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E-Book

Stadtnomadin

Wilde Tage in Chicago, lange Nächte in Berlin

AutorSarah Marrs
VerlagEden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783944296418
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Sarah Marrs ist eine Überlebenskünstlerin: Im Jahr der Wende kommt die gebürtige US-Amerikanerin mit einem einzigen Koffer nach Deutschland und kämpft sich von da an durch Berlins Osten. In ihrem abenteuerlichen Alltag trifft sie auf schräge Gestalten und neurotische Charaktere und sieht sich immer wieder mit den Besonderheiten der deutschen Lebensart konfrontiert. Ist die sympathische Einzelgängerin gerade nicht in Berlin unterwegs, befindet sie sich auf Heimaturlaub in Chicago, wo sie mit ihrer verrückten Familie von einer absurden Situation in die nächste gerät. Mit einem untrüglichen Auge für komische Details erzählt Sarah Marrs aus ihrem turbulenten Leben. In kurzweiligen Geschichten im Stil von David Sedaris und Wladimir Kaminer nimmt sie den Leser mit auf ihre Streifzüge durch Berlin und Chicago und wirft einen spannenden Blick auf die deutsche Hauptstadt im Umbruch.

In ihrer Heimatstadt Chicago machte Sarah Marrs ihr Kunstdiplom, bevor sie sich 1989, im Jahr der Wende, in Berlin niederließ. Hier verwirklichte sie sich als Performerin, Malerin und Sängerin und mischte sich in die Künstler- und Literatenszene der deutschen Hauptstadt. Auch heute noch lebt und arbeitet Sarah Marrs in Berlin.

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Leseprobe

Queen Mum


/Seit einiger Zeit wohne ich wieder im Ausland – in meiner Heimatstadt Chicago. Ich habe meine Jeans tief im Schrank meiner Mutter verstaut und versuche nun, eine gepflegte Frau zu werden.

Erster Stopp ist die Sonderaktion im Luxuskaufhaus Neiman Marcus. Dieser Ort ist für meine Mutter das Zentrum des Universums. Sie kann in die tiefste Depression versinken – um sie daraus zu erwecken, muss man sie nur zu Neiman’s bringen, wo sie ihr Geld rausschmeißen kann, als ob es kein Morgen gäbe. Wenn der Mantel von 6.000 Dollar auf bloß 1.800 reduziert wurde, freut sie sich darüber, wie viel sie gespart hat.

Das Gute an Neiman’s ist, dass man sich Essen in die geräumigen Umkleidekabinen liefern lassen kann. Das tun wir auch sofort nach unserer Ankunft; dazu wird eine Flasche Weißwein bestellt. Die Verkäuferin strahlt uns an und bringt alles, was uns ihrer Meinung nach gefallen könnte: gelbe, grüne, blaue Röcke, Karohosen, Blusen in zarten Blumenmustern (mit oder ohne Spitzen) und knallrote Abendkleider für den großen Auftritt. Ich trage wie immer Schwarz. Die Verkäuferin und ihre Kolleginnen rennen unseretwegen so viele Meilen durch den Laden, dass man fast ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man am Ende nur ein paar Hosen zum Sonderpreis von zweihundert Dollar mitnimmt. Meine Mutter versucht, mir alles aufzuschwatzen. Es ist ihr für ihr Selbstbild sehr wichtig, großzügig auszugeben, aber an mir verdienen die hart arbeitenden Verkäuferinnen keine guten Prozente. Eigentlich bräuchte ich erst mal einen Job und eine Wohnung, denke ich mir. Kann schon sein, dass ich später zu Galaveranstaltungen eingeladen werde, aber selbst dann werde ich mit Sicherheit nicht in Knallrot erscheinen.

