Die unwahrscheinliche Geschichte des Neil Young
Am Anfang war keine Stimme. Die erste veröffentlichte Schallplatte von Neil Young: instrumentals ohne Gesang. Es spielten »The Squires«, eine Schülerband, die sich Anfang der 1960er Jahre in Winnipeg, Kanada, zusammengefunden hatte; 1963 durften sie im Tonstudio eines Radiosenders eine Platte aufnehmen, eine Single mit zwei von Neil Young geschriebenen Songs: »The Sultan« und »Aurora«. Nur wenige Jahre später war Young mit der Band Buffalo Springfield bereits in den amerikanischen Hitparaden, gleich neben den Beatles und Bob Dylan, den Rolling Stones und den Beach Boys. Und doch war er noch kein Sänger: Die erste Single der Band war ein von ihm geschriebener, jedoch nicht von ihm, sondern von Richie Furay gesungener Song (»Nowadays Clancy Can’t Even Sing«). Auf der B-Seite war der zweite Songschreiber und der zweite Sänger der Band zu hören, Stephen Stills mit »Go And Say Good-Bye«. 1968 erschien Neil Youngs erstes Soloalbum, und auch hier, am Anfang, in Erwartung der ersten Plattenseite, ein Lied ohne Sänger, ein instrumental: »The Emperor Of Wyoming«. Und nach dem Umlegen der Vinyl-Platte dasselbe Spiel, man hört einen eigentümlichen Country-Song – ohne Stimme: »String Quartet From Whiskey Boot Hill«.
All dies waren keine Zufälle. Der Sänger Young kam aus dem Verborgenen. Obwohl seine Stimme zu einem eigenen Markenzeichen in der Geschichte der Pop- und Rockmusik wurde, war sie anfangs nichts wert. Und obwohl sie nicht wenig zur Bedeutung dieses neben Bob Dylan vermutlich einflussreichsten Rockmusikers beitragen konnte, hat er sie zunächst versteckt. »Seine Stimme war seltsam, zittrig«, erinnerte sich einer seiner ersten Produzenten, Ahmet Ertugan vom Plattenlabel Atlantic. »Er hatte nicht viel Zutrauen zu seiner Stimme«, gab sein zweiter Produzent Jack Nitzsche zu Protokoll. Er »hasste seine Stimme«, so erzählte es der Produzent seines ersten Soloalbums, Elliot Roberts, in den späten 1970er Jahren.
Kein Wunder, dass diese Beobachtungen auch das Bild des Sängers von sich selbst beeinflusst haben. Bereits nach den zweiten Plattenaufnahmen in einem kanadischen Radiosender soll ihn der Toningenieur beiseitegenommen haben: »Du bist ein guter Gitarrenspieler, aber du wirst es nie zu einem Sänger bringen.« Wenig später, bei Buffalo Springfield, als es immer wieder darum ging, welche Songs der Gruppe für die entscheidenden (und dann doch mäßig erfolgreichen) Singles ausgewählt werden sollten und wer auf den Alben wie oft mit eigenen Kompositionen vertreten sein durfte, habe sich kein Geringerer als der enge Freund Stephen Stills darüber beschwert, wie quietschend und piepsig (»squeaky«) Neils Stimme nun mal klingen würde.
Anders als Bob Dylan, dessen herber Gesang schon immer das ganze Selbstbewusstsein dieses Sängers verkörperte und der dieses Organ von Anfang an virtuos und für alle seine musikalischen Zwecke und Strategien einzusetzen wusste, begann der Sänger Young als Außenseiter, seiner selbst nicht sicher, von Kollegen und Kritikern beargwöhnt. »Neil hatte panische Angst vor dem Mikrophon«, und darüber habe sich auch niemand wundern können, so noch einmal Jack Nitzsche: »Diese ganze seltsame Sache mit seiner Stimme – all dies Zittern und Schütteln, man könnte meinen, der Kerl hat gerade einen Nervenzusammenbruch.« Heute markiert seine Stimme sowohl die Innigkeit von Folkballaden als auch die Vehemenz und Aggressivität der ganz großen, mit den elektrischen Gitarren wetteifernden Rock-’n’-Roll-Stimmen. Kurz: Er konnte nicht singen, und trotzdem wurde sein Gesang berühmt. Vielleicht ist deshalb der Weg dieses Sängers geradezu typisch für die Rockmusik selbst: für ihre Herkunft aus einer zunächst abseitigen und verborgenen Gegenkultur, für eine anfangs befremdliche Klangwelt, die in kurzer Zeit ihren Siegeszug über die ganze Welt angetreten hat.
Es gehört zu den Rätseln dieser an Rätseln nicht gerade armen Geschichte der Pop- und Rockmusik, warum Young also nicht trotz, sondern gerade wegen seines Gesangs zu einem Klassiker und einer großen Figur dieser Geschichte werden konnte. Man muss dabei gar nicht – wie Rockkritiker es natürlich getan haben – zu einem berühmten Vertreter der postmodernen Theorie, zu Roland Barthes’ Ausführungen über die »Körnung der Stimme« (»le grain de la voix«) greifen, nach der es nicht das Melodiöse, das technisch Brillante und Gekonnte einer Stimme ist, aufgrund dessen sie geliebt und bewundert wird. Es gehe vielmehr um ihre mit dem Körper geheimnisvoll verbundene, sich den Zuhörerinnen und Zuhörern mitteilende, nur schwer in Worte zu fassende Fleischlichkeit, eine stimmliche und jeweils regellos und einzigartig geformte Einheit von Leib und Seele. Youngs Gesang ist beileibe kein Liebhaberobjekt, vielmehr konnte seine Stimme die Bedeutung dieses Künstlers genau deshalb so genau repräsentieren, weil sie den Weg von der Peripherie ins Zen-trum, den Wechsel von Befremdung und überraschender Souveränität immer wieder neu vorführt. Ihr fast »außerirdischer« Klang habe sie paradoxerweise stark und intensiv gemacht, aber auch Neil Youngs Außenseitertum begründet, so hat es der Rock-Historiker Bob Hoskyns in seinem Buch über die kalifornische Musikszene der späten 1960er Jahre beschrieben.
