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E-Book

Porcelain

AutorMoby
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783492974455
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Aus einfachen Verhältnissen kommend zieht Moby in den 80ern vom Land nach New York und versucht in den ersten Jahren, zwischen Cracksüchtigen und Aids-Infizierten seine ersten selbst gemixten Kassetten an den Mann zu bringen. Nach seinem ersten großen Erfolg 1991 mit dem Track »Go« wird er von Musikern und Fans gleichermaßen verehrt und gefeiert. Er fängt an, in den angesagtesten Clubs aufzulegen und tourt von einem Rave zum nächsten. Zuvor jahrelang ein christlicher, enthaltsamer und anti-alkoholischer Veganer, stürzt er sich in ein Leben voller Alkoholexesse und Sex. Absolut offen und schonungslos beschreibt er diese Zeit - mit all ihren Höhenflügen und Selbstzweifeln - bis er 2001 kurz vor seinem größten Erfolg mit dem Album »Play« steht. Er lässt uns eintauchen in die vibrierende Welt der Raves und Clubs und das extreme Leben im New York der 90er.

Richard Melville Hall alias Moby ist Sänger, Songwriter, DJ und Fotograf. Seine Alben haben sich weltweit über 20 Millionen Mal verkauft. Er lebt mittlerweile in Los Angeles. Herman Melville ist sein Ur-Ur-Großonkel.

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Leseprobe

1 ZEHN QUADRATMETER


Um sieben Uhr gaben die Hähne endlich Ruhe.

Die leer stehende Fabrik von Stamford, in der ich lebte, wurde von vier wiederkehrenden Geräuschen heimgesucht.

  1. Schüsse. Die Crackdealer lieferten sich regelmäßig Schießereien, die meistens nach Sonnenuntergang begannen.
  2. Lauter Gospelgesang. Jedes Wochenende wurden vor den jamaikanischen und puerto-ricanischen Ladenkirchen gegenüber große Missionszelte aufgebaut, in denen die Crackdealer zur Umkehr bewegt werden sollten.
  3. Public Enemy. Oder EPMD. Oder Rob Base und DJ E-Z Rock. Alle paar Minuten fuhr draußen ein Auto vorbei, aus dem »Fight the Power« oder »It Takes Two« dröhnte, dass mein Toaster klapperte.
  4. Hahnenschreie. Sämtliche Nachbarn der alten Fabrik schienen in ihren Hinterhöfen Hähne zu halten. Die fingen morgens gegen halb fünf an zu krähen – genau dann, wenn ich mich schlafen legen wollte. Ich hatte ein altes Radio neben meinem Bett, das ich zwischen zwei Sender einstellte, wenn ich schlafen wollte. Das Rauschen übertönte gerade so die morgendlichen Balzgesänge der Hähne.

Ich war zwei Jahre zuvor in die alte Fabrik gezogen und fühlte mich dort wohl. Im 19. Jahrhundert waren in den zwanzig oder dreißig gigantischen Ziegelhallen Türschlösser hergestellt worden. Jetzt, 1989, war die Fabrik nur noch eine finstere Burg in einem Viertel mit der höchsten Mordrate von ganz Neuengland. Ein Jahrzehnt zuvor hatte ein Immobilienspekulant den ganzen Komplex aufgekauft, eingezäunt und Wachleute davorgestellt, die darauf aufpassen sollten.

Einige der Wachleute besserten ihr Gehalt auf, indem sie Obdachlose und Hausbesetzer für 50 Dollar im Monat in den leer stehenden Gebäuden wohnen oder arbeiten ließen. Ich verdiente im Jahr an die 5000 Dollar, sodass ich mir diese »Pennermiete« gerade so leisten konnte. Ich hatte nur eine kleine Nische zwischen einem Produktionsstudio von Schwulenpornos und einem Künstleratelier, aber diese Nische war mein: Zehn Quadratmeter, auf denen ich leben und arbeiten konnte, solange die Wachleute ihre 50 Dollar einsteckten und wegschauten.

