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Ruhe, Fortschritt und Glück

Die kulturelle Konstruktion von Emotionen in einer yukatekischen Maya-Gemeinde

AutorChristian W. R. Klingler
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783744884129
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Wie erlangen Emotionen ihre Bedeutung für unser Dasein? Wonach streben wir und was bedeutet es, glücklich zu sein? Anhand einer ethnographischen Studie bei den Yukatekischen Maya im südlichen Mexiko geht der Autor diesen Fragen nach und deckt dabei die kulturelle Einbettung menschlicher Emotionalität auf. Die dichten Beschreibungen und Analysen lassen erkennen, dass Emotionen durch kulturelle Prozesse geformt werden und auf diese Weise ein komplexes Orientierungssystem bilden, das den einzelnen emotional in sein jeweiliges kulturelles und soziales Umfeld einbindet. In Zeiten gesellschaftlicher Wandelprozesse, so wird am Beispiel der Maya-Gemeinde deutlich, können diese integrativen emotionalen Strukturen jedoch aufbrechen und zu einer konfliktiven Neuausrichtung des Emotionalen führen. Die emotional fundierten Verhaltensweisen der Bewohner entfalten sich dabei im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach persönlichem Fortschritt und sozialem Aufstieg sowie der Sehnsucht nach Gemeinschaft und einem kooperativen Miteinander.

Christian W.R. Klingler ist Kultur- und Sozialanthropologe. Er promovierte an der Abteilung für Altamerikanistik und Ethnologie der Universität Bonn.

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Leseprobe

2.1 Die Anfänge der Emotionsforschung

2.1.1 Von der Antike bis zur frühen Neuzeit

Im zweiten Buch seiner Rhetorik4 beschäftigt sich Aristoteles in weiten Teilen mit der Frage, welche Rolle Emotionen bei der Kunst des Redens zukommt. In diesem Zusammenhang geht er ebenso auf die Entstehung und Interpretation verschiedener Emotionen ein. Um eine Emotion wie beispielsweise Ärger zu verstehen, müsse man, so Aristoteles, folgende Punkte berücksichtigen:

»In welcher Gemütsverfassung befinden sich Zornige? Wem zürnen sie gewöhnlich? Worüber sind sie erzürnt? Wenn wir nämlich eine oder zwei dieser Fragen zu beantworten verstehen, nicht aber alle drei, so können wir wohl unmöglich jemanden in Zorn versetzen« (Aristoteles 1999: II,1.9).

Wenngleich Aristoteles Emotionen in seiner Abhandlung auch eine physische Komponente zuspricht, so lässt sich an diesem Zitat erkennen, dass für ihn Überzeugungen und Beurteilungen, also bewusste mentale Aktivitäten, von primärer Wichtigkeit sind. In den folgenden Kapiteln (II,2.1-27) macht Aristoteles zudem deutlich, dass für ihn die Intentionalität (man ärgert sich über etwas, beispielsweise die beleidigenden Worte einer Person) sowie der konkrete soziale Kontext (man ist verärgert, da eine Person von niedrigem sozialen Rang eine beleidigende Bemerkung in Anwesenheit von Mitgliedern der eigenen sozialen Bezugsgruppe gemacht hat) eine ebenso wichtige Rolle spielen. In seiner Analyse der Wut räumt Aristoteles darüber hinaus dem Wunsch nach Vergeltung einen zentralen Stellenwert ein, womit er Emotionen eine handlungsmotivierende Komponente zuspricht. Diese Handlungen sieht er dabei stets in einen sozialen Bezugsrahmen eingebettet:

»Zorn ist also ein von Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen dies nicht zusteht, zugefügt wurde. Ist das also Zorn, dann zürnt notwendigerweise der Zürnende immer einer individuell bestimmbaren Person, z.B. dem Kleon, und nicht der Menschheit allgemein, weil dieser ihm oder einem der Seinen etwas angetan hat oder antun wollte, und mit dem Zorn geht notwendigerweise eine gewisse Lust einher, die der Hoffnung auf Vergeltung entspringt« (Aristoteles 1999: II,2.1-2).

Die theoretischen Überlegungen Aristoteles liefern damit vielfältige Ansatzpunkte für eine kultursensible Erforschung emotionaler Phänomene, denn Bewertungen und Beurteilungen von Situationen beruhen immer auch auf den kulturellen Konzeptionen, die einer Person diesbezüglich zur Verfügung stehen. Ebenso sind die daraus resultierenden Handlungsmuster, aufgrund unterschiedlicher Wert– und Normvorstellungen, kulturell geprägt, sowie das soziale Umfeld, in welchem diese Handlungen vollzogen werden, von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich strukturiert. Es ist daher umso erstaunlicher, dass Fragen nach dem Einfluss kultureller und sozialer Faktoren auf das emotionale Erleben und Handeln von Individuen bis in die jüngste Vergangenheit hinein keinen Eingang in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionen fanden.

