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E-Book

Mord zum Sonntag

tatortphilosphie

AutorAlfred Pfabigan
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783701745401
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
2016 wird der 1000. Tatort ausgestrahlt - Zeit für eine kritische Analyse mit erstaunlichen Ergebnissen. Bis zu 14 Millionen Menschen verfolgen jede Woche den Mord zum Sonntag. Die wohl langlebigste Fernsehserie wird als 'kulturelles Gedächtnis' wahrgenommen, das sensible Themen und aktuelle Fragen nicht scheut. Doch was verbirgt sich hinter Kapitalismuskritik und tagespolitisch brisanten Einsätzen der Kommissare mit den brüchigen Biografien? Pfabigan zeigt Zusammenhänge zur nationalsozialistisch geprägten Geschichte des deutschen Polizeifilms auf, er verweist auf zahlreiche Kontinuitäten hinter zeitkritischen Anliegen. Im Vergleich zu amerikanischen CSISerien erweisen sich die Tatort-Opfer als verdächtig schuldig, die Täter als auffallend einfühlsam gezeichnet und Recht und Unrecht als eine Gefühlssache, die wenig mit Beweisen zu tun hat.

Alfred Pfabigan geboren 1947 in Wien, habilitierte 1979 in Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. 1993-2013 war er Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien und unterrichtete in den USA, Bulgarien, Frankreich und der Ukraine. Leiter der 'Philosophischen Praxis Märzstraße'. Autor von zahlreichen Publikationen.

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Leseprobe

Vom Paradies zum »Tatort«


 

Der erste Mord


In der Genesis, so die These Johann Gottfried Herders in dem Büchlein Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774), werde der zureichende Grund zur Unterscheidung zwischen Barbarei und Zivilisation benannt, auch biete sie den Schlüssel zu deren Geheimnissen; ähnlich verfährt Immanuel Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). Und so wird die Genesis als Basistext unserer Kultur nicht nur in den Religionen und den schönen Künsten durchdekliniert, sondern auch in Fernsehkrimis.

Auf der Basis von Stilvergleichen gehen manche davon aus, dass Genesis, Exodus und Numeri zwischen 950 und 900 v. d. Z. von einer am Hof von König Salomon lebenden Autorin verfasst wurden; die Forschung hat der Unbekannten den Namen »Jahwistin« verliehen. Tatsächlich unterscheiden sich diese Teile vom übrigen Textkorpus des Alten Testaments der Bibel; die Autorin erzählt in rasendem Tempo, schnörkellos, beiläufig, scheinbar unbeteiligt, und ihre Haltung zu den Geschehnissen bleibt unklar. Harold Bloom attestiert ihr eine »schockierende Ironie« und hält ihren Genius für geradezu unheimlich, da sie nie aufhöre, uns zu überraschen.1 Tatsächlich berührt dieser lakonische Text zentrale Punkte unseres sozialen Lebens – die Schöpfung, die Machtfrage, die Einsamkeit, die Sexualität, den Regelbruch und den gewaltsamen Tod. Das alles wird auf einer Seite erzählt, die Autorin ignoriert die Gefühle der Beteiligten, sie spekuliert nicht über Motive und feiert weder den Schöpfer wie ihre barocken Nachfolger, noch verurteilt sie ihn wie die Gnostiker. Alles ist offen, ihr angsterregender Text schafft einen Raum ungeheurer Geheimnisse, der allerdings kunstvoll die Beteiligung der Autorin, ihre Bewunderung wie auch ihr Entsetzen versteckt. Und mit diesem Text beginnt auch der Diskurs über das Töten des Menschen durch seinen Bruder-Menschen und die unaushaltbare Veralltäglichung dieses Vorgangs. Der Bericht ist ohne Trost: Die Autorin weigert sich, durch die Verheißungen der Religion, durch Kunst oder Verbildlichung, die Angst wegzuspülen.

Das erste Kapitel der Genesis enthält den Bericht über die Schöpfung und den nicht näher begründeten Entschluss Gottes, den Menschen, der später Adam genannt wird, zu schaffen: »ihm zum Bilde«. Er schenkt seinem Geschöpf das Leben und den Raum, den es und wir, seine Nachfolger, uns untertan machen sollten – aber nicht mehr. Damit setzt er uns in jene vernunftfreie Regellosigkeit, die Kant so erschrecken wird. Im zweiten Kapitel erfahren wir, dass dieses Wesen eine unbestimmte lebendige Seele hat, dass es den Garten Eden kultivieren, doch sich der Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse enthalten solle – und hier beginnt der erste große Konflikt: »Denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.« (1 Moses 2, 17) Hat Gott uns ein Urwissen vom »Sterben« implantiert, wo doch – so Freud in Totem und Tabu – die Vorstellung des Todes »inhaltsleer und unvollziehbar« ist? Warum hat Gott diese unklare und die Souveränität seines Geschöpfes einschränkende Drohung ausgesprochen? Die Probe folgt jedenfalls sofort, Eva, jene Gefährtin, die Gott dem einsamen Adam geschaffen hat, wird von der Schlange in Versuchung geführt, die Früchte zu essen: »Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; … (ihr) werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« (1 Moses 3, 4f.) War, was geschehen wird, von Jahwe vorhergesehen, vielleicht sogar geplant? Oder hat er von Anfang an die Freiheit seiner Geschöpfe akzeptiert? Unsere Vorfahren können der Versuchung nicht widerstehen, sie verlieren das, was wir heute Unschuld nennen, gewahren ihre Nacktheit und verstecken sich vor ihrem Schöpfer, der doch alles sieht. Und der verflucht die Schlange, vertreibt die Menschen aus dem Paradies und konfrontiert sie mit jener für Kant so wichtigen, vernunftfördernden Realität: Eva soll mit Schmerzen Kinder gebären und Adam soll sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen.

