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Soziale Bewegungen in Guatemala

Eine kritische Theoriediskussion

AutorEva Kalny
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl354 Seiten
ISBN9783593434957
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Soziale Bewegungen sind Teil gesellschaftlicher Gesamtstrukturen, sie sind von diesen geprägt und sie versuchen, diese Strukturen zu beeinflussen. Am Fallbeispiel Guatemalas zeigt dieses Buch anhand von Frauenbewegungen, indigenen Bewegungen und Kämpfen um Ressourcen auf, wie die Verfasstheit des Staates Rahmenbedingungen für soziale Bewegungen setzt und wie dies in ausgewählten Theorien sozialer Bewegungen reflektiert wird beziehungsweise in diese Eingang finden kann.

Eva Kalny ist Sozialwissenschaftlerin; sie forscht und unterrichtet an Universitäten in Deutschland und Österreich.

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Leseprobe
Vorwort
Das vorliegende Buch Soziale Bewegungen in Guatemala - eine kritische Theorie-diskussion beruht auf meiner Habilitationsschrift, welche ich am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover im Mai 2014 vorlegte - also ein Jahr vor Beginn der Enthüllungen der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit CICIG, welche seit April 2015 beinahe wöchentlich mit neuen Informationen über penibel recherchierten Korruptionsfällen an die Öf-fentlichkeit tritt und so die Verbindungen zwischen dem organisierten Ver-brechen und der Regierung aufzeigt. Ausgelöst durch diese Aufdeckungen entwickelte sich in Guatemala eine Protestbewegung, die den Rücktritt des ehemaligen Präsidenten Otto Pérez Molina erzwang, Gesetzesreformen für das Parteien- und Wahlsystem erarbeitete und lobbyierte, und die bis heute anhält. Diese Ereignisse bilden den Endpunkt meines Werks, ihr Einfluss auf die Struktur des Staates und weitere soziale Bewegungen wird erst zu einem späteren Zeitpunkt analysierbar sein.
Dieses Buch beruht auf umfangreichen Literaturrecherchen, eigene Er-hebungen finden in den entsprechenden Unterkapiteln Eingang. Ohne meine eigenen Forschungen und Erfahrungen im Land wäre diese Form des Überblicks und der Analyse nicht möglich gewesen. Dies betrifft unter anderem den Zugang zu organisationsinternen Dokumenten, den umfang-reichen und langjährigen Austausch mit Aktivist_innen unterschiedlicher Organisationen und die Bereitschaft vieler Menschen zu Gesprächen und Befragungen. Die Liste jener, denen mein Dank gebührt, ist dementspre-chend lange.
An ihrem Beginn stehen zahlreiche guatemaltekische Aktivist_innen, die ich noch zu Kriegszeiten 1991 und 1992 im mexikanischen Exil kennen lernen konnte und in deren Archiven ich damals arbeiten durfte. Diese Er-fahrung bot mir einen ersten Einblick in die Kooperationen und Konflikte zwischen den zivilen, unterschiedlichen Guerillabewegungen nahestehen-den Organisationen. Mit Domingo Hernández Ixcoy, der wie viele andere längst nach Guatemala zurückgekehrt ist, besteht der Austausch bis heute. Dynamiken des indigenen Aktivismus auf lokaler Ebene konnte ich in der Folge in Momostenango kennen lernen, wo die Familie von Doña Pancha Ixcoy de Acabal wichtiger Bezugspunkt für mich war. Bei zahlreichen An-lässen hatte ich die Möglichkeit, mit ihrer Familie, ihrem Schwiegersohn Pedro Ajxup Poroj und weiteren Mitstreiter_innen des Projekts Kajib' No'j über bilinguale indigene Schulen und indigene Bewegungen im allgemeinen zu diskutiert. Dabei konnte ich beobachten, wie sich die Anliegen und Schwerpunkte der Organisator_innen des lokalen Schulprojekts in Momos-tenango im Laufe der Jahrzehnte änderten. Das Dorf Canquixajá, in dem ich damals forschte, sollte in den 2000er Jahren meine Erfahrungen mit dem Widerstand indigener Gemeinden gegen ein Minenprojekt bereichern. In den frühen 1990er Jahren konnte ich auch das Erstarken indigener Organisation im nahegelegenen Quetzaltenango beobachten und in diesem Kontext Ricardo Cajas kennen lernen.
