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E-Book

Twin Peaks. 100 Seiten

Reclam 100 Seiten

AutorGunther Reinhardt
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783159611556
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
An einem trüben Februarmorgen finden sie sie am Flussufer - mit Sandkrümeln in den Haaren, eisblau verfärbten Lippen, in eine Plastikfolie verpackt und auch als Leiche immer noch unerhört schön: Laura Palmer. Der Mord an der Schülerin bringt nicht nur das Leben im idyllischen Twin Peaks aus dem Gleichgewicht. Er erschüttert auch die Fernsehwelt, wie man sie bis 1990 kennt.David Lynch und Mark Frost etablierten mit 'Twin Peaks' eine neue TV-Ästhetik und schufen - mit den langen, verworrenen Erzählsträngen und den vielschichtigen Charakteren - geradezu eine neue Rolle des TV: Serien als die Romane des postmodernen Zeitalters. Was macht 'Twin Peaks' so faszinierend?Gunther Reinhardt zeichnet die Entstehungsgeschichte der Serie nach und stellt zentrale Handlungsmotive, narrative Besonderheiten, die besondere Ästhetik, die Charaktere und Serienmacher vor. Fans und Neulinge kommen auf ihre Kosten.

Gunther Reinhardt, geb. 1967, hat in Tübingen Allgemeine Rhetorik, Neuere Deutsche Literatur und Psychologie studiert. Er ist stellvertretender Leiter des Kulturressorts von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten und ständiger Mitarbeiter beim Rolling Stone. Er schreibt vor allem über Phänomene der Popkultur (Musik, Kino, Fernsehen).

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Leseprobe

»Ich weiß, wer Laura Palmer getötet hat«
Die erste Twin Peaks-Staffel


Ein ganz normaler Wintertag in einer ganz normalen Soap-Opera. »Gone fishing«, »bin angeln«, murmelt Pete Martell (Jack Nance), packt die Thermoskanne ein, wirft seiner gleichgültig die Zeitung lesenden Frau Catherine (Piper Laurie) einen Kuss zu und verlässt das Haus. Der frühe Morgen eines garstigen Februartags legt einen grauen Dunstschleier über das idyllische Holzfällerstädtchen Twin Peaks. Die Kamera folgt Pete, der allerdings nicht weit kommt. Kaum hat er einmal tief durchgeatmet, fällt ihm am Flussufer ein Plastiksack auf. Vorsichtig nähert er sich ihm. Die Kamera nimmt seine Perspektive ein, stolpert auf das Fundstück zu, verharrt. Dann Schnitt auf den entsetzten Pete. Schnitt auf den telefonierenden Pete, der Sheriff Harry S. Truman (Michael Ontkean) anruft, um ihm zu sagen, dass er die in Plastik gewickelte Leiche einer jungen Frau gefunden hat.

Tod der Ballkönigin: Die Leiche Laura Palmers (Sheryl Lee) wird in Plastikfolie verpackt am Ufer gefunden.

Wenig später wird er mit Truman, Dr. Will Hayward (Warren Frost) und Deputy Andy Brennan (Harry Goaz) wieder vor dem Plastiksack stehen. Der Arzt wird die Plastikfolie anheben und stellvertretend für alle seufzen: »Oh my God, it’s Laura!« Und während die Kamera in einer Großaufnahme auf dem eisblauen Gesicht Laura Palmers (Sheryl Lee) verharrt, windet sich aus düsteren Moll-Akkorden die traurig-schöne Klaviermelodie hervor, die sich Angelo Badalamenti als Leitmotiv für dieses ermordete Mädchen ausgedacht hat, das alle in Twin Peaks so sehr geliebt haben.

Ein konventionelles Krimidrehbuch würde nach dieser drastischen Zuspitzung zu Beginn des Twin Peaks-Pilotfilms den Spannungsbogen erst einmal abflauen, die Zuschauer zur Ruhe kommen lassen. Nicht aber David Lynch und Mark Frost. Als gelehrige Schüler Alfred Hitchcocks lösen sie die Szene damit nicht etwa auf, sondern verlängern perfide das Suspense-Moment. Noch während das Laura-Palmer-Motiv nachklingt, befindet man sich schon im Haus der Palmers. Lauras Mutter Sarah (Grace Zabriskie) stellt gerade fest, dass ihre Tochter nicht in ihrem Schlafzimmer ist. Sie ruft erst bei den Eltern von Lauras Freund und schließlich bei ihrem Mann Leland (Ray Wise) im Great Northern Hotel an. Während der sie noch beschwichtigt, betritt Sheriff Truman die Hotellobby. Palmer: »Geht es um Laura?«
Truman: »Ich fürchte ja.«
»Is this about Laura?«, fragt Leland Palmer. »I’m afraid it is«*, sagt Truman. Leland Palmer wimmert, und über das Telefon hört man seine Frau kreischen.

