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E-Book

Sozialethik

AutorFriedo Ricken
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl270 Seiten
ISBN9783170253391
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Ein Grundkurs hat die Aufgabe, philosophisches Basiswissen zu vermitteln, mit dessen Hilfe die Studierenden sich in der gegenwärtigen Diskussion orientieren können. Deshalb müssen die Klassiker zur Sprache kommen; Begriffe, Fragestellungen und Lösungsansätze müssen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang entwickelt werden. Die Sozialethik fragt nach den Normen für die verschiedenen Formen der menschlichen Gemeinschaft, die Grundlage aller anderen Güter ist und nur durch die Gerechtigkeit Bestand hat. Themen sind das Gemeinwohl, das Naturrecht, die Frage nach den moralischen und religiösen Grundlagen des modernen Staates und nach dessen Grenzen, d.h. nach der globalen Gerechtigkeit und dem globalen Gemeinwohl.

Prof. Dr. Dr. Friedo Ricken SJ, Hochschule für Philosophie München.

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Leseprobe

B.         Aristoteles: Die vielfachen Formen der Gerechtigkeit


„Der Mensch“, so schreibt Aristoteles im ersten Buch der „Politik“, „ist das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt.“ Die anderen Lebewesen haben lediglich Stimme; durch sie können sie einander von ihrer Wahrnehmung des Angenehmen und des Unangenehmen Zeichen geben. „Die Sprache ist dagegen dazu bestimmt, das Nützliche und Schädliche deutlich kundzutun und also auch das Gerechte und Ungerechte. Denn das ist den Menschen gegenüber den anderen Lebewesen eigen, dass sie allein eine Wahrnehmung des Guten und Schlechten und des Gerechten und des Ungerechten und der anderen entsprechenden Qualitäten haben. Deren Gemeinsamkeit (koinônia) aber macht ein Haus und einen Staat“ (Pol. I 2,1253a9–18).

Tiere können aneinander anzeigen, was Lust oder Schmerz bereitet und so eine Herde bilden. Der Mensch kann fragen, was nützlich und schädlich ist; er kann zweckrational denken. Aber diese Überlegung kann nicht getrennt werden von der Frage, wie Nutzen und Schaden verteilt sind; Zweckrationalität und überpersönlicher Standpunkt sind untrennbar miteinander verbunden; die praktische Vernunft ist eine Einheit. Der Mensch hat einen Gerechtigkeitsinn, eine „Wahrnehmung“ (aisthêsis) von Gerecht und Ungerecht und den anderen sittlichen Qualitäten. Wie jede andere Wahrnehmung kann auch diese Wahrnehmung schmerzen; die elementare Äußerung des Gerechtigkeitssinns ist der Schmerz über erlittenes Unrecht. Jede Form der Gemeinschaft beruht darauf, dass die Menschen in ihren Urteilen darüber, was gerecht und was ungerecht ist, übereinstimmen. Daraus, dass der Mensch einen Gerechtigkeitssinn hat, ergibt sich, dass die Gerechtigkeit die Norm ist, nach der er eine Gemeinschaft bewertet, und die notwendige Bedingung für deren Bestand. Die Begriffe Gerechtigkeit und Gemeinschaft sind aufeinander bezogen; die Formen der Gerechtigkeit ergeben sich aus den Formen der Gemeinschaft; der Begriff der Gerechtigkeit kann nur zusammen mit dem Begriff der Gemeinschaft entfaltet werden. Was ist eine Gemeinschaft?

1.         Die politische Gemeinschaft


Eine Gemeinschaft (koinônia) ist gegeben, wenn Menschen etwas gemeinsam haben. Platon fordert in der „Politeia“ die „Gemeinschaft“ (koinônia) der Frauen und Kinder. Nach den „Nomoi“ sind der ideale Staat, die ideale Verfassung und die idealen Gesetze die, „wo möglichst im ganzen Staat der alte Spruch in Erfüllung geht, der lautet, dass was Freunde haben in Wirklichkeit gemeinsam (koina) ist“. Das gilt nicht nur für Frauen, Kinder und Vermögen; alles, was man eigen nennt, muss aus dem Leben verbannt werden. Nach Möglichkeit muss auch das „von Natur Eigene“ irgendwie „ein Gemeinsames (koina)“ werden, so dass „zum Beispiel Augen, Ohren und Hände gemeinsam zu sehen und zu hören und zu handeln scheinen, und dass auch alle miteinander möglichst mit einer Stimme loben und tadeln, weil sie sich über dasselbe freuen oder ärgern“ (739cd). Aristoteles geht in seiner Kritik an dieser Konzeption vom Begriff der „politischen Gemeinschaft“ (koinônia politikê) (Pol. II 1,1260b27f.) aus. Wenn es um die beste politische Gemeinschaft geht, dann lautet die erste, grundlegende Frage: Was soll gemeinsam sein? Es gibt drei Alternativen: (a) Alle Bürger haben alles gemeinsam; (b) sie haben nichts gemeinsam; (c) sie haben einiges gemeinsam und anderes nicht. Die Alternative (b) ist unmöglich; sie widerspricht dem Begriff der Gemeinschaft, und als erstes muss das Territorium gemeinsam sein. Es bleibt also die Frage, ob (a) oder (c) den Vorzug verdient. Ist es besser, dass alles, was gemeinsam sein kann, auch gemeinsam ist, oder ist es besser, dass das einiges gemeinsam ist, anderes aber nicht? Durch seine Kritik an Platons „Politeia“ scheidet Aristoteles die Alternative (a) aus. Es bleibt also (c), und hier ist die Frage: Was soll gemeinsam sein und was nicht?

