studierte Germanistik und Publizistik. Danach arbeitete er als Lektor und Programmleiter u. a. bei be.bra und Ch. Links. Er leitet den Fachbereich Publikationen im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Bei Galiani erschienen von ihm die bahnbrechende Studie Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich (2010) und zuletzt Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945 (2016).

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Leseprobe

»Himmel lass mich nur kein Buch von Büchern schreiben!«


Warum ich dem Ausruf Georg Christoph Lichtenbergs am Ende doch nicht gefolgt bin? Die Antwort steckt in einem handschriftlichen Eintrag in einem der Bücher meines Vaters, das dieser aus seinen Jugendjahren in meine Zeit herübergerettet hat: »Nur der erwirbt sich die Welt, der um sie kämpft!« Diese Widmung war von meinem Großvater für seinen heranwachsenden Sohn wohl Anfang der vierziger Jahre verfasst worden. 1944 dann sollte mein Vater, knapp 18 Jahre alt, tatsächlich noch hinausziehen, um – in Hitlers Wehrmacht – ›um die Welt zu kämpfen‹. Dass es nicht sein Krieg war, ging dem jungen Mann rasch auf. Er hatte Glück und überlebte. Mich berührte diese Widmung später sehr. Was konnte meinen Großvater dazu gebracht haben, seinem Sohn ein solches Motto ans Herz zu legen? In solchen Zeiten?

Beim Buch, das meinem Vater gewidmet worden war, handelte es sich um Karl Aloys Schenzingers Anilin, einem der – wie ich viel später erfahren sollte – echten Erfolgsbücher der Nazi-Zeit. Noch andere Entdeckungen machte ich als jugendlicher Leser in Vaters Bücherschrank. Da standen die in grünes Leinen gebundenen Bände von Hans Dominik: Altertümliche Science-Fiction-Geschichten, in nur schwer lesbarer Fraktur gesetzt. Manche Helden fand ich ebenso befremdlich wie die Bösewichter, aber ich las trotzdem weiter. Auch an die Geschichte von den beiden Hitlerjungen, die Abenteuer in Brasilien[1] erlebten, kann ich mich gut erinnern. Am Ende des Buches folgen sie dem Ruf in die Heimat, denn dort werden sie gebraucht – in Hitlers Wehrmacht. Nicht zuletzt diese Erlebnisse lenkten meinen Blick auf die Bücher im Dritten Reich. Dabei vor allem auf die Werke, die tatsächlich in großer Zahl verbreitet und gelesen wurden: die der Massenliteratur.

Der verbrannten und verfemten Literatur sind – zu Recht – schon viele und wichtige Bücher gewidmet worden. Sie hatten nicht zuletzt die Aufgabe, das Todesurteil, das die Nazis vielfach verhängten, zu widerrufen. Sie ließen Bücher und Autoren erneut ins Bewusstsein treten, die ansonsten der Vergessenheit anheimgefallen wären.[2] Oder wollen in einem verdienstvollen Editionsprojekt die Originaltexte einem breiten Publikum wieder zugänglich machen.[3] Mittlerweile können wir also recht genau sagen, welche Bücher und Autoren im Dritten Reich mit Sicherheit nicht erwünscht waren.

Dagegen muss, wer sich auf die Suche nach dem massenhaft verbreiteten und gelesenen ›Schrifttum‹ aus nationalsozialistischer Zeit macht, nach wie vor mit zahlreichen blinden Flecken kämpfen. Eine Überblicksdarstellung gibt es nicht. Dabei hatten schon die Zeitgenossen erkannt, dass ein Blick auf die massenhaft gelesene Literatur wichtige Erkenntnisse bringen kann: »Ich sagte mir, wenn ein Wälzer von über 1000 Seiten, 1930 erschienen, es auf 350000 Exemplare gebracht habe, dann müsse er irgendwie charakteristisch für das Denken seiner Zeit sein. Woraus ich die Berechtigung vor mir selber schöpfte, den Band zu lesen.«[4] Mit diesen Gedanken hatte sich Victor Klemperer noch 1944 zur Lektüre von Ina Seidels Wunschkind motiviert. Und in der Tat führt die Frage, welche Bücher unterm Hakenkreuz tatsächlich in großen Stückzahlen produziert, vertrieben und gelesen wurden, in einen Kernbereich der deutschen Mentalitätsgeschichte.

Warum aber kam es nach 1945 zu einer eher zögerlichen Auseinandersetzung mit dem Thema? Zum einen hatte man sich aus verständlichen Gründen auch beim Blick auf den Buchmarkt zunächst den Geschichten der Opfer des NS-Regimes gewidmet. Erst nach und wurden Fragen zum Buchmarkt im Dritten Reich oder zu den Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur unterm Hakenkreuz gestellt. So ist die erste umfangreiche, alle greifbaren Aktenüberlieferungen einbeziehende Studie zur Literaturpolitik im Dritten Reich[5] noch keine zwanzig Jahre alt! Ohne eine genaue Kenntnis der Rahmenbedingungen von Textproduktion in dieser Zeit verboten sich bestimmte Fragestellungen aber von selbst. Erschwert hat den Blick auf den Massenmarkt zudem die Tatsache, dass sich für diese Phänomene zunächst keiner so richtig zuständig fühlen mochte. Wenn man sich auf literaturwissenschaftlicher Seite etwa mit Texten aus diesen Segmenten befasste, was seit den sechziger Jahren verstärkt geschah, dann oft aus ideologiekritischem Blickwinkel. Es wurde dann danach gefahndet, welchen politischen Interessen oder Vernebelungsaktionen Massenliteratur gedient haben mochte. Zunächst wurde meist von den publizierten Texten selbst ausgegangen. Informationen zu den Autoren oder den Marktbedingungen waren teils nicht vorhanden oder spielten für die spezifische Fragestellung nur eine untergeordnete Rolle. Aber diese Studien waren keine Sackgassen, im Gegenteil, es waren nötige Schritte einer Annäherung an bestimmte Phänomene des Literaturmarktes.[6]

Zugleich unterlag der Begriff ›Literatur‹ von jeher einem steten Wandel.[7] Im vorliegenden Buch wird er in seiner allgemeinsten Bedeutung verwendet und soll die Gesamtheit des Geschriebenen und Gedruckten umfassen, eben auch nicht-fiktionale Texte wie Sachbücher, Dokumentarisches oder Propagandaschriften, um nur einige zu nennen.