Rund zwölf Minuten dauert die Eröffnungssequenz des Twin Peaks-Piloten. Virtuos und hochdramatisch inszeniert diese nicht nur den Fund der Leiche und die schockierten Reaktionen der Menschen in Twin Peaks, es werden auch zahlreiche Motive und Themen angelegt, die im Verlauf der Serie Bedeutung gewinnen werden. Grandios verzahnt die Sequenz auch musikalisch die Szenen am Strand, im Haus der Palmers und im Great Northern Hotel.

Twin Peaks beginnt außerdem ganz ähnlich wie David Lynchs Film Blue Velvet aus dem Jahr 1986. Auch hier schien ein Idyll abgebildet, auch hier lauerte am Wegesrand das Schauern – dort keine in Plastik verpackte Leiche am Flussufer, sondern ein abgetrenntes Ohr im Gras. Den Finder spielte in Blue Velvet Kyle MacLachlan. In Twin Peaks kehrt MacLachlan zurück. Diesmal ist er aber kein naiver Collegeboy, sondern der FBI-Agent Dale Cooper. Er wird eingeschaltet, als sich herausstellt, dass Laura Palmer nicht das einzige Opfer ist und die zunächst vermisste Ronette Pulaski (Phoebe Augustine) halbnackt und traumatisiert jenseits der Bundesstaats-Grenze gefunden wird und danach ins Koma fällt.

Cooper wird bereits in der Pilotepisode eine ganze Reihe von Verdächtigen in Twin Peaks ausmachen und unter dem Fingernagel Laura Palmers ein Papierstück mit einem Buchstaben finden, das die Tote zudem mit Teresa Banks in Verbindung bringt: Eine Jugendliche, die weiter südlich ermordet wurde. War hier womöglich ein Serienmörder am Werk?

Der Pilotfilm erzählt, was am Tag nach dem Fund der Leiche geschieht (auch die späteren Folgen werden stets einen Tag und eine Nacht umfassen). Cooper geht mit einem heiligen, unvoreingenommenen Eifer allen Spuren nach. Er unterscheidet dabei nicht, ob sich diese aus Hinweisen, Verhören, Indizien, den Holzklotz-Orakeln der sogenannten Log Lady oder aus seinen Träumen ergeben. Und er sucht nicht nur nach einem Mörder aus Fleisch und Blut, sondern auch nach einem Dämon, der Körper benutzt, um grausame Taten zu verüben.

Der Zuschauer trifft währenddessen im Double R Diner auf die Kellnerin Shelly Johnson (Mädchen Amick), die mit dem Kleinkriminellen Leo (Eric DaRe) verheiratet ist, aber mit Bobby Briggs (Dana Ashbrook) herummacht, der eigentlich der Freund von Laura Palmer war. Man lernt James Hurley (James Marshall) kennen, der eine heimliche Romanze mit Laura hatte, oder Donna Hayward (Lara Flynn Boyle), die Lauras beste Freundin war und in James verknallt ist.

Außerdem leben in diesem mit ordentlich Telenovela- und Soap-Opera-Theatralik aufgeladenen Ort namens Twin Peaks: die verträumte Lolita Audrey Horne (Sherilyn Fenn), die sich in Dale Cooper verliebt; die mysteriöse Sägewerks-Erbin Josie Packard (Joan Chen), die eine Affäre mit Sheriff Truman hat; James’ Onkel Big Ed Hurley (Everett McGill), der mit der manisch-depressiven Nadine (Wendy Robie) verheiratet ist, sich aber heimlich mit der Diner-Chefin Norma Jennings (Peggy Lipton) trifft, deren Mann Hank (Chris Mulkey) gerade im Knast sitzt und früher mit Leo Geschäfte gemacht hat; den Hotelbesitzer Benjamin Horne (Richard Beymer), der dienstlich und privat eine geheime Liaison mit Catherine Martell hat, deren Mann Pete wiederum mehr als nur väterliche Gefühle für Josie Packard empfindet.