Die Schlange hat uns belogen, wir sind sterblich, und die Unklarheit darüber, was gut und was böse ist, ist immer noch groß. Offenkundig hat der Herr seinen Geschöpfen keine Regeln für das Leben »Jenseits des Paradieses« gegeben. Im Gegensatz zu den geschwätzigen Apokryphen, jenen Texten, die biblische Themen behandeln, aber nicht zum Kanon gehören, verliert die Jahwistin kein Wort darüber, wie unsere Vertriebenen ihr Leben gestalten. »Im Lauf der Zeit« gebiert Eva Kinder, von zwei Söhnen wird der Name genannt: vom Ackersmann Kain und dem Schäfer Abel, Repräsentanten der zwei Soziotypen, aus deren Antagonismus sich unsere Zivilisation entwickelt hat. Das also ist die erste Familie. Beide Söhne opfern dem Herrn, um ihn gnädig zu stimmen, doch Gott sieht nur das Opfer des Abel gnädiglich an. Der Text lässt das »Warum« offen. Hat Kain – wie in der bildenden Kunst gerne angespielt – das Ritual der schon so oft gescheiterten Versöhnung Gottes mit lustlosem Realismus vollzogen? Welchen Sinn hatte das Opfer überhaupt und was bedeutete die für Abel letztlich tödliche Gnade des Herrn? Spielte er etwa mit seinen Geschöpfen? Die Jahwistin bleibt hier vage, sie verrätselt die Geschichte und begründet damit das Feld, in dem die Allianz zwischen Religion, Kunst und Populärkultur ansetzt, wo uns spekulative, aber anziehende Lösungen angeboten werden.

In der Erzählung der Jahwistin »ergrimmete Kain, und seine Geberden verstellten sich«. Nun beginnt die Autorin mit dem Leser zu spielen und lässt den Herrn, der doch weiß, was sich gleich ereignen wird, Kain vor der Sünde warnen, die da »vor der Tür ruhet«. Und so geschieht es: Bei der Aussprache mit seinem Bruder auf dem Feld – dem Arbeitsplatz Kains – erschlägt dieser Abel. Das große Spiel rund um den gewaltsamen Tod hat damit begonnen; das Wort »Mord« stammt aus dem apokryphen »Vierten Buch der Makkabäer«.2 Doch weiß Kain, was er getan hat? Der Allwissende, dem die Welt ja ein Kristall ist, stellt ihm eine rhetorische Frage: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und der erste Verdächtige in der Untersuchung eines Kriminalfalles leugnet unverschämt: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?«

Da wird Gott zornig und verkündet ein Grundgesetz unserer Zivilisation, dessen Bedeutung in deutschen und amerikanischen Polizeiserien recht verschieden ausgelegt wird: »Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde. Und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul aufgetan hat, und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstät und flüchtig sollst du sein auf Erden.« Reue, Besserung, »zweite Chance« – das liegt nicht im Willen des Herrn; wer getötet hat, der wird mit einem schlimmen Leben bestraft. Zeigt Kain, dem offensichtlich nach der Tat das Wissen über den Unterschied zwischen »Gut« und »Böse« gegeben ist, Einsicht, wenn er antwortet: »Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge«? Oder heuchelt er und hat nur Sorge um sein Wohlergehen? »Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und muss mich vor deinem Angesicht verbergen, und muss unstät und flüchtig sein auf Erden. So wird’s mir gehen, dass mich tot schlage, wer mich findet.« Die Strafe ist Gottes Wille, ansonsten stellt er, der doch Abel nicht geschützt hat, Kain unter seinen persönlichen Schutz: »Nein, sondern wer Kain tot schlägt, das soll siebenfältig gerochen werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.« So zeigt der erste Mörder kein eindeutiges Zeichen von Reue und darf seiner Wege ziehen. Ein weiteres Rätsel, denn in Exodus 21,12 wird der Herr Mose zwar verkünden, dass der, der einen Menschen zu Tode bringt, mit dem Tod bestraft werden solle. Doch er wird eine Ausnahme benennen, die vielleicht rückwirkend für den Fall Abel gilt: »Wenn (…) Gott es durch seine Hand geschehen ließ, werde ich dir einen Ort festsetzen, an den er fliehen kann.« War der Tod Abels etwa der Wille des Herrn – oder hat sich Kain die Rolle Gottes als Herrn über Leben und Tod angemaßt?

Kain also geht »von dem Angesicht des Herrn« und zieht ins Land Nod und »erkannte sein Weib, die ward schwanger, und gebar den Hannoch«. Abel ist tot, es macht wenig Sinn, über ihn nachzudenken. Kain repräsentiert das Überleben und damit...

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