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E-Book

Nahaufnahmen. Fünfzig Gespräche mit dem Leben

Fünfzig Gespräche mit dem Leben

AutorGero von Boehm
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl624 Seiten
ISBN9783843714266
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Seit mehr als drei Jahrzehnten interviewt der Autor, Regisseur und TV-Produzent Gero von Boehm Prominente aus der internationalen Kulturszene. Seinem besonderen Einfühlungsvermögen sind intensive, intime Porträts zu verdanken, die den Gesprächspartnern neue, unbekannte Seiten entlocken. Gero von Boehm hat sie alle getroffen: Künstler, Musiker, Schriftsteller, Theater- und Filmregisseure, Schauspieler, Modemacher, Architekten und andere außergewöhnliche Persönlichkeiten. »Nahaufnahmen« versammelt die Highlights dieser Interviews - unter anderem mit Roman Polanski, Federico Fellini, Ernst Jünger, Arthur Miller, Helmut Newton, Peter Handke, Orhan Pamuk, Ulrich Tukur, David Chipperfield, Jonathan Meese, Michael Ballhaus, Susan Sontag, Patti Smith, Golo Mann, Norman Mailer, Hans Magnus Enzensberger, Anne-Sophie Mutter, Loriot und zahlreichen anderen. Neben bereits veröffentlichten enthält der Band zum großen Teil neue, bisher unveröffentlichte Gespräche - ein höchst anregender, oftmals überraschender Blick hinter die Kulissen des kulturellen Lebens unserer Zeit.

Gero von Boehm, geboren 1954 in Hannover, ist seit mehr als dreißig Jahren ein erfolgreicher TV-Regisseur und -Produzent. In seinen Gesprächsformaten 'Wortwechsel' (SWR) und 'Gero von Boehm begegnet...' (3Sat) interviewte er mehr als hundert Prominente der zeitgenössischen Kulturszene. Zuletzt produzierte er die 6-teilige ZDF-Reihe 'Deutschland-Saga' mit Christopher Clark.

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Leseprobe

David Chipperfield

Berlin, warten auf den Meister. Er ist gerade aus Schanghai zurück, morgen geht es weiter nach New York. Warum fühlt man sich in dem riesigen, hohen Raum mit seinen grauen Betonwänden so wohl? Liegt es an der elfenhaften Evelyn Stern, seiner Frau, die so freundlich umherschwebt? Natürlich auch. Aber vor allem: David Chipperfield baut um den Menschen herum – in diesem Fall um Evelyn und sich selbst, denn es handelt sich um seine private Wohnhalle in Berlin-Mitte. Über den Hof das Büro mit vielen jungen Mitarbeitern. Sir David, leise, zurückhaltend, immer in Schwarzweiß gekleidet, kennt den magischen Schnitt, der anscheinend direkt auf unsere Sinne wirkt. Und der stimmen muss. Das ist ihm wichtiger als die signature, die viele Architekten vor sich her tragen.

GvB: Als Schüler hatten Sie den Ehrgeiz, der schnellste Läufer zu sein. Was bedeutet Ihnen Geschwindigkeit?

Chipperfield: Ich hatte nicht den Ehrgeiz, der schnellste Läufer zu sein. Ich war in einer Boarding School, aber einer zweit- oder drittrangigen, nicht einer der bekannten. Das ist wie ein Internat, wo man drei Monate bleibt und dann wieder nach Hause kommt. Ich war nicht besonders gut in der Schule. Und mir wurde klar, dass es in einer solchen Gemeinschaft wichtig ist, in irgendeiner Sache besser als die anderen zu werden. Ich war einigermaßen sportlich, aber kein besonders talentierter Tennis- oder Fußballspieler. Ich war aber ein recht guter Läufer und erkannte, dass ich noch besser werden könnte, wenn ich Lauftraining machte – dafür interessierte sich sonst keiner. Ich beschloss also, mich über die 400, 800 und 1500 Meter zu verbessern. Da habe ich gelernt, dass ich, wenn ich etwas übte und es mehr als andere wollte, die anderen schlagen konnte. Ich musste meinen Platz finden. Und auf diese Weise habe ich etwas gelernt. Dass man nämlich, indem man sich wirklich auf eine Sache versteift, seine eigenen Grenzen überwinden kann.

