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E-Book

Matthias Claudius

Biographie eines Unzeitgemäßen

AutorMartin Geck
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641139889
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Sein Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« kennt noch heute jedes Kind, doch der Autor dieser Zeilen, der Dichter und Journalist Matthias Claudius, droht in Vergessenheit zu geraten. Dabei lohnt es sich, Claudius und seine Welt neu zu entdecken, wie uns Bestsellerautor Martin Geck in seiner großen Biographie eindrucksvoll zeigt.

Denn in Matthias Claudius, dem umtriebigen Redakteur des berühmten »Wandsbeker Boten«, spiegeln sich die widersprüchlichen Strömungen jener Ära zwischen Romantik und Aufklärung: Er war zugleich loyaler Untertan und Kämpfer gegen Fürstenwillkür, frommer Christ und Freimaurer, er schien wenig lebenstüchtig und gehörte doch zu den einflussreichsten und meistgelesenen Autoren des 18. Jahrhunderts.

In einer Epoche, in der vor allem Kopf und Vernunft zählten, appellierte er an Herz und Gefühl und schrieb stets mit einer scheinbar kindlichen Naivität. Das trug ihm zwar eine enorme Popularität bei seinen Lesern, mitunter aber auch die Herablassung seiner Zeitgenossen ein. Doch wie viel Kluges und Zeitkritisches in Claudius' vermeintlich naiven Zeilen steckt und warum es sich lohnt, diesen Dichter und sein Werk wiederzuentdecken, zeigt Martin Geck in seiner neuen Biographie - das Porträt eines Unzeitgemäßen und seiner Zeit.

Martin Geck war Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Seine Bücher zur Musikgeschichte und seine Biographien großer Komponisten (u.a. über Mozart, Bach und Wagner) wurden von der Kritik hoch gelobt und in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Für sein Buch über Johann Sebastian Bach wurde er mit dem Gleim-Literaturpreis ausgezeichnet. Er starb 2019.

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Leseprobe

Mein Claudius – damals

»’s ist Krieg!« – so beginnt ein Gedicht von Matthias Claudius; und Krieg herrschte auch, als ich in meiner Kindheit seinem »Abendlied« begegnete. Deshalb soll hier zunächst vom Krieg die Rede sein – also nicht von idyllischen Mondaufgängen, sondern von Bombennächten. Es geht um die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs, und ich erinnere mich gut daran, dass mein Vater vor dem Gutenachtkuss mit mir die Schlussstrophen aus Paul Gerhardts Abendlied »Nun ruhen alle Wälder« sang:

Breit aus die Flügel beide,

o Jesu, meine Freude,

und nimm dein Küchlein ein.

Will Satan mich verschlingen,

so laß die Englein singen:

»Dies Kind soll unverletzet sein.«

Auch euch, ihr meine Lieben,

soll heute nicht betrüben

kein Unfall noch Gefahr.

Gott laß euch selig schlafen,

stell euch die güldnen Waffen

ums Bett und seiner Engel Schar.

»Dies Kind soll unverletzet sein …« – das war damals ein höchst aktueller Wunsch. Denn oft genug kam es vor, dass ich, kaum eingeschlafen, von Sirenen jäh geweckt und von meinem Vater in aller Eile in den Luftschutzkeller unseres Recklinghäuser Pfarrhauses getragen wurde. Nach der »Entwarnung«, die durch einen langen Sirenenton angezeigt wurde, trat ich an der Hand meiner Mutter auf die nachtdunkle, nur hier und da vom Feuerschein erhellte Straße. Dort traf man auf die Nachbarn, die sich wechselseitig versicherten, noch am Leben zu sein, alsbald die Bombenschäden in der nächsten Umgebung besichtigten und womöglich beim Löschen halfen. Bis heute habe ich das brennende Haus des Lebensmittelhändlers Stute in unserer Straße vor Augen. Und bis heute erinnere ich mich an die bizarren Formen der fingerlangen, manchmal auch handtellergroßen Flaksplitter, die ich am Morgen danach in einer Zigarrenkiste von der Straße aufsammelte – das harmlose Vergnügen eines Fünf- bis Sechsjährigen, dessen große Brüder schon als Flakhelfer oder Soldat »Dienst« taten.

