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E-Book

Reckless

Mein Leben

AutorChrissie Hynde
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783641185992
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Eine starke Frau
In ihrer ungewöhnlich ehrlichen Autobiografie schreibt Chrissie Hynde über ihre kleinstädtische Jugend in den Fünfzigerjahren, ihr musikalisches Coming-of-age in den Sechzigerjahren, das Kent-State-University-Massaker, dessen Zeuge sie wurde, die Siebzigerjahre-Punk-Ära in London, die mit der Gründung ihrer legendären Band The Pretenders endete. Mit mehreren Nummer-eins-Alben und -Singles stiegen die Pretenders zu einer der erfolgreichsten Bands der Achtzigerjahre auf. Die Band musste aber auch schwere Niederschläge einstecken, zwei Mitglieder starben an ihrer Drogensucht.



Chrissie Hynde, geboren am 7.9.51 in Akron, Ohio. Mitte der Siebzigerjahre zog sie nach London, wo sie als Journalistin und Model arbeitete, bevor sie 1978 die Pretenders gründete, mit denen sie als Sängerin, Gitarristin und Songwriterin zahlreiche Hitsingles und Chartsalbum produzierte. Immer wieder arbeitete sie mit Größen wie Frank Sinatra, UB40 oder Sheryl Crow zusammen. 2014 erschein ihr erstes Soloalbum. Darüber hinaus ist sie unermüdlich als Tierschutzaktivistin und Vorkämpferin für Vegetarismus im Einsatz. Sie hat zwei Töchter und lebt heute in London.

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Leseprobe

DIE WUNDERSCHÖNEN BÄUME

Das Erste, was mir einfällt, sind nicht die Gummireifen, die Autos oder die Fabriken – sondern die Bäume, und sie werden meine Erinnerung für immer beherrschen.

Am Anfang war der Kirschbaum. Er hatte auf mich gewartet. Bäume haben Persönlichkeiten; ganz feine nur, aber selbst ein Baby kann sie spüren. Das Haus stand in der Hillcrest Street – wie der Name schon sagt, oben auf der Kuppe eines Hügels. Die Straße an sich war mit roten Steinen gepflastert. Wenn ein Auto darauf entlangfuhr, dann gab es ein ganz bestimmtes Geräusch, wie ein Spanier, der das R rollt. Ich liebte dieses Rattern, und ich liebte dieses Haus, das blau gestrichen war wie so viele Häuser in Akron. Es hatte eine überdachte Vortreppe, auf der man sitzen konnte, wenn es regnete. Ich liebte auch den kleinen Teich in Onkel Harrys Garten nebenan. Vor allem aber liebte ich den Kirschbaum.

Melville und Dolores, Bud und Dee genannt, Mr. und Mrs. M.G. Hynde. Akron, Ohio: Rubber City, die Gummistadt, die Autoreifenstadt. So lauteten die verschiedenen Namen der drei Elternteile, die mich aufzogen: Vater, Mutter, Heimatstadt.

Vater: blaue Augen, Uniform der US-Marines, Mundharmonika spielend. Hob mich so hoch in die Luft, dass ich die Decke hätte berühren können.

Mutter: perfekte Fingernägel, Elizabeth-Taylor-Frisur, rotweiß gestreiftes Kleid, makellos.

Heimatstadt: Straßen, Bäume, Bäche, die Jahreszeiten von Ohio. Alles, was ich wissen musste, habe ich von euch dreien gelernt.

Meine Mutter stammte aus Summit Lake. Ihr Vater, Jack Roberts, war Polizist in Akron gewesen. Ihre Mutter Irene, eine Näherin, spielte in der Presbyterianerkirche von Margaret Park Klavier. Es war ihr Haus, in das sie mich brachten, als meine Familie mich im September 1951 aus dem People’s Hospital abholte.

Wenn man sich im Sommer in Akron vergnügen wollte, dann fuhr man nach Summit Lake, wo man ein Boot mieten oder Karussell fahren konnte. Hier trafen sich Bud und Dolores die ersten Male. Dass sie sich begegneten, war gewissermaßen zwangsläufig: Seine Schwester Ruth hatte ihren Bruder Gene geheiratet.

