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E-Book

Triumph der Unvernunft

Was irrationales Denken anrichtet - und wozu es gut ist

AutorJens Bergmann
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641209438
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Ein Buch der Stunde: Der Journalist und Psychologe Jens Bergmann über Unvernunft
Noch nie war es so leicht, sich kundig zu machen, Fakten zu prüfen und Argumente gegeneinander abzuwägen. Alle Voraussetzungen sind da, um die Kernidee der Aufklärung - sich seines Verstandes zu bedienen - Wirklichkeit werden zu lassen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Allerorten triumphiert die Unvernunft. Populistische Politiker erzielen erstaunliche Wahlerfolge, obwohl ihre Versprechen offenkundig hohl sind. Weltweit sind fundamentalistische religiöse Bewegungen auf dem Vormarsch. Allein hierzulande hängen Millionen gebildeter Menschen Verschwörungstheorien an. Und zu den bitteren Realitäten der Coronakrise gehört, dass der Staat immer wieder und mit ungeheurem Aufwand die vielen Vernünftigen vor der Unvernunft einiger weniger schützen muss.

Wie aber ist diese Sonnenfinsternis der Vernunft im Informationszeitalter zu erklären? Wohin führt sie? Und wie ließe sich ihr Einhalt gebieten? Im Mittelpunkt dieses Buches steht der Sinn des Unsinns, denn es gibt durchaus gute Gründe für irrationales Denken - und niemand ist davor gefeit.

Jens Bergmann, Jahrgang 1964, in Hannover geboren und aufgewachsen, studierte an der Universität Hamburg Psychologie und Journalistik und absolvierte die Henri-Nannen-Schule. Danach arbeitete er als Redakteur und Autor für verschiedene Printmedien, u.a. für das Wirtschaftsmagazin brand eins, Spiegel Reporter, Bild der Wissenschaft und Merian. Seit 2001 ist er Redakteur bei brand eins, seit 2017 stellvertretender Chefredakteur.

Bergmann lehrt u.a. am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg. Dort erarbeitete er mit Professor Bernhard Pörksen (heute Universität Tübingen) und Studierenden die Interview-Bände 'Medienmenschen. Wie man Wirklichkeit inszeniert' sowie 'Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung'.

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Leseprobe

Welcher Skandal darf’s heute sein?

Die Rolle der Medien

»Der Zwang, ein großes Publikum anzusprechen (…), prägt und formt. Alles, was in den Medien erscheint, muss durch einen hochprofessionellen Formungs- und hochselektiven Prüfungsprozess hindurch. Mit diesem Prozess entsteht eine neue Machart der Realität, durchaus vergleichbar derjenigen, die einst mit den Fabriken entstanden war.«1

Georg Franck

Wer vom irrationalen Denken spricht, darf von den Medien nicht schweigen. Denn noch immer gilt der Satz des Soziologen Niklas Luhmann: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«2Auch in den sogenannten sozialen Medien wird vornehmlich über das diskutiert, was Presse, Funk und Fernsehen berichten. Umgekehrt erreichen viele Themen, die zunächst im Netz kursieren, erst durch klassische Medien ein Millionenpublikum.

Zeitungen und Magazine, Fernseh- und Rundfunksender samt ihrer Online-Ableger, die ein möglichst großes Publikum ansprechen wollen, orientieren sich zu diesem Zweck an verbreiteten Affekten, archaischen Wahrnehmungs- und Denkmustern – und tragen so zu einer verzerrten Sicht der Wirklichkeit bei. Deshalb gehört Medienkritik zu einer Auseinandersetzung mit dem Irrationalen. Sie ist nicht zu verwechseln mit den Attacken rechter Kreise, die sich seit einigen Jahren auf die von ihnen so bezeichnete Lügenpresse eingeschossen haben. Letzteres ist ein Kampfbegriff von gestern, der unter anderem von Nationalsozialisten gern verwendet wurde. Er dient dazu, Berichterstattung, die nicht ins eigene Weltbild passt, zu diffamieren, am besten zu verhindern und dies als Medienkritik zu tarnen. Reine Demagogie.[****]

Hier soll es um etwas anderes gehen, nämlich um Mechanismen, Rituale und Zwänge, die die Berichterstattung auch seriöser Medien prägen. Und um die sogenannten sozialen Medien, in denen jeder in Windeseile Halbwahrheiten, Gerüchte oder Lügen verbreiten kann. All dies führt beim Publikum zu dem Eindruck, dass es in der Welt sonderbarer zugehe, als dies in Wirklichkeit der Fall ist.