Ausschlaggebend hierfür sind tief in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelte Denkmodelle, welche Emotionen außerhalb der Reichweite menschlicher Handlungsfähigkeit platzieren. Bereits zu Aristoteles Zeiten war die Vorstellung verbreitet, dass es sich bei Emotionen um äußere Mächte handelt, welche den Menschen überwältigen und ihm die Kontrolle über seine Handlungen entziehen. So wurden Emotionen in der griechischen als auch römischen Gesellschaft mit Göttern gleichgesetzt, die kurzzeitig die Macht übernehmen (Nichols und Staupe 2012: 24). Wenn sich eine Person beispielsweise verliebte, so hatte sie der Pfeil des Eros getroffen5. Wenn auch die Vorstellung von Emotionen als besitzergreifenden Mächten in den folgenden Jahrhunderten unverändert weiter existierte, so änderten sich die Figuren, als sich die katholische Glaubenslehre im frühen Mittelalter in Europa verbreitete. Mit Blick auf den Sündenfall wurden Emotionen nun oftmals als bösartige Wesen beschrieben, welche den Menschen überfallen. Zunehmend sah man Emotionen in ewig lauernden Raubtieren verkörpert. Aus diesem Grund finden sich in mittelalterlichen Darstellungen vielfach Heilige, welche wilde Tiere bändigen (Abb. 2). So sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass diese gefährliche Emotionen kontrollieren und damit ein tugendhaftes Leben ermöglichen. Mit der Zeit entstand so eine von Ungeheuern und Dämonen durchwanderte Bildsprache der Emotionen, welche das abendländische Denken nachhaltig prägte (Nichols und Staupe 2012: 24).

Abb. 2: links: »Maria mit dem Kind und der Meerkatze«, Albrecht Dürer, Kupferstich von 1497. Zu Füßen Marias und dem Jesuskind ist eine Meerkatze als Symbol der Eitelkeit, Lüsternheit und weltlichen Begierde an einen Holzpflock gekettet. Rechts: Darstellung des »Zorns« als eine der Todsünden im Heidelberger Bilderkatechismus, um 1455, 104v. Um den Mann, der sich einen Dolch durch den Leib stößt, ranken sich eine dreiköpfige Schlange, ein Skorpion sowie eine hundeähnliche Kreatur. Das umlaufende Schriftband besagt: »Ich byn genant grym vn zorn wer mich nicht austreibet d wirt ewig v sein«.

Einen entscheidenden Einfluss auf den abendländischen Emotionsdiskurs hatten ebenso die Arbeiten des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650). Zusammen mit Galileo Galilei, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz gehört Descartes zu den zentralen Figuren der sogenannten Wissenschaftlichen Revolution, in deren Gefolge sich die modernen Naturwissenschaften herausbildeten (Wußing 2002: 62-69). Sein Weltbild war getragen von einer auf Vernunft gegründeten Philosophie, weswegen Descartes auch als Begründer des modernen Rationalismus gilt (Russell 1946: 580). Als Naturforscher und Mathematiker6 war Descartes fasziniert vom »natürlichen Licht der Vernunft« und der Eigenständigkeit des menschlichen Geistes, welchen er als gesonderte »Substanz« vom Körper abtrennte (Descartes 1641: III, 7). Den Körper betrachtete Descartes hingegen als rein mechanischen Apparat, der, wie alle anderen Phänomene in der Natur, nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung funktionierte. Der Geist sei es, der den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheide und es ihm ermögliche, allein durch Denken und logisches Schlussfolgern Erkenntnis zu erlangen.

In seinem Hauptwerk Meditationes de Prima Philosophia (1641) propagierte Descartes schließlich mit der strikten Trennung von Körper und Geist ein dualistisches Modell des menschlichen Daseins, wodurch er die wissenschaftliche Diskussion über Themen wie Emotionen in den folgenden Jahrhunderten maßgeblich prägte. Der nach ihm benannte Kartesianische Dualismus führte in der Folge zu einer Verortung von Emotionen im menschlichen Körper, denen die Vernunft sowie die Rationalität des Geistes gegenübergestellt wurde. Als natürliche, im Körper aufzufindende Kräfte, lagen Emotionen damit außerhalb des Interesses sowie der methodischen Möglichkeiten der Sozial– und Kulturwissenschaften und entwickelten sich stattdessen zu einem prominenten Forschungsfeld der Naturwissenschaften (Hinton 1999a: 2).

2.1.2 Charles Darwin und die evolutionspsychologische Forschungstradition

Einen maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung hatte der britische Naturforscher Charles Darwin, welcher mit seinem Werk The Expression of the Emotions in Men and Animals (1872) die naturwissenschaftliche Emotionsforschung Mitte des 19. Jahrhunderts begründete. In seiner Arbeit sprach Darwin Emotionen eine adaptive Bedeutung in der evolutionären Entwicklung des Menschen zu und verankerte die Erforschung emotionaler Phänomene damit in der evolutionspsychologischen Forschungstradition7. Darwin nahm an, dass sowohl verbale als auch non-verbale emotionale Ausdrucksformen Teil eines angeborenen Reaktions– und Rückmeldungssystems sind, welches Intentionen in sozialen Interaktionen signalisiert (Darwin 1872: 348-67). So zeigen wir Wut mit gerunzelten Augenbrauen, freiliegenden Zähnen und angespannter Nasenpartie, da diese Mimik Teil einer Angriffsreaktion ist (Abb. 3).

Emotionen kommt damit eine wichtige kommunikative Funktion in sozialen Gefügen zu. Darüber hinaus setzen Emotionen den Organismus in Handlungsbereitschaft und lösen prototypische Verhaltensmuster aus, die dabei helfen, den Grundbedürfnissen des Lebens zu genügen und so das Überleben eines Individuums sichern (Darwin 1872: 348-67). Wie einst Aristoteles, so spricht damit auch Darwin Emotionen eine handlungsmotivierende Komponente zu (vgl. Kapitel 2.1.1). Im Gegensatz zu Aristoteles sind diese Handlungen jedoch in keinen konkreten sozialen Bezugsrahmen eingebettet, sondern stellen vielmehr autonome Reaktionsmuster dar, die sich im Laufe der Evolution als vorteilhaft erwiesen haben. So schreibt Darwin (1872: 243) in seiner...

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