In späteren Jahren beschäftigte sich mein Vater viele Stunden lang mit dem Familienstammbaum der Hyndes. Nachdem ich einen Schotten geheiratet hatte, arbeitete er sich sogar durch die standesamtlichen Archive im Rathaus von Edinburgh. (Ja, da läuft er durch die Kopfsteinpflasterstraßen, mein Dad, in Bermudashorts und Hush Puppies, den Blick immer nach oben gerichtet.) »Schottland – Heimat des Golfs«, wie es so schön auf dem Geschirrhandtuch hieß, das er von mir geschenkt bekam und über seiner Werkbank in der Garage aufhängte. Wenn er dort seine eigenen Golfschläger fertigte, lief im Radio die Polizeikapelle.

»Oh, Bud, wieso hörst du das bloß?« – Meine Mutter. Sie fand jede Art von Hinterwäldlertum schrecklich.

»Also, Christy, wissen deine Nachbarn, dass ihr Schotten seid?«, fragte er jedes Mal laut, wenn er mich später in London besuchte.

»Das interessiert sie nicht, Dad. Sie sind aus Griechenland.«

Der Trend, sich mit der Herkunft der eigenen Familie zu beschäftigen, kam erst in den Siebzigerjahren auf. Vorher war es schlicht so: Wenn man nicht einer ethnischen Minderheit angehörte und beispielsweise Afrikaner, Italiener oder Jude war, dann war man einfach Amerikaner. Latinos oder Asiaten gab es bei uns im Norden nicht. Wir sahen so aus – und hörten uns auch so an – wie die Figuren aus Westernserien: Have Gun – Will Travel, Tombstone Territory oder Westlich von Santa Fé. (Ich konnte alle Titelsongs auswendig). Weiße Europäer. Wir hatten hier das Sagen. Erst später, mit fünfzehn, begann ich mich zu fragen, wo die Hyndes herkamen. Und die Craigs, die Roberts und die Joneses. Meinem Vater zufolge waren »die« – oder vielmehr »wir« – aus Schottland eingewandert und dann über Nova Scotia weiter nach Ohio gezogen. Seine Theorie war: »Also, eigentlich wurden wir H-Y-N-D geschrieben; das E war zuerst nur ein Schnörkel am Ende!« (Die meisten seiner Sätze begannen mit »also«.) Ich glaube, mit »Schnörkel« meinte er die verschlungene Schrift, die man früher benutzte. Diesen Satz habe ich ihn bestimmt fünfzigmal sagen hören.

Die Familie meiner Mutter stammte aus Caerphilly in Wales und hatte, wie es von walisischen Bergarbeitern zu erwarten war, Arbeit in den Kohlegruben im Süden von Ohio gefunden. »Wales? Wo zur Hölle ist das denn? Ist das überhaupt ein Land?«

Meine Großmutter Irene war adoptiert worden, ebenso wie ihre Brüder und Schwestern – Edna, Glovina und Louie. Warum, weiß ich nicht; leider habe ich meine Mutter nie gefragt, als ich noch Gelegenheit dazu hatte.

Meine Großeltern mütterlicherseits, der Polizist und die Näherin, ließen sich scheiden. Auch hier habe ich nie nachgefragt. Damals waren Scheidungen höchst ungewöhnlich. Meine Mutter hätte sowieso nicht darüber gesprochen. Es gibt wahrscheinlich vieles, das ich nie erfahren werde, aber das ist wohl in allen Familien so.

Bevor sie heiratete, ging meine Mutter nach New York und arbeitete dort als Fotomodell. Wahrscheinlich habe ich nie richtig zu würdigen gewusst, was für ein kühner Schritt das in der damaligen Zeit für ein Mädchen gewesen sein muss. Amerika war zwar das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, aber in Familien wie der unseren merkte man damals nicht viel davon. Heute verstehe ich, woher ihre Vorliebe für einen gewissen Glamour kam. Immer ultramodern. Dann wurde sie Ehefrau und Mutter, wie jede andere Frau in ihrem Umfeld auch.

Als ich acht wurde, fing sie wieder an, als Sekretärin zu arbeiten. Dennoch kochte sie stets das Abendessen und erledigte die Hausarbeit. Dass ich mich barfuß an den Tisch gesetzt hätte, kam nicht infrage. Sie führte ein strenges Regiment.