Juana Vasquez und Federico Silvestre lerne ich auf ihrer Österreichreise im Jahr 1994 kennen. Beide teilten die für indigene Aktivist_innen charak-teristischen Erfahrungen: den Einfluss durch die Theologie der Befreiung, die Nähe zur Guerillabewegung, das Überleben als intern Vertriebene, die Annäherung an Maya-Religion und schließlich ihre Rolle als Maya-Priester-_in und Anführer_in indigener Organisationen. Die Familie von Juana Vásquez im Dorf Río Blanco sowie all meine Gesprächspartner_innen in unterschiedlichen Teilen des Munizips Sacapulas bereicherten mein Wissen über die oft große Distanz zwischen indigenen Aktivist_innen in den Städ-ten und dörflichen Realitäten. Auch in dieser Region konnte ich in den 2000er Jahren die Bedrohung durch ein Minenprojekt sowie den Wider-stand dagegen beobachten.
Meine Erhebungen in den Jahren 2006 und 2007 im Rahmen des vom österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kul-tur geförderten Forschungsprojekts Soziale Bewegungen, Menschenrechte und Globalisierung befassten sich mit Bewegungen im mestizisch geprägten Tief-land, die sich gegen neoliberale Wirtschaftsabkommen und Großprojekte - in diesem Fall Staudämme - richtete. Die Zeit und die Region waren ge-prägt vom mächtigen kriminellen Netzwerk der Mendzodas, das den Hö-hepunkt seiner Macht erreicht hatte, und um das sich zahlreiche Gerüchte ob seiner Gewalttätigkeit und seines Spitzelwesens rankten. Diese schwieri-gen Lebens- und Forschungsbedingungen boten zahlreiche Einblicke in Dynamiken sozialer Bewegungen in einem Kontext, in dem der Staat nicht bereit und Willens war, sein Gewaltmonopol wahrzunehmen. Während meiner Forschung lebte ich im Dorf Salvador Fajardo des Munizips La Li-bertad, auch bekannt als Santa Rita. Die Ansiedlung war in den späten 1990er Jahren von ehemals intern Vertriebenen gegründet worden, die vor den Massakern des Militärs in den Regenwald geflüchtet waren und dort an die 15 Jahre überlebten. Aufbauend auf ihre Erfahrung an Selbstorganisa-tion und kollektiver Wirtschaft unterstützen zahlreiche Mitglieder der klei-nen Gemeinde unterschiedliche Organisationen, die am Widerstand gegen Megaprojekte beteiligt waren. Das Dorf verfügte über ein Gästehaus, das Besucher_innen wie mir zur Verfügung gestellt wurde. Zahlreiche Organi-sationen der Region standen für Gespräche und Interviews zur Verfügung. Dazu zählten unter anderem Dachorganisationen wie die Petenero Front gegen Staudämme, Olga Uriza und die Frauen von Ixqik, Rosa María Chan der Fundación Pro Petén und die Mitglieder des Solidarischen Vereins der Aktion und Vorschläge für den Petén ASAPP, allen voran seine Leiterin Ileana Valenzuela. Ihr Mann Angelo verlieh mit seinen Kochkünsten so manchen Arbeitssit-zungen eine besondere kulinarische Note. Encarnación García Juárez und seine Kollegen der Pastoral Social standen für zahlreiche Gespräche zur Verfügung, ließen mich an ihren Erfahrungen in der Arbeit für die margi-nalisierte Bevölkerung des Petén teilhaben und luden mich zu Arbeitstref-fen ein. Auch Amilcar Corzo des Centro Universitario de Petén fand immer Zeit für mich und teilte sein umfangreiches Wissen über die Region groß-zügig. In San José fand ich großzügige Aufnahme bei Doña Olivia Tesucún und ihrer Familie. Für lebhafte und interessante Diskussionen über die Verfasstheit sozialer Bewegungen in Guatemala und insbesondere im Pe-tén danke ich auch Nelson Escobar. Nun bleibt abzuwarten, wie sich die Sicherheitslage im Petén durch die Verhaftungen zentraler Personen des kriminellen Netzwerks der Mendozas im April 2016 verändern wird.