Meine Mutter ist eine Queen. Sie wurde in Kentucky geboren und wuchs in Evansville, Indiana, auf, wo sie zur Miss Cherry Blossom und später von einer Kühlschrankfirma zur Miss Refridgeadorable gekrönt wurde. Mit ihrem ersten Ehemann machte sie in den Flitterwochen eine Dampferfahrt nach England. Als das Schiff ablegte, sagte ihr frisch angetrauter Ehemann: »Nur weil wir verheiratet sind, heißt das nicht, dass wir monogam bleiben müssen.« Sie heulte die ganze Strecke bis nach Europa. In London und Paris arbeitete sie als Model und wurde als Cover Girl von Harper’s Bazaar und Vogue für ihren »Audrey-Hepburn-Look« bekannt. Sie war sogar das Gesicht der Bounty-Werbung. Sie hatte in Europa auch einige heiße Affären, wie ihr Ehemann immer behauptete. Ihre Rechtfertigung war: »Wenn er es tut, dann tue ich es auch.« Sie vermutete, dass er sogar mit einem seiner männlichen Studenten herumgemacht hatte: »Die waren damals unzertrennlich, wie Siegfried und Roy.«

Am besten gefielen mir immer ihre Geschichten von Marcel Deroche, einem ihrer damaligen Liebhaber aus Paris. Ich hatte das Glück, ihn auf meiner ersten Europareise mit 21 Jahren tatsächlich persönlich kennenzulernen. Ich war schwer beeindruckt, als mich der gut aussehende, große Mann in seinem Jaguar Cabriolet vor meiner Pariser Pension abholte. Obwohl er viel älter war als ich, dachte ich anerkennend: Mensch, Mama, nicht schlecht! Er zeigte mir ganz Paris. Auf roten Teppichen betraten wir die besten Restaurants der Stadt, in denen er als Stammgast herzlich empfangen wurde. Er erinnerte sich gern an meine Mutter und behauptete großzügig, er habe in seinem Leben viele Liebhaberinnen gehabt, doch meine Mutter sei die einzige Frau gewesen, die jemals bei ihm übernachten durfte.

Meine Mutter hat nie Französisch gelernt, aber liebt die englische High Society. Sie schwärmt auch heute noch voller Nostalgie von ihren Londoner Zeiten und hat niemals ihre britische Lebensart aufgegeben. Nach ihrer ersten Scheidung zog sie in den späten Fünfzigerjahren mit einer kleinen Tochter allein nach Chicago.

Mittlerweile ist sie Mitglied in drei Privatklubs und bekommt in allen eine Altersermäßigung. Sie schwärmt für eine bestimmte Werbung, in der sich edle Rassekatzen in britischem Akzent darüber unterhalten, in welchen Klub sie gehen wollen. Sie macht die Katzen gern nach und freut sich, dass ihre Freunde auch noch anderen Klubs angehören, sodass sie eine breite Auswahl an Aktivitäten und Treffpunkten haben.

Als gefeierter Beautystar trägt meine Mutter auch im Alter von 75 Jahren nur das Beste. Obwohl ich mittlerweile vierzig Jahre alt bin, gibt sie mir jeden Tag eine ausführliche Stilberatung: »Deine Haare sind zu lang ... Kriegst du einen Schnurrbart? Du siehst so hart aus, kannst du dich nicht ein bisschen femininer anziehen? Probier mal dieses Kleid an!«

Jeden rationalen Einwand schmettert sie ab: »Aber Mama, das Kleid ist für jemanden geschnitten, der einen Busen hat; ich hab nur Tittchen.«

»Na, dann hol dir halt einen BH mit Polstern.«

Okay, nun sehe ich fast aus wie eine Drag Queen.

Einerseits will meine Mutter, dass ich die traditionelle männliche Rolle in ihrem Leben übernehme. Deshalb wurde ich schon als Kind darauf trainiert, ihr die Türen aufzuhalten, damit sie anmutig in den Raum schreiten konnte und ihre Ankunft von der ihr gebührenden Aufmerksamkeit begleitet wurde, die sie mit einem majestätischen Nicken zur Kenntnis nahm. Heute soll ich das Geld für sie und ihre Enkel verdienen, sie zum High tea ausführen und der Familie rund um die Uhr als Chauffeur zur Verfügung stehen. Andererseits soll ich dabei genauso wirken wie sie selbst in ihren früheren Jahren: zart, elegant, anbetungswürdig und dazu bestimmt, auf Händen getragen zu werden. Sie hat mich mit ihren Genen gesegnet; selbst das Muttermal auf meinem Po hat die gleiche Form, Größe und die exakt gleiche Position wie ihres. Natürlich soll ich reich heiraten – und vielleicht, so wie sie, nicht nur einmal.