„Die Beobachtung zeigt uns, dass jeder Staat eine Gemeinschaft (koinônia) ist und dass jede Gemeinschaft um eine Gutes willen zusammengetreten ist“. Was die Menschen tun, tun sie, weil sie es für gut halten, es zu tun; wenn sie zu einer Gemeinschaft zusammentreten, tun es deswegen, weil sie dadurch ein Gut erreichen wollen. Alle Gemeinschaften zielen folglich auf ein Gut. Das gilt jedoch am meisten von der Gemeinschaft, die das „entscheidende“ (kyriôtaton) Gut zum Ziel hat, d. h. das Gut, von dem alle anderen Güter abhängen, und die deshalb von allen Gemeinschaften die „entscheidende“ (kyriôtatê) ist, die alle anderen umfasst, „und das ist der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft“ (Pol. I 1,1252a1–7). Was die Menschen, die sich zu einem Staat verbinden, gemeinsam haben, ist das Ziel.

Platon lässt uns in Gedanken das Werden eines Staates betrachten (Rp. 369a); dem entspricht die Methode des Aristoteles; wir sollen unseren Blick darauf richten, wie die Dinge entstehen und wachsen. Platon geht davon aus, dass die Menschen auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind (Rp. 369bc). Der Ansatz des Aristoteles ist radikaler: Es schließen sich die zusammen, die ohne einander nicht sein können. „Es ist notwendig, dass sich zuerst die als Paar zusammenschließen, die ohne einander nicht sein können, das Weibliche und das Männliche der Fortpflanzung wegen […], das von Natur aus Herrschende und Beherrschte wegen der Erhaltung“ (Pol. I 2,1252a25–31). Aus diesen beiden Gemeinschaften, von Mann und Frau und Herr und Sklave, entsteht zunächst das „Haus“ (oikia), der Haushalt oder die Familie; es dient der Befriedigung aller täglichen Bedürfnisse. Die erste Gemeinschaft, die aus mehreren Häusern gebildet wird, ist das Dorf; sie verfolgt Zwecke, die über die täglichen Bedürfnisse hinausgehen. Auch das Dorf beruht ursprünglich auf verwandtschaftlichen Beziehungen; es ist ein Ableger der Familie; seine Bewohner sind Geschwister, Kinder und Kindeskinder.

„Die vollendete Gemeinschaft aus mehreren Dörfern ist bereits der Staat, der, wie man sagen darf, das Endziel vollständiger Autarkie erreicht hat. Er entsteht um des bloßen Lebens willen, aber er besteht um des guten Lebens willen“ (Pol. I 2,1252b27–30). Das gute Leben ist das Leben nach den Tugenden, und die Tugend, um die es hier geht, ist die Gerechtigkeit. Ohne sie können weder das Haus noch das Dorf bestehen, aber sie ist erst mit dem Staat gegeben. Der Staat entsteht durch das Streben nach vollkommener Autarkie, und nur durch ihn ist ein gutes Leben, d. h. ein gerechtes Zusammenleben der Menschen in ihren Gemeinschaften möglich.

Weil die Gemeinschaften, aus denen der Staat besteht, „von Natur“ (physei) sind, ist auch der Staat von Natur, denn er ist die Vollendung dieser Gemeinschaften. Deren Ziel ist es, das Lebensnotwendige zu beschaffen, und es wird erst durch den Staat vollkommen erreicht. Die Natur einer Sache ist die Beschaffenheit, die etwas hat, wenn sein Entwicklungs- oder Entstehungsprozess (etwa bei einem Menschen, einem Pferd oder einem Haus) abgeschlossen ist, und für den Zusammenschluss der Menschen zu Gemeinschaften bildet der Staat den Abschluss.

Wenn der Staat um den guten Lebens willen besteht, dann folgt daraus, dass der Mensch „von Natur ein zum Staat gehörendes Lebewesen“ (physei politikon zôon) (Pol. I 2,1253a3) ist; er muss, um Mensch zu sein, in der Gemeinschaft des Staates leben. Wer aufgrund seiner Natur und nicht wegen äußerer Umstände außerhalb der staatlichen Gemeinschaft lebt, ist entweder weniger oder mehr als ein Mensch; „wer so von Natur ist, ist auch gierig nach Krieg, weil er isoliert ist“ (Pol. I 2,1253a6f.). Weil der Mensch im Staat leben muss, um Mensch zu sein, ist der Staat „von Natur früher als das Haus und jeder von uns“. Der Einzelne ist gleichsam ein Glied im Organismus des Staates, und dieses Glied oder Organ hat seine Fähigkeiten nur, solange es im Ganzen des Organismus ist. „Denn wenn das Ganze zerstört wird, wird weder Fuß noch Hand sein, außer homonym, wie wenn man eine steinerne Hand so nennt“ (Pol. I 2,1253a20–23). Dieses Verhältnis des Teils zum Ganzen ergibt sich einmal daraus, dass der Einzelne nicht autark ist und nur als Teil des Staates leben kann. Entscheidend ist jedoch eine andere Überlegung. „Denn wie der Mensch, wenn er zur Vollkommenheit gelangt, das beste Lebewesen ist, so ist er ohne Gesetz und Recht auch das schlimmste von allen.“ Die Fähigkeiten, die den Menschen vom Tier unterscheiden, sind Waffen, die er zu entgegengesetzten Zwecken gebrauchen kann. „Ungerechtigkeit ist dann am schlimmsten, wenn sie Waffen hat“. Deshalb ist der Mensch ohne die Gerechtigkeit und die anderen Tugenden das „frevelhafteste und wildeste“ Lebewesen (Pol. I 2,1253a31–36); Recht und Gerechtigkeit sind aber erst mit dem Staat gegeben.

Die Gemeinschaft des...

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