Die Wände meines Studios hatte ich aus alten Spanplatten zusammengezimmert, die mein Freund Paul und ich aus einem Müllcontainer gefischt hatten. Paul und ich hatten uns in der Highschool von Darien, Connecticut kennengelernt und uns angefreundet, weil wir beide Science-Fiction-Fans und die einzigen Armen der ganzen Schule waren. Meine Wände sahen aus wie braune Wolldecken, und in der sommerlichen Hitze sonderten sie einen widerwärtigen Gestank ab, der an den Müllcontainer erinnerte, aus dem wir sie gezogen hatten. Außerdem hatte mein Studio eine hübsche und stabile Tür, die wir aus einem leer stehenden Haus in der Nähe der Route 7 in Norwalk gerettet hatten, und auf dem Boden lag ein dicker beiger Teppich, den ich aus der Garage der Eltern eines Freundes hatte mitgehen lassen. Sie hatten mir zwar nicht erlaubt, ihren Teppich mitzunehmen, aber ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich mir sagte, dass ich ihn zurückgeben würde, sobald sie seine Abwesenheit bemerkten. Obwohl ich keinen Staubsauger hatte, blieb der Teppich auf unerklärliche Weise makellos.

Auf einem kleinen Schultisch hatte ich mein Casio-Keyboard, meinen Alesis-Drumcomputer, mein vierspuriges TASCAM-Mischpult und einen schauderhaften Yamaha-Sampler aufgebaut. Weil ich mir keine Boxen leisten konnte, hörte ich meine Sachen über einen Kopfhörer von Radio Shack. Mein Essen kochte ich auf einer elektrischen Kochplatte und in einem Tischbackofen. Aber ich war zufrieden. Ich liebte die zerbröselnden Backsteine, die schweren Fabrikdüfte eines ganzen Jahrhunderts und mein großes, nach Süden hinausgehendes Fenster, durch das im Winter ein fahles Licht hereinfiel und im Sommer glühend die Sonne brannte.

Die Fabrik muss ungefähr zehn Hektar groß gewesen sein. Sie war so riesig, dass ich keine Ahnung hatte, wie viele Menschen dort lebten. Ich wohnte zwar nur auf zehn Quadratmetern, doch ich hatte Zugang zum gesamten Gelände. Manchmal düste ich mit dem Motorrad meines Freundes Jamie durch die leeren Hallen oder spielte Motorrad-Bowling: An einem Ende einer Halle stellte ich Flaschen auf und versuchte, sie mit den Rädern des Motorrads umzukegeln. Wenn mir langweilig war, unternahm ich Erkundungsgänge, auf denen ich alte Gasflaschen, Fässer mit Industriechemikalien, riesige verrostete Schraubenschlüssel, Trommeln mit Stahlkabeln und hin und wieder eine tote Taube fand.

Freunde und Verwandte, die mich besuchten, waren entsetzt. Als einmal mein fünfjähriger Cousin Ben mit meiner Tante Anne vorbeischaute, blieb er in der Tür meines kleinen Raums stehen und rief: »Das ist ja schrecklich!« Ich stank wie ein Penner, und obwohl ich ein Dach über dem Kopf hatte, war ich im Grunde auch einer. Ich hatte kein fließendes Wasser, kein Klo, keine Dusche und keine Heizung, aber der Strom war umsonst, und mehr braucht man nicht, um Musik zu machen.

Zum Pinkeln benutzte ich eine leere Wasserflasche. Ohne Bad duschte ich mich nur einmal pro Woche bei meiner Mutter oder bei meiner Freundin im Studentenwohnheim. Deswegen stank ich, aber das machte mir nichts mehr aus. An meinem Leben in der alten Fabrik fand ich einfach alles genial.

Oder fast alles. Weniger genial war die Tatsache, dass ich seit Jahren an meiner Musik arbeitete und immer noch in einer Kleinstadt in sechzig Kilometer Entfernung zu New York City lebte. Oder dass sich kein Plattenlabel für meine elektronische Musik interessierte. Oder dass außer meiner Freundin niemand meine Musik gehört hatte. Aber abgesehen davon, dass ich davon träumte, in Manhattan zu leben und Musik zu machen, war die alte Fabrik perfekt.

Meistens stand ich gegen Mittag auf, kochte Haferflocken auf meiner Kochplatte, las in der Bibel und arbeitete an meiner Musik. In meinen Pausen fuhr ich mit dem Skateboard die langen, leeren Gänge einer der Fabrikhallen auf und ab oder ging in einen dominikanischen Laden um die Ecke, wo ich Haferflocken und Rosinen kaufte.