Doch in Chicago passiert es – leider häufiger als an irgendeinem anderen Ort –, dass ich sogar bei Tageslicht für einen Mann gehalten werde. Ich bin 1,83 Meter groß, habe Haare, die bis zur Taille gehen, und eine sehr tiefe Stimme. Taxifahrer sagen gewöhnlich beim Aussteigen zu mir: »Thank you, Sir, have a nice day.«

Einmal laufe ich die Straße entlang, als zwei Männer an mir vorbeigehen. Einer fragt den anderen verwirrt: »War das gerade ein Mann oder eine Frau?«, ohne dass meine Stimme überhaupt die Gelegenheit hatte, sie zu verwirren. Ich sehe solche Vorfälle jedoch im Allgemeinen positiv und freue mich, dass die Menschen hier so selbstverständlich mit Transsexuellen und Transvestiten umgehen.

Aber an einem anderen Tag schlendere ich durch Downtown, als plötzlich ein Mann in meine Richtung spuckt: »Schwuchtel!« Geschockt drehe ich mich um und frage: »Wie bitte?« Mein Instinkt rät mir, locker zu bleiben und seine körperliche Überlegenheit zu respektieren. Also hebe ich die Hände und sage: »Peace.«

Ich denke, eine schlimmere Situation könne mir wegen meines Aussehens nicht passieren, bis ich eines Abends in meiner langjährigen Stammkneipe Rainbo in der Schlange vor dem Frauenklo warte und sich eine Frau an mir vorbeidrängeln will. Auf meinen Protest entgegnet sie: »Ey, du bist doch ein Kerl!«

Ich verneine höflich, aber sie bleibt hartnäckig und fängt an, mich körperlich zu bedrängen, um mir den unbefugten Eintritt zur Damentoilette zu verweigern. Auch als ich sie abwehre, bleibt sie penetrant und versucht, mich zum Armdrücken herauszufordern. Da reicht es mir und ich stoße sie gegen die Wand. »Aus dem Weg, du Schlampe!«

Auf dem Klo angekommen, kann ich vor lauter Adrenalin im Blut kaum mehr pinkeln. Ich flüchte aus den sanitären Anlagen, renne zum Barkeeper und schreie hysterisch: »Ich wurde gerade auf dem Damenklo beinahe zusammengeschlagen! Wie kann es sein, dass es hier überhaupt Gay Bashing1 gibt!?«

Zum Glück kann mich ein Kumpel rechtzeitig an einen anderen Ort bringen, bevor ich richtig ausraste. Seltsamerweise häufen sich solche Situationen, seit ich die Stylingtipps meiner Mutter befolge.

Es wird Frühling und ich brauche einen Job. Ich verabrede mich mit ehemaligen Chefs und Kollegen, zu unseren Treffen in einschlägigen Galerien oder Bistros erscheine ich in edlen Mix-and-Match-Outfits2. Nach 16 Jahren in der Berliner Kunstwelt sind mir die Jobangebote und Umgangsformen in Chicago immer mehr zuwider. Trotzdem sage ich mir, ich werde die Sache durchziehen. Natürlich will ich weiter mit Kunst zu tun haben. Ich glaube an meine Kontakte in der Stadt, in der ich mein Kunstdiplom erhielt, aber vor allem glaube ich an meinen super Lebenslauf, über den die Entscheidungsträger der kulturellen Organisationen auch beeindruckt staunen. Ich versuche, selbstbewusst und gepflegt zu wirken »und bloß nicht zu viel Make-up« zu verwenden. An Ratschlägen von kreativ tätigen Mitgliedern meiner Familie in Bezug auf mein Erscheinungsbild mangelt es nicht: Es gilt, mein Outfit bis ins letzte Detail abzustimmen und das richtige Maß zwischen Businessfrau und Kulturschaffender zu treffen. Meine innovative, künstlerische Grundhaltung soll auf den ersten Blick deutlich werden, aber ich darf keinesfalls mit einem oberflächlichen Hipster verwechselt werden.

In dieser Aufmachung betrete ich mit zunehmender Routine die Büros und bekomme meinen ersten Job als...

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