GvB: Sie führen ein extrem schnelles Leben, beschäftigen sich mit Hunderten von Projekten in aller Welt. Heute New York, morgen Schanghai, dann wieder ein paar wenige Tage Berlin, wo wir jetzt sprechen. Was hilft Ihnen in Augenblicken der Erschöpfung?

Chipperfield: Schlaf. Und ansonsten meine Familie. Ich habe eine sehr präsente Familie, die mich so weit wie möglich auf dem Boden der Normalität hält. Mich an die wichtigen Dinge erinnert, so dass ich mich nicht so sehr durch andere Perspektiven verwirren lasse.

GvB: Durch Erfolge?

Chipperfield: Nicht so sehr durch Erfolge, sondern durch Ablenkungen vom Eigentlichen.

GvB: Was ist das Eigentliche?

Chipperfield: Ich war immer der Überzeugung, dass in der Architektur so vieles mit dem Menschsein zu tun hat, mit menschlichem Verhalten. Daher sollte man seine eigenen Werte und Einschätzungen über das, was das Leben ausmacht, wie man es führt und wie man es durch die eigene Arbeit anderen vorführt, in Einklang bringen.

GvB: Es ist interessant, dass in der Architektur die Gesellschaft und der Einzelne einander so nahe kommen. Weil die Sinne mitwirken und es nicht nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Wenn du ein Gebäude betrittst, spielen alle deine fünf Sinne mit.

Chipperfield: Architektur ist so etwas wie eine Nachbildung der Natur. Wenn es gut funktioniert, ist sie eine künstliche Natur. Die Betonung liegt auf Natur, und deshalb sollte Architektur Wohlbehagen erzeugen. Der beste Wertmaßstab eines Gebäudes oder eines Ortes ist der, dass ich mich gern dort aufhalte, wie in der Natur. Man spaziert irgendwo entlang und sagt: Das ist ein schöner Platz zum Hinsetzen. So wie man sagt: Dieses Zimmer ist angenehm, ich halte mich hier gern auf. Nicht wegen des Betons oder der Farbgebung, sondern es erzeugt ein angenehmes Raumgefühl. Architektur hat gleichsam ein Potential, zwischen uns und der Welt zu vermitteln. Wir leben in einer Stadt, wir blicken aus unserem Haus, aus unserem Fenster, und durch dieses Fenster sehen wir die Welt. Architektur hat also einerseits eine Schutzfunktion; wir haben sozusagen eine Mauer um uns herum gebaut, und dann machen wir ein Fenster hinein, und durch dieses betrachten wir die Welt. Architektur hat diese beiden Dinge, die uns einen gewissen Schutz vor den Elementen und vor der Gesellschaft gewähren, uns aber auch mit ihnen bekannt machen und verbinden.

GvB: Demnach muss Architektur einen immensen Einfluss auf unser Gehirn haben, uns sehr stark prägen …

Chipperfield: Ja. Winston Churchill ist nicht berühmt als Baumeister, aber als Denker. Er hat gesagt, dass wir unsere Gebäude machen, und unsere Gebäude machen uns. Ich nehme an, es ist für jemanden, der in Blenheim Palace aufgewachsen ist, folgerichtig, einen so weiten Blick auf die Welt zu haben.

GvB: Architektur ist also eigentlich sehr viel mehr als »gefrorene Musik«, wie Goethe gesagt hat. Aber es ist auch ziemlich gewagt, zu sagen, sie sei nachgebildete Natur. Das bringt mich auf die Frage: Beschleunigung ist zu einem Merkmal unserer Zeit geworden. Kann die Architektur ein Gegengewicht dazu schaffen?