Ich sehe mich auch noch auf der kleinen Mauer vor dem Pfarrhaus sitzen und mit dem Finger auf Leute zeigen, die plötzlich mit einem gelben Stern auf ihrer Kleidung auf der Straße erschienen. »Was ist das?«, fragte ich mit der Penetranz des Fünfjährigen. An die Antwort der Erwachsenen erinnere ich mich nicht mehr, sicherlich war sie verdruckst. Dabei war mein Vater kein Freund des nationalsozialistischen Regimes, vielmehr als Mitglied der Bekennenden Kirche im Visier der Gestapo, die ihn mehrfach ins Polizeipräsidium bestellte und vermutlich das Telefon abhörte, das er bei wichtigen Gesprächen immer mit einem Kissen abdeckte. Er hatte mich bei meiner Taufe im Jahr 1936 nach Martin Niemöller genannt, also nach dem Kopf der Bekennenden Kirche. Aber auch nach Martin Luther, dessen Statement »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir« er nacheiferte. Freilich war er auch ein Anhänger von Luthers Zwei-Reiche-Lehre: Er, der im Ersten Weltkrieg ein hochdekorierter Reserveoffizier gewesen war, wäre kaum auf die Idee gekommen, sich dem politischen Widerstand anzuschließen. Vielmehr kämpfte er allein mit den »güldnen Waffen« der Bekenntnistreue – das allerdings mit großer Entschiedenheit und mit dem Risiko, sein Amt zu verlieren und seiner Frau mit ihren fünf Söhnen nicht mehr als Ernährer zur Verfügung zu stehen.

Die Metapher von den »güldnen Waffen«, von denen Paul Gerhardt in seinem Abendlied spricht, ist mir durch das Gutenachtlied meines Vaters als »Geschmack auf der Zunge« geblieben. Mit dem Wort »gülden« assoziierte ich eine Art überirdischen Glanzes; und das ging mir ebenso, wenn meine Mutter mit uns beiden jüngeren, im Haus verbliebenen Kindern von der »güldnen Sonne« im gleichnamigen Lied Paul Gerhardts sang. Von ihr, die in ihrer Jugend eine Gesangsausbildung gehabt hatte und mich wie mein Vater zum Singen ermunterte, hörte ich auch zum ersten Mal des Matthias Claudius Abendlied »Der Mond ist aufgegangen, / Die güldnen Sternlein prangen / Am Himmel hell und klar«. Ja – sie sang von den »güldnen«, nicht von den »goldnen« Sternlein, denn sie hatte die entsprechende Strophe aus meinem Gutenachtlied »Nun ruhen alle Wälder« im Ohr:

Der Tag ist nun vergangen,

die güldnen Sternlein prangen

am blauen Himmelssaal.

Also werd ich auch stehen,

wann mich wird heißen gehen

mein Gott aus diesem Jammertal.

Ob es ihr bewusst gewesen ist, dass Matthias Claudius sein »Abendlied« in großer Selbstverständlichkeit demjenigen Paul Gerhardts nachgeschaffen hat? Die Reimschemata sind identisch, Naturbilder wie »schweigende Wälder« und »güldne Sternlein« sehr ähnlich. Darüber hinaus verweisen Paul Gerhardts Liedzeilen »Also werd ich auch stehen, / wann mich wird heißen gehen / mein Gott …« auf eine weitere Dichtung von Claudius mit dem Anfang:

Es stand ein Sternlein am Himmel,

Ein Sternlein guter Art;

Das tät so lieblich scheinen,

So lieblich und so zart!2

Claudius hat die Verse auf den frühen Tod seiner zweitältesten Tochter Christiane geschaffen, und meine Mutter mag sie gekannt haben, da sie angesichts ihrer berührenden Schlichtheit noch zu Lebzeiten des Dichters in die berühmte Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn Aufnahme fanden und seitdem oft nachgedruckt wurden. Jedenfalls hätte sie Claudius’ Leid über den Tod seines Kindes im Innersten verstanden, da sie lebenslang die Trauer um ihren früh verstorbenen zweitältesten Sohn mit sich herumtrug.