In Guatemala-Stadt erhielt ich durch Ana Silvia Monzón und Walden Barrios Klee Einblicke in guatemaltekische Frauenbewegungen. Factor Méndez Doninelli und Magnolia Morales teilten ihre Erfahrungen in der Student_innenbewegung von 1962 mit mir.
Bei jedem meiner Forschungsaufenthalte konnte ich mich mit Carlos Guzmán Böckler austauschen. Seine umfangreiche Erfahrung, sein detail-reiches historisches Wissen und seine Fähigkeit zur Beobachtung und Ana-lyse haben meine Forschungen wiederholt bereichert. Auch Irma Alicia Ni-matuj bin ich für zahlreiche Gespräche in Guatemala Stadt und in Quetzal-tenango dankbar. Regen intellektuellen und freundschaftlichen Gedanken-austausch zu spezifischen lokalen Kontexten sowie der Situation des Lan-des und seiner sozialen Organisationen verdanke ich Isabel Rodas und Ruth Piedrasanta. Und nicht zuletzt gilt mein Dank Ernestina Domingo Castillo in Guatemala Stadt, in deren Haus ich unzählige interessante und engagierte Menschen kennen lernen durfte.
In Österreich verbinden mich lange Jahre unterschiedlichen Engage-ments für Guatemala mit Renate Sova, und dies beinhaltet auch ausführ-liche Analysen und Erfahrungsaustausch über soziale Bewegungen. Georg Grünberg stellte wiederholt großzügig Kontakte und Literatur zur Verfü-gung. Gespräche mit Norman Schwartz und Liza Grandia haben meine Analysen bereichert. Während meiner Zeit am Ethnologischen Seminar Zürich stand Shalini Randeria für Fachgespräche zur Verfügung. Am Insti-tut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover bereicherten Gesprä-che und Kooperationen mit Mitgliedern des Arbeitskreises der Atlantic Stu-dies in History, Culture and Society meine Arbeit.
Das vorliegende Buch beruht auf meiner Habilitationsschrift, welche ich im Mai 2014 an der Leibniz Universität Hannover einreichte. Ich danke Mathias Bös, Rolf Pohl, Gabriele Wagner, Christine Hatzky, Brigitte Rein-wald, Ulrike Schmieder und Catharina Peeck für die kollegiale und motivie-rende Zusammenarbeit. Mein Dank gilt auch meiner Schwester Ilse Kalny, sie übernahm das Korrekturlesen des Textes.
Den hier Genannten sei von ganzem Herzen gedankt - sie alle haben auf die eine oder andere Weise zum Entstehen dieses Buchs beigetragen. All jene, die zu nennen ich vergessen habe, mögen dies entschuldigen. Die Verantwortung für allfällige Fehler liegt ausschließlich bei der Autorin. Möge dieses Buch dazu beitragen, mehr Verständnis für den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft zu erwirken und diesen, soweit möglich, besser zu unterstützen.