Chipperfield: Ja, ich halte das für möglich. Ja, in gewisser Weise beruht die Architektur auf Qualitäten, die ein bisschen anachronistisch geworden sind. Wir erwarten von ihr so etwas wie Dauerhaftigkeit. Unsere Zeit setzt aber nicht auf Dauerhaftigkeit, sondern auf Wandel und Flexibilität. Architektur beruht auf einer bestimmten Integrität und Qualität in der Art, wie etwas gemacht wird. Das widerspricht unserem Zeitgeist. Unsere Zeit ist eigentlich eine Zeit des Bauens, nicht der Architektur. Wir wollen so schnell wie möglich sein. Weil sich das in klingender Münze auszahlt. Architektur beruht aber eigentlich auf einem Gleichgewicht zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen, einem gewissen Grad von Pioniergeist und vielleicht so etwas wie Innovation. Sobald es um viel Geld geht, gehen wir ins Risiko. Man kennt in der Architektur die Dinge, die ihr immer innegewohnt und ihr Qualität verliehen haben: Vorstellungen von Dauerhaftigkeit, von Substanz, von Handwerkskunst, alle diese Dinge. Die stammen irgendwie aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Aber dasselbe kann man auch über unser Essen sagen. Man könnte sagen, dass wir heute Nahrungsmittel in industriellen Mengen produzieren, im industriellen Zuschnitt und Tempo. So dass wir einen Hamburger für drei Euro kaufen können. Doch gleichzeitig gehen Leute ins Restaurant und geben dreißig Euro für ein Stück Fleisch aus, zehnmal mehr, als sie eigentlich müssten. Es gibt diese eigenartige Paradoxie in unserer Gesellschaft. Qualität wird in den grundlegenden, alltäglichen Dingen reduziert. Und dann bezahlen wir viel Geld für die Sachen, die wir verloren haben. Wir begeben uns auf Reisen. Wir geben ein Vermögen dafür aus, irgendwo hin zu reisen, wo wir möglichst einfach leben können. Und wir geben ein Vermögen für ein Abendessen aus, das nicht ganz so gut ist wie das, was unsere Mutter gekocht hat. Ich meine, das Gute ist, dass wir noch nicht aufgegeben haben – wir haben immer noch ein Verlangen nach Qualität, nach Dingen, die mit Sorgfalt hergestellt wurden; wir haben noch immer ein Verlangen nach Dingen, die gut durchdacht sind. Gleichzeitig verlieren wir aber ein bisschen den Bezug zur Normalität des täglichen Lebens.

GvB: Und das beobachten Sie auch in der Architektur?

Chipperfield: Auf jeden Fall. Die Architektur ist Teil der Gesellschaft, sie ist nicht von ihr zu trennen. Sie ist etwas anderes als die Kunst. Wenn jemand sagt, ein Architekt sei ein Künstler, dann redet er von jemandem, der nicht wirklich ein Architekt ist. Die Architektur ist voll und ganz in die Gepflogenheiten und Werte der Gesellschaft eingebettet.

GvB: Wenn Sie ein Attribut für Ihre Gebäude wählen sollten, ein einziges signifikantes Adjektiv für alle – wie würde das lauten?

Chipperfield: Ich weiß nicht. Ich könnte das nicht in einem Wort zusammenfassen. Wenn ich Ihre Frage aus einer anderen Richtung angehen darf, würde ich sagen, dass wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen der Normalität und dem Außergewöhnlichen zu finden … und mir ist es unangenehm, wenn die Dinge getrennt wurden. Anders gesagt: Es wäre gut, wenn Qualität ein regulärer Bestandteil von Normalität wäre. Diesen Rang sollte die Qualität behalten, sie sollte nicht etwas sein, wofür man extra bezahlen muss. Eine phantastische Mahlzeit braucht nicht aus vierzig Gängen zu bestehen, serviert mit blubberndem Sauerstoff oder Stickstoff oder was auch immer. Sie sollte in einer Schüssel kommen und zur Normalität gehören. Sie sollte ein Teil von uns sein. Es sollte nicht nötig sein, eine Wallfahrt zu einem Restaurant zu unternehmen, wenn man Qualität finden will. Ich habe also sehr großes Interesse an der Vorstellung, dass wir versuchen, an der Qualität des Alltäglichen festzuhalten, Qualität nicht auf einen exotischen Moment zu reduzieren. Gleiches gilt für die Architektur. Architektur sollte nicht etwas sein, wohin man eine Wallfahrt macht mit Aussichtspunkten und Photokamera. Sie kann das auch mal sein – es gibt Momente, in denen wir den Konzertsaal oder das Opernhaus brauchen. Aber das Wichtigste sind doch die Sachen, die uns jeden Tag umgeben. Das ist es, was mir hier gefällt. Wir leben in einem normalen Haus.

GvB: Ich kenne viele Ihrer Bauten, und meine Bezeichnung für sie wäre: »glanzvolle...

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