Empört euch – besser nicht!

Medien betreiben das Geschäft mit der Aufmerksamkeit3, sie versuchen, möglichst viele Leser, Zuschauer, Zuhörer anzuziehen, weil das für hohe Auflagen beziehungsweise Reichweiten und entsprechende Werbeerlöse sorgt. Dieser Logik folgt auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, obwohl er dank der Gebührenfinanzierung weitgehend unabhängig von Einnahmen durch Reklame ist: Die Quote ist der ARD und dem ZDF ebenso heilig wie den Privaten.

Neben seichter Unterhaltung, Krimis und Fußball ist vor allem ein Thema geeignet, große Aufmerksamkeit zu erregen: der Skandal. Wer »Skandal!« ruft, sieht, so der Publizist Christian Schütze, nicht weniger als die Weltordnung gestört und appelliert an alle, sie zu retten.4 Es ist der Aufruf, sich zu empören; wenn er erhört wird, ist das Ergebnis mit den Worten des Medienphilosophen Lorenz Engell ein »Aufmerksamkeits- und Beachtungsexzess«.5

Da der lukrativ für die Medien und ehrenvoll für diejenigen ist, die Skandale aufdecken, erschallt der Ruf »Empört Euch!« immer häufiger. Der Journalist Andreas Förster hat dies bereits vor mehr als zehn Jahren mit einer einfachen Methode belegt: Er gab den Suchbegriff Skandal zu verschiedenen Zeitpunkten in ein elektronisches Archiv ein, in dem alle wichtigen Presseartikel gespeichert sind. Ergebnis: Allein von 1996 bis 2006 stieg die Zahl der Treffer um mehr als 80 Prozent auf 7125.6 Ist die Zahl der Missstände so dramatisch gestiegen? Die Öffentlichkeit sensibler geworden? Oder geht die Inflation eher auf das Konto der Medien, die das Reizwort immer häufiger bemühen? Vieles spricht für Letzteres.

Skandalberichterstattung kann nützlich sein, sie kann über wirkliche Missstände aufklären und dazu beitragen, dass diese abgestellt werden. Zudem ist das, was für Empörung sorgt und was nicht, ein guter Indikator für moralische Maßstäbe, die in einer Gesellschaft gelten. So ist Homosexualität hierzulande nicht mehr skandalisierbar. Das war in den Achtzigerjahren noch anders. Damals entließ der Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner den ranghöchsten deutschen General Günter Kießling mit der Begründung, dieser sei homosexuell. Kießling wurde später rehabilitiert, weil ein Reporter aufdeckte, dass eine Verwechslung vorlag; ein Mann, der dem Militär sehr ähnlich sah, war in Schwulenclubs beobachtet worden. Die Entdeckung des Doppelgängers entlastete Kießling; die Idee, einen Menschen wegen seiner sexuellen Neigung zu feuern, empfand die Öffentlichkeit damals nicht skandalös.

Das hat sich glücklicherweise geändert, aber die Lust an der Skandalisierung ist geblieben. Kontroversen zwischen Politikern werden zu Dramen aufgeblasen, Grippewellen zu Pandemien, Fälle verdorbener Lebensmittel zu tödlichen Bedrohungen. So entsteht der Eindruck, dass alles immer schlimmer werde. Oder die Leute stumpfen ab, weshalb die Medien den Regler besonders online immer höher drehen – und die Freude über jeden Erregungsvorschlag, der verfängt, umso größer ist. Im Nachhinein, wenn die allgemeine Aufregung sich gelegt hat, zeigt sich dann nicht selten, dass der Skandal weniger auf Fakten als auf Emotionen beruhte und die Wahrheit nicht schwarz oder weiß ist, sondern grau.

