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E-Book

Sie werden lachen. Mein Mann ist tot

Ein Überlebensbuch

AutorPetra Sadkowsky
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641151041
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Dieses Buch stellt sich der Sterblichkeit und feiert das Leben
Ein Mann stirbt, plötzlich und unerwartet, stürzt an einem Ostersonntag vom Fahrrad und die Welt endet. Petra Mikutta erzählt diese Geschichte von ihrer Liebe und ihrem Verlust auf einzigartige Weise. In einem Buch, das keiner, der es gelesen hat, vergessen wird: Denn der jederzeit mögliche Tod und alles Schmerzliche, das die Autorin beschreibt, wird überstrahlt vom hellen, schönen Leuchten unserer Verbindungen zu denen, die wir lieben.

Petra Mikutta, geboren 1960, studierte Architektur und schreibt als Journalistin und Autorin für zahlreiche Magazine, u.a. Architektur & Wohnen, Brigitte, Für Sie, Stern und Geo Saison. Sie hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Hamburg.

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Leseprobe

EINS
Vierter Monat und der erste Tag.

Sie atmet. Sie lebt. Meine 22 Jahre alte Tochter schläft neben mir im Doppelbett. Sie hat mir das Gesicht zugewandt, zutraulich und trotzig sieht es aus, unfassbar jung. Ich berühre ihre Nasenspitze mit dem Zeigefinger. Es ist eine ängstliche Geste, denn ich fürchte diese gewaltige Liebe zu ihr.

Meine Tochter wird sterben.

Es besteht die Chance, dass ich ihren Tod erleben werde, vielleicht schon bald. Es ist möglich, dass, in einer Stunde oder jetzt, ihr Herz aufhört, zu schlagen, dass ihre Nasenflügel einfallen, dass ihre Finger und Füße gefrieren.

Zwar spricht die Wahrscheinlichkeit dagegen. Sie ist gesund und befindet sich mit ihrer Mutter in einem Wiener Hotelzimmer der gehobenen Kategorie. Aber ich habe das Vertrauen in das Wahrscheinliche verloren, denn ich habe genau das erlebt: den plötzlichen Tod eines gesunden, geliebten Menschen. So niederträchtig haben Statistik und Schicksal mich betrogen, dass ich beim Gedanken daran aufhöre, zu atmen.

*

Mein Mann starb am Ostersonntag, vor gut vier Monaten, ziemlich genau um 19 Uhr. Ich trat zögerlich in die Pedale meines Hollandrads und schlingerte auf dem Radweg herum, denn ich hielt den Lenker nur mit einer Hand. Mit der anderen versuchte ich, online eine Personenwaage zu ersteigern. Sie sollte der erste Schritt zu einer schmaleren Hüfte sein.

Wenige Kilometer entfernt radelte er. Etwa zur selben Zeit, als es mir ohne Absteigen gelungen war, das supercoole Retro-Stück in Knallorange einem zähen Mitbieter vor der Nase wegzuschnappen, explodierte im Körper meines Mannes eine Zeitbombe.

Nein, kein Vogel, der aufkreischte, kein Donner aus heiterem Himmel, nicht einmal ein Autohupen oder ein plötzlicher stechender Schmerz, etwa in der Wade. Der Geist meines Mannes schickte kein Zeichen, wie ein halbwegs anständiger Geist in Romanen oder Filmen, und ich hatte keine Ahnung, nicht die leiseste. Ich war in dem Moment vielmehr sehr zufrieden mit mir. Schlau war ich gewesen. Ich hatte den Handy-Timer gestellt, um das Auktionsende nicht zu verpassen.

Ich trat kräftig in die Pedale, denn ich wollte mich so schnell wie möglich in seine Arme werfen, Freude teilen, Küsse verschenken. In höchstens zehn Minuten würde ich ihm die Auktionsgeschichte erzählen. Er wäre stolz auf mich.

Wir waren getrennt zu seinen Eltern unterwegs, denn wir leisteten uns zwei Adressen, 15 Fahrradminuten voneinander entfernt. Nach dem Osterbesuch würden wir gemeinsam nach Hause fahren, zu ihm vermutlich, denn die Strecke war kürzer.