Als der Twin Peaks-Pilotfilm, der in nur 21 Drehtagen entstand, im Mai 1989 erstmals internationalen Programmeinkäufern vorgeführt wird, stößt er auf großes Interesse und wird in 55 Länder verkauft. Sosehr das die ABC-Verantwortlichen freut, so sehr beunruhigt sie, dass die Filmkritiker den Piloten ein bisschen zu überschwänglich loben – in Connoisseur behauptet Howard A. Rodman zum Beispiel, Twin Peaks sei »die Serie, die das Fernsehen verändern wird«. Nach Screenings beim Miami Film Festival und beim TV-Festival in Monte Carlo gibt es so viel Lob, dass ABC schon befürchtet, eine Show nur für Cineasten, nicht aber für ein breites Publikum gemacht zu haben. Doch die Sorge ist unbegründet. Als der Pilotfilm am Ostersonntag, 8. April 1990, um 21 Uhr ausgestrahlt wird, gibt es eine Einschaltquote von unfassbaren 33 Prozent, was 35 Millionen Zuschauern entspricht. Und obwohl Twin Peaks damals gegen die überaus populäre Sitcom Cheers antritt, lockt die Serie auch in späteren Folgen durchschnittlich 15 Prozent der Zuschauer vor den Fernseher.

Viele der Handlungsstränge, die einen in der ersten Twin Peaks-Staffel beschäftigen, sind bereits in der neunzigminütigen Twin Peaks-Pilotepisode angelegt. Die erste Staffel von Twin Peaks entführt in eine verzerrte Soap-Opera-Welt, erzählt viele miteinander verknüpfte Geschichten, in die insgesamt rund 30 Charaktere verwickelt sind. Der Plot schlängelt sich durch ein Knäuel an Ideen, das schwer zu entwirren, zu entknoten ist. Ständig droht die Serie den Faden zu verlieren oder sich zu verheddern und findet doch immer wieder zu der zentralen Frage zurück: Wer hat Laura Palmer umgebracht?

Zwar wacht Cooper am Ende der dritten Folge aus einem bizarren Traum auf und ruft im Schlafanzug Sheriff Truman an: »Harry, hier ist Cooper. Treffen Sie mich zum Frühstück um sieben Uhr in der Hotellobby. Ich weiß, wer Laura Palmer ermordet hat.«»Harry, it’s Cooper. Meet me for breakfast, 7 a. m., the hotel lobby. I know who killed Laura Palmer.«* Doch zum Glück kann er sich am nächsten Morgen nicht mehr an den Namen des Mörders erinnern. Frost und Lynch behalten ihr Geheimnis erst einmal für sich. »Ich mag den Prozess, in ein Geheimnis einzudringen«, sagt Lynch, »ich bin wirklich dankbar für Geheimnisse und für Rätsel, denn sie spornen einen dazu an, ihrem Wesen auf die Spur zu kommen, und sie öffnen einen hübschen kleinen Durchgang, durch den man sich hinaustreiben lassen kann, dorthin, wo viele, viele schöne Dinge geschehen können. Ich hoffe eigentlich, dass ich niemals die allumfassende Antwort erhalten werde, es sei denn, sie geht einher mit einem gewaltigen Schuss an Glückseligkeit.«

Die Frage, wer Laura Palmer umgebracht haben könnte, wird im Jahr 1990 zu einem Medienhype. Und selbst die Mitwirkenden der Serie sind (oder geben sich) unwissend. »Ich hatte den Eindruck, dass die Leute ständig daran herummachten, und der Sache fast sogar zu viel Aufmerksamkeit zukommen ließen«, sagt Mädchen Amick (Shelly Johnson). »Das Komische an der Sache war, dass alle glaubten, ich wüsste die Antwort«, sagt Laura-Palmer-Darstellerin Sheryl Lee, »aber ich wusste gar nichts.« Ray Wise, der ihren Vater spielt, sagt: »Ich weiß nur, bei dem ganzen Tumult, den es damals um die Sache gab, habe ich die ganze Zeit gebetet, dass ich nicht der Mörder bin.« Und während der Kameramann und...

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