Aber heute fuhr ich nach New York City, mein schmutziges Mekka. Ich hatte verschiedene Möglichkeiten, nach New York zu kommen. Manchmal fuhr ich mit meinem alten Moped zu meiner Mutter nach Darien und lieh mir ihren alten Chevrolet. Dann folgte ich der Route, auf der ich als Achtjähriger mit meinem Großvater in die Stadt gefahren war: Er hatte mir eine mautfreie Strecke dorthin gezeigt, die allerdings durch die schlimmsten Banden- und Drogenviertel der Stadt führte.

Hin und wieder konnte ich bei Freunden mitfahren. Aber meistens nahm ich den Pendlerzug Metro-North. Mit diesem Zug war ich als Jugendlicher oft aus Connecticut nach Manhattan geflüchtet. In unseren besten Band-T-Shirts waren meine Punk-Freunde und ich in die Stadt gefahren, in der Hoffnung, dass uns echte Punks entdecken und unsere Black-Flag- und Bad-Brains-T-Shirts gut finden würden. Morgens hatten wir auf dem Weg nach Manhattan neben müden weißen Angestellten gesessen, und abends auf dem Rückweg saßen wir zwischen denselben Angestellten, die jetzt erschöpft oder betrunken waren.

Wenn Polizisten in der Nähe waren, wenn ich die Fabrik verließ, kletterte ich aus einem der riesigen Fenster, um nicht angehalten zu werden. Aber heute rumpelte nur ein Lastwagen durch die Straße und ich verließ das Gebäude durch das große Tor. In der Kälte krampfte sich mein Körper zusammen. Es war eine feuchte Kälte, die einem in die Knochen fährt und die Socken gefrieren lässt. Drei Tage zuvor hatte es geschneit, und die Erde war von einem engelhaft weißen Tuch bedeckt gewesen, doch das hatte sich rasch unter dem gefrierenden Regen aufgelöst. Unter einem bleiernen Himmel ging ich über den Parkplatz und suchte mir einen Weg durch ein Labyrinth aus Schlaglöchern und Pfützen. Am Zaun des Geländes angekommen, kroch ich durch ein Loch in einer Ecke und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.

Unterwegs kam ich an Ladenkirchen mit ihren handgemalten Schildern vorüber. Ein Lebensmittelgeschäft mit Panzerglasscheiben hatte Schlitz-Dosenbier im Sonderangebot. Es folgten ein Billardsalon und einige verlassene und verrammelte Gebäude. Schon nach wenigen Minuten hatte ich eisige Hände und Füße. Die paar Passanten, denen ich auf der Straße begegnete, sahen aus wie Obdachlose. Scheu blickten sie dem verwahrlosten weißen Jungen nach, der durch ihr Viertel ging.

Da der nächste Zug zur Grand Central Station von Manhattan erst in einer halben Stunde ging, machte ich unterwegs im Billardsalon halt und spielte allein eine Runde Pool. Der Raum war düster und wurde nur von ein paar Funzeln über den fünf Billardtischen erleuchtet. Aber selbst in diesem Dämmerlicht waren die Brandflecken und Narben nicht zu übersehen, die Zigarettenstummel und verschüttete Bierreste vieler Jahrzehnte hinterlassen hatten. Außer mir war an diesem Mittag nur ein Mann im Salon, der allein an einem Tisch spielte, und natürlich der Typ, bei dem ich für 1,50 Dollar den Queue und die Kugeln bekam. Obwohl ich ein mäßiger Spieler war, schaute ich auf dem Weg zum Bahnhof oft im Billardsalon vorbei. Ich tröstete mich damit, dass das Spiel zu schnell zu Ende wäre, wenn ich besser spielen würde. Wie so oft hat Mittelmaß auch seine Vorteile.

Wie immer hing dichter Zigarettenqualm im Billardsalon. Obwohl ich Nichtraucher war, machte mir das nichts mehr aus: Ich arbeitete in Kneipen, in denen alle rauchten, und aß in Lokalen, in denen alle rauchten. Außer mir befanden sich zwar nur noch zwei Menschen im Raum, doch es schien mir völlig normal, dass ich kaum durch die Rauchschwaden hindurchsehen konnte.

Ich...

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