Am Beispiel des Sachbuches zeigt sich, dass auch die Auseinandersetzung mit dieser Textsorte noch vergleichsweise jung ist. Sachbücher stellten aber zwischen 1933 und 1945, ähnlich wie heute, einen beträchtlichen Teil der am Buchmarkt gehandelten Produkte. Ohne den Blick auf Nicht-Fiktionales bliebe der Eindruck vom Buch-Massenmarkt jener Jahre unvollständig und irreführend. Erst 1978 erschien mit Ulf Diederichs »Annäherung an das Sachbuch« ein längerer Text, der bis heute immer wieder als Ausgangspunkt genommen wird und erstmals auch die ›Tatsachen-Literatur‹ oder die Fachbuchdiskussion im Dritten Reich im Überblick zeigte. Eine umfassendere Beschäftigung mit dem Gegenstand ist immer noch in vollem Gange.[8]

Es gab immer wieder neue, die Diskussion anregende Aufsätze oder Publikationen, die Teilbereiche der Massenliteratur im Dritten Reich betrachteten und die wichtige Einzelaspekte erstmals ins Bewusstsein rückten.[9] Erst mit einer stärkeren Verbindung von kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen kam der Buchmarkt in seiner Gesamtheit mit all seinen Produkten, Akteuren und Gesetzmäßigkeiten besser ins Blickfeld.

 

Im vorliegenden Buch soll die Literatur der Zeit aus der Sicht der Leser betrachtet werden, die damals im Deutschen Reich unter der nationalsozialistischen Herrschaft lebten. Ich habe die Werke in Augenschein genommen, die tatsächlich in großer Zahl gedruckt, gekauft und gelesen wurden. Dabei habe ich mich von einem sehr breiten Literaturbegriff leiten lassen, der Bild-Text-Bände und Tatsachenromane ebenso mit einbezieht wie Ratgeber oder Groschenhefte. Das Gros der massenhaft verbreiteten Literatur im Dritten Reich sollte erfasst werden. Rein willkürlich habe ich eine Auflagenhöhe von zirka 100000 Exemplaren festgelegt, von der an ein Werk als ›Bestseller‹ in die Betrachtung einbezogen wurde.

Bei der Durchsicht meiner rund 350 Texte umfassenden ›virtuellen Bestsellerliste‹ (ein Auszug daraus findet sich im Anhang, S. 323–325) kristallisierten sich rasch zehn ›Buchtypen‹ heraus, die als besonders erfolgreich immer wieder und in unterschiedlichen Schattierungen zu finden waren. Diese müssen keinen literaturwissenschaftlichen Kriterien genügen, sollen dafür aber den Kategorien möglichst nahekommen, mit denen Leser, Käufer, Buchhändler und andere Akteure am Buchmarkt in jenen zwölf Jahren bestimmte Werke etikettierten. Dabei sind viele Grenzen fließend, etwa wenn Sachbücher oder Tatsachenromane oft nahtlos ins Propagandaschrifttum übergehen. Manche Bücher und Autoren wären auch unter anderen Aspekten zu verhandeln gewesen. Insofern sind viele Zuordnungen subjektiv gefärbt und gehorchen der Willkür des Erzählers. Das gilt auch für die Vollständigkeit der Darstellung, die ich nur insofern angestrebt habe, als die wichtigen Texttypen und Strömungen exemplarisch vertreten sein sollten. Ich habe Wert darauf gelegt, möglichst interessante Geschichten um Bücher und Autoren erzählen zu können. Bereits Altbekanntes tritt deshalb eher in den Hintergrund.

Den zehn wichtigsten Buchtypen und ihren Autoren und Lesern wendet sich der Hauptteil des Buches zu. Eingangs habe ich versucht, mich den Bücherfreunden – den prominenten wie den unbekannten – anzunähern und die literatur- und buchmarktpolitischen Rahmenbedingungen zu schildern, unter denen Autoren, Verleger und Leser lebten. Über die greifbaren statistischen Ermittlungen von Leserwünschen und -zahlen sowie die Lektüreerlebnisse einzelner ganz ›normaler‹ Leser hinaus, werden im Folgenden auch prominente Erinnerungen hinzugezogen. Vor allem Menschen, die damals oder später selbst beruflich mit Büchern zu tun hatten, geben Erzählungen über ihre bevorzugte Lektüre oder einzelnen prägenden Erfahrungen mit Literatur in ihren Memoiren oder Tagebüchern oft breiten Raum. Zu Wort kommen werden neben anderen Ernst Jünger, Joachim C. Fest, Marcel Reich-Ranicki, Heinrich Böll und Günter Grass.

Eine in jeder Hinsicht einzigartige Quelle bilden die Tagebuchaufzeichnungen von Victor Klemperer. Hier liest einer wie besessen, dem Bücher ein Lebenselixier sind. Zu seinen Lektüreeindrücken fertigte er detaillierte Aufzeichnungen an. Für Victor Klemperer, der sich zur Aufgabe gemacht...

Blick ins Buch

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