Auch wenn sie »Der Mond ist aufgegangen« sang, lag meiner Erinnerung nach eine leichte Trauer in ihrer Stimme: Sie dachte dann wohl nicht nur an die Naturidyllik der ersten Zeilen, sondern auch an die weiteren Strophen, in denen der Dichter ein ganzes Christenleben »durchgeht« – mit allen Zweifeln und Hoffnungen. Als Fünfjähriger habe ich das Lied, ohne schon seinen Sinn zu verstehen, von vornherein nicht als Idylle, sondern im Kontext der beschriebenen »schweren Zeiten« aufgenommen.

Doch auch im Krieg gab es, zumindest bis Stalingrad, für Kinder ganz ungetrübte Freuden. Dazu gehörte der Ausflug der Kindergottesdienstgemeinde. In dem Sommer, bis zu dem meine Erinnerung zurückreicht, ging er in die nahe gelegene Haard; und ich entsinne mich an die Rückfahrt im Personenzug von Sinsen nach Recklinghausen. Sie kann kaum länger als zehn Minuten gedauert haben, erschien mir aber wie eine Ewigkeit – geteilt mit den anderen Kindern, mit den »großen Mädchen«, die als Helferinnen dabei waren, und mit Schwester Olga, die »Der Mond ist aufgegangen« anstimmte. Die »großen Mädchen« legten viel Gefühl in ihren Gesang – wer weiß, wohin ihre Fantasie vor dem Horizont von Liebe und Leid schweifte. Ich selbst beherrschte bestenfalls die erste Strophe; doch ich saß glücklich auf dem Schoß eines der »großen Mädchen« und schaute durch das Abteilfenster in die langsam vorüberziehende Landschaft mit dem aufsteigenden Mond am Himmel. Ich entsinne mich nicht, ob er – wie im Lied – »nur halb zu sehen« war; für mich war er jedenfalls »rund und schön« – wie alles an diesem Tag.

In meiner Wahrnehmung bilden Lieder wesentliche Brücken zur Kindheit. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit, sich bestimmter Gefühle und Stimmungen, die sich in Worten gar nicht fassen ließen, zu vergewissern. Darüber hinaus stellt die Gattung Lied eine unverwechselbare Chance dar, ein Sinnganzes in allem Widersinn zu spüren, also Gutes und Böses, Süßes und Bitteres, Hartes und Weiches, mystische Anmutungen und alltägliches Hin und Her als Gesamtzusammenhang zu erfahren. Das half mir schon damals und hilft bis heute, eine von Kriegs- und Nachkriegswirren sowie vom frühen Tod meiner Mutter bestimmte Kindheit als gelungen zu erleben – als ein Stück Schöpfung, das so hat sein sollen, wie es geworden ist. Wo mich Lieder begleiten, habe ich die Vorstellung, dass ich mit dem Leben gehe und das Leben mit mir.

Die Schriftstellerin Janne Teller, die vor einigen Jahren mit ihrem preisgekrönten Jugendroman Nichts. Was im Leben wichtig ist hervorgetreten ist, hat in der Zeitschrift Lettre International kundgetan, was ihr Gedichte bedeuten: »Ich könnte endlos darüber sprechen, wie man den Glauben an die Menschlichkeit verlieren kann, aber ich möchte viel lieber darüber sprechen, wie er wiederhergestellt werden kann. Ich möchte viel lieber über das Wasser und das Salz sprechen, das ich zwischen den Zeilen der Gedichte gefunden habe, die ich jeden Tag in kleinen Stücken zu mir genommen [und auswendig gelernt] habe. Einige der Gedichte habe ich seither vergessen, aber an die meisten erinnere ich mich noch. Jedes ist zu einem kleinen unsichtbaren Lächeln in meiner Seele geworden, traurig oder freudig …«3

Ohne den damit skizzierten Hintergrund würde ich mein Buch über Matthias Claudius nicht schreiben wollen. Es ist, wie sich bald zeigen wird, kein Erbauungsbuch, vielmehr auch dem »launigen« Claudius gewidmet und zugleich an dem regen künstlerischen und intellektuellen Diskurs der Goethe-Claudius-Ära orientiert. Jedoch kann ich nur über Dinge schreiben, die durch mich hindurchgegangen sind. So habe ich es bei meinen vielen Büchern über Musik gehalten, so halte ich es auch diesmal: Was an Claudius nicht »Musik in meinen Ohren« wäre, würde unspezifisch bleiben. Diesmal liegt der Fokus meines Interesses jedoch nicht auf der Musik, obwohl Claudius sie...

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