Ich wich einem Rettungswagen aus, der zur Hälfte auf dem Fahrradweg parkte und ihn blockierte. Die Warnlichter blinkten, die Türen waren geschlossen, der Motor schwieg. Ich hatte keinen Verdacht und machte mir keine Gedanken.

Nur noch drei, vier Minuten, eine leichte Steigung, dann wäre ich bei ihm, endlich.

Ich vermisste ihn. Gegen drei Uhr hatten wir uns in meiner Wohnung verabschiedet, mit einem langen Kuss an der Tür, nach einem Frühstück im Bett.

Als er weg war, wechselte ich Laken und Bezüge, denn nach den Feiertagen würde mir der Job keine Zeit mehr für Hausarbeiten lassen. Ich skypte mit den Kindern und lackierte die Zehennägel. Zweimal telefonierten er und ich. Besorgst du Blumen? Bist du in der Badewanne?

Ich hörte es am Telefon, wenn er in der Wanne lag. Seine Stimme klang dann, als würde er durch eine Gießkanne sprechen. In der Badewanne konnte er am besten nachdenken, da kamen ihm die besten Ideen.

Wir redeten kurz über seine Arbeit, ein neues Projekt, schickten Küsse durch winzige Mikrofone.

Vier Stunden ohne ihn, eine Ewigkeit, so kam es mir vor. Gleich, im Haus seiner Eltern, würde sie enden.

Aber sein Rad lehnte nicht an der Garagenwand.

Mein Handy schmetterte den Klingelton Sherwood Forest, eine fröhliche Jagdfanfare. Sie kündigte den Beginn der Ewigkeit an.

Die Zeit nagt so langsam an ihr, dass sie sich nach vier Monaten genauso ewig anfühlt wie am ersten Tag.

*

Meine Tochter ignoriert die Berührung ihrer Nasenspitze, wie sie auch die Sonne nicht bemerkt, die sich in den Spalt zwischen Wand und Vorhang gedrängelt hat.

Ein weiterer neuer Tag ohne meinen Mann.

Ich kann ihn nur noch nachts treffen. Im Schlaf umarmen und küssen wir uns, wir reden und lachen, worüber, kann ich nicht einmal sagen. Themen und Sätze sind nicht wichtig.

Ich kann seine Stimme hören, seine Haut und sein Haar riechen. Ich spüre seinen Atem und lasse mich in seine blauen Augen fallen.

Fast jede Nacht verbringen wir zusammen.

Jedes Mal, früher oder später, gehen wir spazieren, über Berge, durch Wüsten, nie am Strand. Und dann verliere ich meinen Mann in einer Nebelwand. Manchmal verschwindet er vor meinen Augen, obwohl die Luft klar ist und es kein Versteck weit und breit gibt.

Ich bin fassungslos, es kann nicht sein, dass ich ihn nicht mehr sehe.

Hey, wo bist du?

Ich rufe, bis die Stimme versagt. Ich laufe, bis der Schweiß rinnt und die Muskeln verkrampfen. Ich balle eine Faust, Fingernägel bohren sich in die Handflächen. Beine, Brust, Haaransatz, alles tut weh.

Darum schluchze ich. Ich presse dabei die Augen fest zusammen, damit ich nicht aufwache und dadurch die einzige Chance vertan ist, ihn zu finden.

Ich bleibe stehen und recke das Kinn, denn wenn er nirgendwo auf der Erde ist, muss er oben sein, über den Wolken, im Himmel.

Komm zurück. Hör auf mit dem Versteckspiel. Bitte.

Er bleibt verschwunden.

Der Puls rast. Ich ersticke.

Ich schnappe nach Luft.

Jedes Aufwachen seit seinem Tod schmeckt nach Panik und Salz.

Ich starre auf Wände, Leuchten, Bettdecken, meinen nackten Fuß. Ich drehe den Kopf nach links, wo mein Mann liegen sollte, ich lausche.

Seit vier Monaten Stille.