Diese Stimme, sie gibt in der Tat Rätsel auf und lässt seltsam aufhorchen, »eigensinnig und zerbrechlich«, wie sie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in einem Essay zu umschreiben versucht hat:
»Sie kommt von weit her, aus den Tiefen der Seele. Sie gibt nicht auf. Es ist keine sehr männliche Stimme. Sie klingt ein wenig wie die einer Frau, eines Greises oder eines Kindes.«
Diese Stimme gehört »dem bis heute wohl schwächsten unter den schwachen Sängern«, so hat es Diedrich Diederichsen in seinem Standardwerk Über Popmusik (2014) noch einmal harsch hervorgehoben (und zugleich die Erfolgsgeschichte solch schwacher Stimmen nachgezeichnet).
»Neils Stimme ist eine Stimme und ist keine Stimme«, so formulierte es Bruce Palmer, der frühe Weggefährte und Bassist von Buffalo Springfield: »Sie ist ein Geheimnis, aber sie muss irgendeinen zelebralen Punkt in unserem Unbewussten treffen.« Und Young selbst? »Meine Stimme ist ein verdammtes Mysterium für mich. Ich habe verschiedene Stimmen in mir.« Handfester und praktischer wusste es Navid Kermani in seinem Buch Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002) zu berichten: Die Darmkoliken seiner neugeborenen Tochter konnten überraschenderweise nur durch die Stimme von Neil Young gelindert werden, noch dazu am besten mit einem seiner stimmlich fragilsten, most squeaky Lieder: »The Last Trip To Tulsa« (1968). Die beruhigende Wirkung, so sinniert auch Kermani, könnte von dem intra-uterinären, vorgeburtlichen Klang ausgelöst worden sein, einem ätherischen, von anderswo und von weit her kommenden Laut. »It’s a voice and it isn’t a voice.«
Der unerwartete Erfolg dieser Stimme, der verhaltene Seiteneinstieg des zunächst nur Gitarre spielenden Sängers und die alsbald unbestrittene Stärke und Bedeutung des von Neil Young verkörperten Gesangs: Etwas Ähnliches scheint sich bei dem Gitarristen Neil Young zu wiederholen. Technik und Bandbreite seines Gitarrenspiels, zumal im Vergleich mit seinen Zeitgenossen Eric Clapton, Jimi Hendrix oder Jimmy Page, seien durchaus begrenzt, so war und ist es häufig zu lesen. Und doch steht gerade dieser Sound – mit der akustischen und der elektrischen Gitarre – für eine eigentümliche Virtuosität und hat wie wenig andere über ein halbes Jahrhundert lang die Rockmusik geprägt: mit Riffs, Melodien und ohrenbetäubenden Gitarrensolos, mit kreischenden Rückkoppelungen und Pinch Harmonics (bei denen kurz mit dem Fleisch die Saite angeschlagen wird und ein quiekender oder pfeifender hoher Ton entsteht). Die dabei entstandenen Songs, Alben und Live-Konzerte wurden vor allem im symbiotischen Zusammenspiel mit seiner Band Crazy Horse einzigartig und unverwechselbar: »Southern Man«, »Like A Hurricane«, »Cortez The Killer«, Rust Never Sleeps oder »Rockin’ In The Free World«.
Die Stimme, das Gitarrenspiel, die beschwerlichen Anfänge in der kanadischen Provinz, aber auch das oftmals Skurrile von Neil Young, das nur bedingt Medientaugliche und so wenig Medienwirksame seiner Person – all dies macht seinen Erfolg als ein Zentralgestirn der Pop- und Populärkultur immer auch unwahrscheinlich und überraschend. Und genauso oft, wie er sich als ebenso berühmter wie historisch bedeutsamer Rockmusikkünstler hervorgetan hat, ist er auch immer wieder im Abseits des Musikbusiness gelandet. Nicht seine Stimme, auch die ihn treibende, oftmals als ›stur‹ bezeichnete egomanische Leidenschaft für zuweilen abseitige Musikrichtungen, für eigentümliche Filmproduktionen, kostspielige Hobbys (Young kaufte irgendwann die darniederliegende amerikanische Spielzeugeisenbahnindustrie im Alleingang auf), aber auch für technologische Großprojekte (eines konzentrierte sich auf umweltfreundliche Elektroautos, das andere auf ein gegen die gesamte Musikindustrie gerichtetes neues Aufnahmeverfahren namens Pono), die Regelmäßigkeit, mit der er seine Fans und Kritiker vor den Kopf stieß und deren Erwartungen enttäuschte – all das deutet nicht gerade auf einen umjubelten Rockstar, sondern eher auf einen eigenbrötlerischen Tüftler und Besessenen, einen Außenseiter und Hobbykünstler, der es vielleicht nur durch Zufall zu einiger Bekanntheit gebracht haben mag....