1. Einleitung
Soziale Bewegungen in Guatemala. Eine kritische Theoriediskussion strebt zweierlei an: erstens, einen kohärenten und strukturierten Überblick über unter-schiedliche soziale Bewegungen in Guatemala zu bieten, und zweitens, die-sen Überblick in Dialog zu drei Theorieansätzen sozialer Bewegungen zu setzen. Soziale Bewegungen sind Teil gesellschaftlicher Gesamtstrukturen, sie sind von diesen geprägt und sie versuchen diese Strukturen zu beein-flussen. Die Analyse sozialer Bewegungen erlaubt daher auch Schlüsse auf die Gesamtgesellschaft. Das Fallbeispiel ist geeignet aufzuzeigen, wie die Verfasstheit des Staates Rahmenbedingungen für soziale Bewegungen setzt, und wie dies in ausgewählte Theorien sozialer Bewegungen Eingang finden kann.
1.1. Das Länderbeispiel Guatemala
Guatemalas Gesellschaft zeichnet sich durch große soziale und ethnische Heterogenität sowie ökonomische Ungleichheit aus. In dem zentralameri-kanischen Land leben zurzeit ca. 15 Millionen Menschen auf einer Fläche von 108.889 km2, wobei UNDP 13,22 Prozent des Landes als urbar bewer-tet (UNDP 2009: 5). Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt auf dem Land (ebd.: 8). Der Anteil der indigenen Bevölkerung wird unterschiedlich eingeschätzt, er liegt in offiziellen Statistiken seit dem Ende der Revolu-tionsregierung 1954 beständig unter 50 Prozent (World Bank 2004: 57). In-digene Organisationen aber gehen davon aus, dass Indigene die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Indigene und Frauen - und insbesondere in-digene Frauen - leiden besonders unter Armut und mangeldem Zugang zu staatlichen Einrichtungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Zurzeit sind in Guatemala neben dem Spanischen, Garifuna und Xinca 22 Maya-sprachen offiziell anerkannt . Einige Mayasprachen werden von mehreren 100.000 Sprecher_innen gesprochen. Zwar sind in Guatemala die durch-schnittliche Verweildauer im Schulsystem seit 1980 von 2,4 auf 4,1 Jahre und die Lebenserwartung von 57,3 auf 71,4 Jahre gestiegen, das durch-schnittliche Bruttovolkseinkommen aber hat sich im gleichen Zeitraum nur wenig erhöht (UNDP 2013: 2). Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut, diese ist in der Regel chronisch, und sie betrifft vorwiegend die ländliche Bevölkerung und hier insbesondere Indigene und Frauen. Ca. 44 Prozent aller Kinder sind auf Grund von Mangelernährung in ihrem Wachstum beeinträchtigt. Guatemala zählt trotz moderater Verbesserun-gen weiterhin zu den Staaten mit der ungleichsten Konsum- und Einkom-mensverteilung der Welt (World Bank 2004: 3, World Bank 2009: ix-xi). Das Bevölkerungswachstum liegt seit Jahren konstant bei jährlich 2,5 Pro-zent (UNDP 2009: 8). Diese große Heterogenität macht es schwierig, allge-meine Aussagen über gesellschaftliche Prozesse in Guatemala zu treffen, gleichzeitig ist sie Nährboden für zahlreiche teilweise sehr unterschiedliche soziale Bewegungen.
1.2. Soziale Bewegungen in Guatemala
Die umfangreiche Literatur zu sozialen Bewegungen in Guatemala bietet detailreiche Einblicke in spezifische Bewegungen und Organisationen. Sie widmet sich dabei entweder einzelnen Organisationen oder aber Organisa-tionen, die durch einen gruppenspezifischen Bewegungskontext miteinan-der in Beziehung stehen - also zum Beispiel. ausgewählte Organisationen der Frauenbewegung, oder Zusammenhängen zwischen Organisationen und Dachorganisationen indigener Bewegung. Die Analysen erfolgen dabei aus unterschiedlichen Fachrichtungen: so widmen sich Historiker_innen und Soziolog_innen schwerpunktmäßig der Erforschung guatemaltekischer Frauenbewegungen, Kulturanthropolog_innen indigenen Bewegungen, und Politikwissenschaftler_innen Gewerkschaften und ähnlich strukturier-ten Kämpfen um den Zugang zu Ressourcen. Mit Ausnahme letzterer ist die Literatur meist nur wenig mit Theorien sozialer Bewegungen verknüpft und tendiert dazu, die Überzeugungen, Ziele und Strategien dieser Bewe-gungen aus sich heraus zu erläutern.