Seit vier Monaten schrecke ich aus Träumen und verstehe nicht, wo ich bin. Eine Welt ohne meinen Mann, wie soll die sein? Wer bin ich darin?

Die Welt ohne meinen Mann ist eine Matrix.

Die Matrix ist ein ziemlich genauer Nachbau der Welt, wie sie war, vor seinem Tod. Einige Winkel sind geschwärzt und für mich tabu. Zum Beispiel unser Lieblingsrestaurant oder unser Park oder die Nordsee, in die ein dicker Kapitänsbär die Asche meines Mannes versenkt hat.

Und jedes Glitzern des Meeres wird uns fortan an den Verstorbenen erinnern, brummelte er, nachdem er die Urne über die Reling des Ausflugskutters ins Wasser gelassen hatte.

Ich verachtete ihn für diese ausgesprochene Blödigkeit. Während der Rückfahrt hielt ich an dem Gefühl der Verachtung fest. Es bedeckte die Verzweiflung und half, sie zu ertragen.

Eine Möwe begleitete das Schiff. Sie half auch.

Jetzt ist die Matrix ein verdunkeltes Wiener Hotelzimmer.

Ich existiere darin als Avatar. Mein früheres Ich liegt erstarrt und von Sinnen in einem gläsernen Kokon im Labor eines wahnsinnigen Wissenschaftlers.

Mein Avatar ist nicht blau und feenhaft wie im Hollywoodfilm, sondern sieht mir zum Verwechseln ähnlich. Er ist etwa zehn Kilo leichter, laut meiner knallorangefarbenen Waage, und imitiert mich ziemlich perfekt. Er hat, wie meist, verquollene Augen und fühlt sich an wie nach zwei durchzechten Nächten.

Die Stimme ist leiser, der Blick weicher, der Gang langsamer. Mein Avatar ist unbeholfener in seinen Bewegungen und Gefühlen.

*

Meine Tochter schlägt die Augen auf und sieht mich prüfend an.

Ich muss etwas zu ihr sagen, aber etwas anderes als den Gedanken, der seit dem Tod meines Mannes am lautesten ist. Du darfst nicht vor mir sterben, du nicht auch noch. Der Satz würde sie erschrecken.

»Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?«

»Nein.«

»Hast du schlecht geträumt?«

»Nein.«

»Hast du schlechte Laune?«

Sie seufzt, dreht sich auf den Rücken und fixiert die Decke.

»Was hast du denn?«

»Mama, ich glaube, ich kann nicht mehr neben dir schlafen.«

Wir haben immer in Doppelzimmern übernachtet, wenn wir zusammen verreist sind. Ein Urlaub werde mir guttun, hatte sie nach der Seebestattung im April gesagt, und dass sie mich im Sommer begleiten werde.

Jetzt, Ende Juli, bin ich im vierten Monat Witwe.

Wie eine Schwangerschaft erlebe ich das Witwesein als Zustand der Erwartung. Ich erwarte, »I’m expecting«, heißt es auf Englisch, ein neues Leben. Es heißt, es dauere ein Jahr, mindestens, bis der surreale Zwischenzustand der Trauer endet und es beginnen kann.

Wie fühlt sich Trauer an? Meine Trauer ähnelt einer schweren Grippe. Aber zu Kopf- und Gliederschmerzen, Mattigkeit, Übelkeit, Appetitlosigkeit und der Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, kommen Mutlosigkeit, Verzweiflung, Panik, Selbstmitleid, Wut und Gleichgültigkeit.

Meine Trauer fühlt sich an wie eine schwere Grippe, während sich zugleich eine Psychose anbahnt.

Meine Trauer ist Seelen-HIV. Der Virus, der mich befallen hat, ist der Tod meines Mannes. Er ist nicht heilbar und potenziell tödlich.

Ich rechne damit, zu überleben, den Erreger jedoch lebenslang in mir zu tragen.

Vielleicht bleiben chronische Beschwerden, vielleicht verschwinden sie. Eine Freundin, deren Mann vor neun Jahren gestorben ist, hat erzählt, dass sie oft wochenlang schmerzfrei sei, und dann, ohne erkennbaren Anlass,...

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