Ein Fall, der das anschaulich wie kaum ein anderer zeigt, ist der Kampf um die »Brent Spar«, eine der erfolgreichsten Kampagnen der Skandalisierungs-Profis von Greenpeace. Im Jahr 1995 sollte die ausgediente Ölplattform, die den Konzernen Shell und Exxon (Esso) gehörte, im Atlantik versenkt werden. Dagegen machte die Öko-Organisation mobil – und lieferte den Medien, die die Story begeistert aufgriffen, beeindruckende Bilder: Todesmutige Umweltaktivisten, die mit ihren Schlauchbooten vor der gigantischen Plattform auf den Wellen tanzten, diese enterten und besetzten. David gegen Goliath.

Greenpeace gelang es, eine große Koalition gegen die Versenkung zusammenzubringen, die von den Grünen bis zum damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl reichte, von der Bild bis zu Millionen Autofahrern, die statt bei Shell bei BP – oder in Unkenntnis der Sachlage – bei Esso tankten. Der Preis war eine drastische Vereinfachung des Problems. So thematisierte Greenpeace weder, dass die Plattform zu 50 Prozent Exxon gehörte, noch, dass jeder Autofahrer seinen Teil zur weltweiten Umweltverschmutzung beiträgt. Im Eifer des Gefechts veröffentliche die Organisation zudem Zahlen über die Menge an Giftstoffen in der »Brent Spar«, die weit überhöht waren.

Die Geschichte ging klassisch aus: mit einem symbolischen Opfer. Ohne dessen »Ritualschlachtung«, schrieb einmal der Publizist Johannes Gross, »kann der Skandal nicht beendet werden«.7 Der große Konzern Shell musste klein beigeben, die Plattform wurde an Land entsorgt. Unabhängige Wissenschaftler kamen später zu dem Ergebnis, dass das Versenken des stählernen Kolosses im Ozean keine signifikanten Umweltprobleme verursacht hätte. Die beiden britische Meeresbiologen Evan Nisbet und Mary Fowler wiesen in der Fachzeitschrift Science darauf hin, dass Schwermetalle, wie jene, die sich an Bord der »Brent Spar« befanden, in weiten Teilen des Ozeans in riesigen Mengen aus heißen Quellen am Meeresboden strömen. Und dass die Überbewertung relativ kleiner Probleme von dringenden wie der Überfischung des Nordatlantiks ablenkten.8

Der Fall »Brent Spar« zeigt, dass Skandale nicht einfach da sind. Sie müssen nicht entdeckt, sondern in gewisser Weise überhaupt erschaffen werden. Der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger erkennt in Aufdeckern von Skandalen denn auch Künstler – »Geschichtenerzähler, die einem disparaten Geschehen subjektiven Sinn verleihen und dadurch für die Allgemeinheit nachvollziehbar machen«9. Der Skandal braucht eine Dramaturgie, einen Anfang, Höhepunkte, Wendungen und das kathartische Ende. Zudem muss die Story auf einer allgemein verständlichen Meta-Ebene funktionieren: Es sollte um klassische Konflikte wie den zwischen Ohnmächtigen und Mächtigen gehen, um Liebe, Eifersucht, Betrug, Gier, Verrat oder Todesangst.

Stoffe, die für solche Geschichten nicht taugen, weil sie zu komplex und nur schwer auf eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse zu reduzieren sind, tauchen daher nur selten in den Medien auf. Die Folgen sind frappierend. So weiß nur ein halbes Prozent der Bundesbürger, dass die Zahl der extrem armen Menschen auf der Welt in den vergangenen 20 Jahren um die Hälfte zurückgegangen ist. Das ergab eine Umfrage des niederländischen Forschungsinstituts Motivaction im Auftrag unter anderem der Hilfsorganisation Oxfam.10 Demnach waren 92 Prozent der Befragten fälschlicherweise der Ansicht, die Armut sei gleich geblieben oder habe zugenommen. Wenig bekannt ist auch, dass die Zahl der Kriege und Bürgerkriege seit dem Ende des Ost-West-Konflikts rückläufig ist. Ebenso wie die Kriminalität hierzulande.

Über solche Entwicklungen erfährt man selten aus den Medien. Dafür umso...

Blick ins Buch

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