Die Erforschung einer einzelnen Bewegung bietet zwar Einblicke in de-ren spezifische Dynamiken, diese sind aber ohne die Verschränkung mit anderen Bewegungen und Organisationen nur wenig aussagekräftig. Im Fall aktueller Kämpfe gegen Megaprojekte wie Staudämme und Minen ver-weisen diese Vernetzungen auf ältere, bereits bestehende Bewegungen von Indigenen und Frauen, sowie auf Guerilla- und Gewerkschaftsbewegun-gen. Diese unterschiedlichen Bewegungen beziehen sich teilweise aufein-ander und sind letztendlich nur in ihrer Gesamtheit und Verflochtenheit verständlich (siehe dafür auch Kalny 2013c). Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte ich den ersten Teil dieses Buchs: die Darstellung dreier großer Bewegungsströmungen - jene für Frauenrechte, gegen Rassismus und für den Zugang zu Ressourcen - unter Bezugnahme auf die jeweilige politische Situation. Der zeitliche Rahmen, der dieser Zusammenstellung zu Grunde liegt, ergibt sich aus zwei einschneidenden Ereignissen, die die guatemalte-kische Gesellschaft tiefgreifend verändert haben: die liberalen Reformen ab 1871 und die anhaltenden Proteste und Widerstandskundgebungen ab dem April 2015. Die liberalen Reformen bewirkten eine tiefgreifende Umstruk-turierung der Besitzverhältnisse in den ländlichen Regionen zugunsten An-gehöriger alter und neuer Oligarchien, und sie bildeten so eine der wichtig-sten Grundlagen für den Bürgerkrieg, der ein Jahrhundert später auf seinen Höhepunkt zusteuern sollte. Durch die liberalen Reformen traten frühere, kolonial geprägte ethnisch markierte Differenzierungen zwischen unter-schiedlichen Bevölkerungsgruppen zurück und es etablierte sich insbeson-dere im Hochland die dichotome Gegenüberstellung von Indigenen und Mestiz_innen. Die bedeutet auch eine Ausblendung der sich selbst als europäisch definierenden Oligarchie und bildet in der Folge das bestim-mende Erklärungsmuster für gesellschaftliche Prozesse und Konflikte in Guatemala. Auf den vereitelten Versuch einer tiefgreifenden Umkehr und Reform dieser Dynamiken während der demokratischen Phase von 1944 bis 1954 folgten Militärregierungen und ein 36 Jahre dauernder Bürger-krieg, der in einer Politik der Verbrannten Erde kulminierte. Einzelne Fälle der Vernichtung indigener Gemeinden von der UNO als Genozid klassifi-ziert. Die im Dezember 1996 geschlossenen Friedensverträge eröffneten die Möglichkeiten grundlegender Veränderungen der guatemaltekischen Gesellschaft hin zu weniger Diskriminierung und Ausschluss und größerer Chancengleichheit. Die Prozesse, die zu seiner Unterzeichnung führten so-wie das Ende der Kampfhandlungen bilden aber auch die Grundlagen für die aktuelle Ressourcenausbeutung. Man könnte also im Fall Guatemalas von einem langen zwanzigsten Jahrhundert sprechen. Die bis April 2015 - nicht nur in Guatemala - aktivsten Bewegungen sind jene gegen Megapro-jekte. Im April 2015 löst eine Serie von Berichten über Korruptionsfällen, die bis in die Spitze der Regierung reichten, eine neue Maßenbewegung aus, die sich in ihren Charakteristika tiefgreifend von früheren Bewegungen unterscheidet und abgrenzt. Ihr Auftreten verweist auf gesellschaftliche Veränderungen, die wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt und mit histori-scher Distanz analysiert werden können.