Bis zu ihrem Tod wohnte auch Oma Roberts bei uns. Sie tauschte ihre kleine Wohnung in North Hill, wo sie allein gelebt hatte, seit wir aus Hillcrest weggezogen waren, gegen ein Zimmer in unserem neuen Haus in der Stabler Road. Als ich zehn war, bekam sie beim Abendessen einen Herzinfarkt. Ein Krankenwagen kam und holte sie ab. Wir sahen sie nie wieder. Was mich dabei am meisten schockierte, war meine Mutter, die immer wieder »O Gott, o Gott, o Gott« hervorstieß. So hatte ich sie noch nie reden hören. War das schon Fluchen? Nein, das war nicht möglich. Wir durften nicht fluchen.

Meine andere Oma – Großmutter Hynde – war die letzte ihrer Generation. Sie verbrachte ihre letzten Tage in einem Altersheim mit Bingospielen. Ostern fuhren wir immer zu ihrem Haus in Tallmadge und verbrachten den Tag mit Tante Ruth und Onkel Gene und unseren doppelten Cousins und Cousinen Dave, Dick und Marianne, fünf Kinder, die sich beide Großelternpaare teilten. Nein, solche Familienverhältnisse hatten nichts mit Hinterwäldlertum zu tun. Sonst hätte sich meine Mutter nie darauf eingelassen.

Oma Hynde hörte Baseball im Radio und war eine absolute Meisterin im Lösen von Kreuzworträtseln. Damals setzte sich in den USA der neue Trend durch, dass man nicht mehr mit seinen alternden Eltern zusammen unter einem Dach wohnte. Das war nicht modern.

Mein Bruder Terry spielte Klarinette. Die Kinder in unserer Straße nannten ihn deswegen Benny, nach Benny Goodman. Später sattelte er um auf Saxophon und wurde einer der besten Saxophonisten, die ich je erlebt habe. Er ist der wahre Musiker in unserer Familie, nicht ich. Das einzige Mal, dass ich ihn in Ehrfurcht vor einem Star wie versteinert erlebte, das war, als ich ihn Neneh Cherry vorstellte: »Sie ist die Tochter von Don Cherry!« Terry brachte kaum ein Wort heraus.

Von dem Leben, das jenseits von Akrons grünem Gürtel lag – von den Lagerhäusern, Fabriken, Tälern, Bächen und Wäldern, die sich im Wandel der Jahreszeiten so dramatisch veränderten – hatte ich keine Vorstellung. Ich war der festen Überzeugung, dass jede Stadt rot gepflasterte Straßen hatte und jedes vierte Haus blau angestrichen sein musste.

So war das, als Akron der Mittelpunkt des Universums war.

Dreißig Jahre zuvor waren Akron und Washington, D. C., die am schnellsten wachsenden Städte in den USA gewesen. Washington hatte das Weiße Haus. Akron war die Gummihauptstadt der Welt, in der alle großen Reifenkonzerne ihren Sitz hatten – Goodyear, Goodrich, Firestone, General, Mohawk, Ace.

Fast jeder arbeitete in einem dieser Werke, darunter auch mein Großvater (Leonard) Hynde, der bei Goodyear Tire & Rubber beschäftigt war. Tausende von Menschen aus West Virginia zogen nach Akron, um in der Gummiindustrie Arbeit zu finden. Schließlich waren es so viele, dass man Akron die Hauptstadt von West Virginia nannte.

Wenn man in Akron die Main Street entlangging, dann hatte man entweder den würzigen Geruch von Haferflocken in der Nase, der von den Silos der Quaker-Oats-Fabrik stammte, oder den beißenden Gestank, der von einer der Gummifabriken herüberzog. Es ist dieser ganz spezielle Duft, wie er auch entsteht, wenn man mit einem frisierten Auto die Reifen durchdrehen lässt, und typisch für Akrons Blütezeit. Wir waren groß und wichtig, bekannt für unseren Gummi und das Seifenkisten-Derby, bei dem einmal im Jahr Kinder aus dem ganzen Land ihre selbst gebastelten Flitzer präsentierten und darum wetteiferten, wer am schnellsten den Hügel hinunterschoss und sich unter nationaler Anteilnahme die Trophäe sicherte.

Einerseits florierte die Industrie, andererseits gab es Richtung Süden, Osten und Westen auf Hunderten von Kilmeter fruchtbares Ackerland. Die...

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