Die Literatur zu Frauenbewegungen, indigenen Bewegungen und Kämpfen um Ressourcen in Guatemala verzichtet mit wenigen Ausnah-men auf eine Definition des Begriffs soziale Bewegung. Für die vorliegen-de Arbeit wurden folgende Kriterien für die Auswahl der Literatur und da-mit die Beschreibung sozialer Bewegungen herangezogen: erläutert werden soll kollektives widerständiges Handeln, welches sich zumindest gegen eine von den drei als zentral identifizierten gesellschaftlichen Ausschlussme-chanismen - nach Geschlecht, Ethnizität und Klasse - wendet. Soziale Be-wegung beschreibt dabei ein Feld an Akteur_innen und umfasst sowohl In-dividuen als auch lose vernetzte Personen sowie Organisationen (siehe u.a. Gamson/Meyer 1996, Lofland 1996 und Kriesi 1992, bzw. ausführlicher in Kapitel 4.1.). Die meisten wenn auch nicht alle dieser Bewegungen thema-tisieren ökonomische Aspekte und entsprechen damit der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs sozial, welcher im 19. Jahrhundert in enger Verbin-dung zur sozialen Frage und der Bedrohung der sozialen Ordnung zu ver-stehen war: der Mob als zentraler Begriff der Zeit ist die Kurzform von mobile vulgus, also mobiler Masse bzw. Pöbel, und steht damit in enger Be-ziehung zu Konzeptionen zahlreicher sozialer Bewegungen (Cox 2013: 129). Auch dort wo ökonomische Aspekte nicht im Sinne eines Diskurses über Klassenkampf thematisiert werden, beeinflussen diese sozialen Bewe-gungen grundlegend. Dieses bereits aus der Literatur bekannte Phänomen trifft sowohl auf ausgewählte Aspekte der Frauenbewegung als auch indi-gener Bewegung in Guatemala zu.
Organisationsformen dominanter sozialer Gruppen zum Ausschluss bzw. zur Fortsetzung des Ausschlusses diskriminierter Gruppen betrachte ich in Abgrenzung zu Nilsen & Cox (Nilsen/Cox 2013) als Teil der politi-schen Gelegenheitsstrukturen, nicht als Bewegung von oben. Ebenso be-trachte ich soziale Bewegungen, die die Macht übernehmen, ab diesem Moment als Teil der politischen Gelegenheitsstruktur für neue Bewegun-gen, nicht aber weiterhin als soziale Bewegung. Dies betrifft in Guatemala insbesondere die demokratische Phase von 1944 bis 1954. Die Dauer der Interaktion mit der Regierung und anderen dominanten gesellschaftlichen Kräften wurde nicht als Kriterium für die Definition von sozialer Bewe-gung herangezogen, da die in der Regel zu hoher Gewaltanwendung berei-ten Regierungen des Landes soziale Organisationsversuche wiederholt sehr bald auslöschten. Die in der Literatur häufige strikte Abgrenzung zwischen sozialen Bewegungen und Revolutionen (Cox 2013: 127) macht im Fall Guatemalas wenig Sinn. Wiederholt kulminierte der Widerstand ausge-wählter Bewegungen in der Geschichte des Landes in Aufstände oder auf-standsartige Proteste, und wiederholt führte deren Niederschlagung zur Radikalisierung von Organisationen und dazu, dass Mitglieder ziviler sozia-ler Organisationen und Bewegungen den Schritt in die Illegalität setzen. So werden bewaffnete Widerstandsgruppen in dieser Arbeit nicht ausführlich in ihrer Entstehung, ihren internen Organisationsformen, Konflikten und ideologischen Entwicklungen erläutert, sehr wohl aber jene Dynamiken, die zum Überlaufen ziviler Aktivist_innen zu Guerillabewegungen führten und damit auch ausgewählte Aspekte der Beziehungen zwischen zivilen und bewaffneten Organisationen. Individualisierte Formen des Wider-stands wie die Migration in die USA oder andere Waffen der Schwachen (Scott 1985) werden nicht als soziale Bewegung gewertet.
1.3. Theorien sozialer Bewegungen
Theorien zur Analyse sozialer Bewegungen wurden in der Regel an Hand europäischer und US-amerikanischer Beispiele entwickelt. Postkoloniale Gesellschaften unterscheiden sich von diesen durch ihre koloniale Ge-schichte, durch divergente kulturelle und sozioökonomische Charakteristi-ka ihrer Bevölkerungen und durch ihre untergeordnete Positionierung in globalen hierarchischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Die Notwendigkeit der Modifizierung oder Erweiterung dieser Theorien im Hinblick auf veränderte Rahmenbedingungen postkolonialer Gesellschaf-ten kann also zumindest nicht ausgeschlossen werden. Theoretisch orien-tierte Studien zu sozialen Bewegungen vergleichen - insofern sie auf mehr als eine Bewegung fokussieren - in der Regel ähnliche Bewegungen oder Prozesse in unterschiedlichen Ländern .
Für die theoretische Analyse des Datenmaterials ziehe ich drei Ansätze heran: den Ressourcenmobilisierungsansatz, politische Gelegenheitsstruk-turen und Framing. Diese drei Ansätze wurden in den späten 1990er Jahren zu einem Gesamtmodell der Erklärung sozialer Bewegungen zusammen-geführt um so die Dynamiken und Prozesshaftigkeit sozialer Bewegungen abzubilden sowie deren Verläufe und Entwicklungen zu beschreiben (Mc-Adam, et al. 1996).
Ansätze der Theorien Neuer Sozialer Bewegungen, die sich explizit auf Wohlstandsgesellschaften beziehen und auf postmaterielle Bedürfnisse fokussieren, entsprechen nicht der Lebensrealität der großen Mehrheit der kollektiven widerständigen Akteur_innen in Guatemala. Das von Alain Touraine speziell für Lateinamerika entwickelte Modell der Erklärung kol-lektiven widerständigen Handelns inkludiert einige wenige Hinweise auf Guatemala. Diese sind sehr selektiv und in Übereinstimmung mit dem ent-wickelten Modell gewählt, entsprechen aber nicht den gesellschaftlichen und politischen Dynamiken, die sich aus einer genauen Analyse eines kom-pletteren Überblicks über soziale Bewegungen in Guatemala ergeben. Der Wunsch, Daten zu finden um ein Modell zu entwickeln, dominierte hier über der tatsächlichen Belastbarkeit des Datenmaterials (Kalny 2012). Ar-turo Escobars Ansatz, Kultur und Identität verstärkt in den Mittelpunkt der Analyse sozialer Bewegungen zu stellen (Escobar/Alvarez 1992, Esco-bar 2008), bietet kein Gesamtmodell, das weitere Einflussfaktoren gleich-wertig miteinbezieht.
Die durch Theorien Neuer Sozialer Bewegungen und von Escobar vor-gebrachten Kritikpunkte wurden durch die Entwicklung und Miteinbezie-hung des Framingansatzes in eine Triade (gemeinsam mit dem Ressourcen-mobilisierungsansatz und politischen Gelegenheitsstrukturen) integriert, die ein geschlossenes Modell der Analyse sozialer Bewegungen bildet und ökonomische, politische und soziale Aspekte berücksichtigt.
1.4. Forschungsfragen und Erkenntnisinteresse
Dieses Werk beschreitet in mehrere Hinsicht neue Wege: erstens erzählt es die Geschichte eines Landes über einen relativ langen Zeitraum hinweg an Hand dreier zentraler Bewegungsstränge und ihrer jeweils spezifischen Rahmenbedingungen. Dies erlaubt vertiefte Einblicke in Wechselwirkun-gen, Abgrenzungen und Weiterentwicklungen sozialer Bewegungen, die sich daraus ergeben, dass Bewegungen mit unterschiedlichen Anliegen auf-einander treffen und miteinander aber auch gegeneinander agieren. Die Verortung dieser Bewegungen in ihren gesellschaftlichen und politischen Kontexten wiederum erlaubt, die Interpretationen, Ziele und Strategien so-zialer Bewegungen historisch und sozial einzuordnen, es kann eine häufig anzutreffende Idealisierung sozialer Bewegungen hintanhalten und den Blick nicht nur auf den Einfluss von sozialen Bewegungen auf die Gesell-schaft zu lenken (wie dies in der Literatur meist üblich ist), sondern auch auf den Einfluss der Gesellschaft auf soziale Bewegungen.
Zweitens erlaubt die Zusammenführung des umfangreichen Datenma-terials mit drei Ansätzen der Theorien sozialer Beziehungen, die gemein-sam ein umfassendes Erklärungsmodell für zentrale Aspekte sozialer Beziehungen bilden, bildlich gesprochen das Aufstellen einer Matrix. Diese zeigt an, welche Aspekte in der Erforschung sozialer Bewegungen in Gua-temala wenig Beachtung finden, und worin daher die Wissenslücken be-stehen, um Dynamiken in sozialer Bewegungen, zwischen sozialen Bewe-gungen und in ihrer Interaktion mit dem gesamtgesellschaftlichen Umfeld erklären zu können. Diese Form der Analyse geht über die übliche Be-schreibung einzelner Bewegungen hinaus und bietet eine grundlegende Weiterentwicklung des Verständnisses sozialer Bewegungen und sozialer Veränderungsprozesse in Guatemala.
Drittens erlaubt dieser Zugang einen interdisziplinären Dialog über so-ziale Bewegungen. Dies wird insbesondere bei der Analyse indigener Bewe-gungen sichtbar - ihre Erforschung bleibt meist der Kulturanthropologie vorbehalten, und das von ihr erhobene umfangreiche Datenmaterial wird in fachspezifschen Theoriezusammenhängen diskutiert, deren Gegenstand nicht die Analyse sozialer Bewegungen ist. Die Zusammenführung dieses Datenmaterials und dieser Ansätze mit Theorien sozialer Bewegungen führen zu einer wechselseitigen Befruchtung.
Viertens ermöglicht die Auseinandersetzung mit den regionalen Spezifi-ka des Falls - und hier vor allem mit seinem Staatsmodell - eine Erweite-rung des theoretischen Modells, welches sich an historisch spezifischen, europäisch und US-amerikanisch geprägten Vorstellungen von Staat orien-tiert. Im vorliegenden Fall aber kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Staat tatsächlich über das Machtmonopol verfügt, welches ihn zum zentralen Ansprechpartner sozialer Bewegungen machen kann. Die an diesem Beispiel erläuterten Prozesse finden zwar in einer lokal spezifisch geprägten Form statt, sie sind aber - und das zeigt die Vergleichsliteratur - in unterschiedlichem Ausmaß über Guatemala hinaus anzutreffen.
Folgende Forschungsfragen stehen dabei im Mittelpunkt:
- Welche Erkenntnisse lassen sich aus der Zusammenführung des umfang-reichen Materials aus unterschiedlichen Disziplinen über soziale Bewe-gungen in Guatemala über gesellschaftliche Prozesse gewinnen?
- Bestehen in den Daten im Hinblick auf die angeführten theoretischen Ansätze systematisch Lücken? Wenn ja, welche?
- Welche Erkenntnisse ergeben sich durch die gewählte Zugangsweise auf theoretischer Ebene?
- In welcher Form beeinflusst die spezifische Verfasstheit des guatemalte-kischen Staates soziale Bewegungen und welche Auswirkungen hat dies über das Fallbeispiel hinausgehend auf die Theorieentwicklung?
- Und welche praktischen Konsequenzen ergeben sich aus dieser Dis-kussion für die Unterstützung sozialer Bewegungen durch Geberorga-nisationen?
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