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E-Book

Um uns die Toten

Meine Begegnungen mit dem Sterben

AutorBartholomäus Grill
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641124021
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Sprachmächtig , ergreifend, außergewöhnlich
Der Bestsellerautor und preisgekrönte Reporter Bartholomäus Grill erzählt die Geschichte seiner Lebensreise mit dem Tod. Seine eindringlich geschilderten Begegnungen mit dem Sterben, vom frühen Tod der Schwester über das Lebensende der Eltern bis hin zum Massensterben in Afrika und dem Freitod des unheilbar kranken Bruders, machen »Um uns die Toten« zu einer ganz persönlichen und zugleich allgemeingültigen Auseinandersetzung mit dem Tod. Ein literarisches Sachbuch, das unter die Haut geht.

Bartholomäus Grill nimmt den Leser mit auf eine Reise, die von der bayerischen Heimat über Rumänien und Afrika nach Zürich und wieder zurück führt, eine Reise, die zu einem ergreifenden Memento mori wird. Die Erfahrungswelt beginnt im erzkatholischen Bayern, wo der Tod allgegenwärtig und faszinierend erscheint. Als Auslandskorrespondent begegnet ihm der Tod als Massenmörder, in Gestalt von Kriegen, Epidemien und Hungersnöten. Im Kontrast dazu steht das Sterben der Liebsten: der Tod der schwerstbehinderten Schwester, die kurz nach der Geburt stirbt, das einsame Ende des Vaters, der Freitod des Bruders und das erbarmungslose Sterben der Mutter.
Ein sprachgewaltiges Buch, das berührt und lange nachklingt. In dem Sich-vergewissern der eigenen Sterblichkeit, aber auch in der Freiheit, »nicht an den Tod denken zu müssen«, ist »Um uns die Toten« zugleich ein bewegendes und außergewöhnliches Buch über das Leben.

Bartholomäus Grill, 1954 in Oberaudorf am Inn geboren, wuchs auf einem Bauernhof auf, den seine Eltern in der Tradition nachhaltiger Kreislaufwirtschaft führten. Er studierte Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte. Vier Jahrzehnte lang hat er als Korrespondent der ZEIT und des SPIEGEL aus Afrika berichtet und immer wieder über den Siegeszug der globalen Landwirtschaft geschrieben. 2006 wurde er für eine Reportage über den Tod seines Bruders mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Grill veröffentlichte den Bestseller »Ach, Afrika« (2003), außerdem »Um uns die Toten« (2014), »Wir Herrenmenschen« (2019) und zuletzt »Afrika!« (2021). Er lebt in Kapstadt.

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Leseprobe

Die Kappe auf dem Kopf des Kutschers

Es sei ein kalter, sonniger Februartag gewesen, Tante Afra erinnert sich noch genau. Mir fällt niemand ein, den ich sonst noch fragen könnte, und es leben auch nicht mehr viele, die eine Antwort wüssten. Ich habe den Tag ganz anders im Gedächtnis: grau und frostig. Ein scharfer Westwind wehte durch den Halmberger Hof, als der Leichenwagen von Kirchreit her kommend in die Durchfahrt zwischen Getreidestadel und Bauernhaus einbog, ein Gespann mit zwei kastanienbraunen Gäulen, auf dem Kutschbock saß ein Mann mit kantigem Gesicht. Kurz bevor das Gefährt vor der Haustür zum Stehen kam, riss eine Bö die Kappe von seinem Kopf. »Brrrrrrrr«, rief er den Pferden zu und fasste auf sein entblößtes Haupt. Der Leichenwagen stand still, und der Kutscher stieg ab, um die Kappe aufzuheben.

Ich stand unter dem Lederapfelbaum im Obstanger und verfolgte gebannt das Geschehen. Es war meine erste Begegnung mit dem Tod. Drei Tage vorher, am 8. Februar 1958, war der Großvater gestorben. Er hieß Bartholomäus, wie ich. Er lag aufgebahrt im Hausflur, trug seinen besten Anzug und rührte sich nicht mehr. Er ist jetzt bei den Engeln, erklärte die Großmutter. Die Toteneinsagerin, ein altes, dickes Weiblein, hatte die Nachricht in die Gemeinde getragen und zum Sterberosenkranz gebeten. Nun, am Morgen der Beerdigung, versammelten sich die Angehörigen, Verwandten und Nachbarn im Hausgang, um vom Halmberger Bartl Abschied zu nehmen. Die Trauernden trugen schwarze oder graue Gewänder, sie sahen aus wie die Rabenvögel, die draußen auf den kahlen Äckern herumhüpften. Sie sprachen gedämpft, raunten, flüsterten. Waren sich einig, dass er eigentlich einen schönen Tod gehabt habe, in Prutting, am Tag nach der Hochzeit seiner Nichte. Er sei Trauzeuge gewesen, erzählt seine Tochter, die Tante Afra, der Schlag habe ihn am nächsten Tag getroffen, unmittelbar nach der Sonntagsmesse.

Mein Vater aber tischte eine Version auf, die ich viel attraktiver fand: Großvater sei mitten im Hochzeitstanz niedergesunken und habe sich gleichsam hineingedreht ins ewige Leben. Vater berichtete auch von einem prophetischen Traum der Großmutter. Der Gatte sei ihr zwei Nächte nach seinem Tod erschienen und habe sie auf das Geld in der Innentasche seines Anzugs hingewiesen, zweihundert Mark. Am anderen Morgen sei die Großmutter an die Bahre im Hausgang getreten, habe das Jackett aufgeknöpft und die Scheine gefunden. Ich nehme an, dass mein Vater diesen Vorfall frei erfunden hat, er neigte zu Übertreibungen und Mythologisierungen. Seinerzeit aber nahm ich seine Geschichte für bare Münze. In meinen Augen war der wundersame Fund eine jener mysteriösen Begebenheiten, die sich beim Tod eines Menschen ereignen.

Ein Hauch des Übersinnlichen liegt auch über dem Testament des Großvaters, er hatte es, sein baldiges Ende offenbar ahnend, am 1. Februar handschriftlich verfasst, genau eine Woche vor dem Herzinfarkt. Überdies hat sich der Tod schon im Spätherbst 1957 angekündigt, am Tag der Beerdigung der alten Mare, seiner Tante, die nie geheiratet hatte und auf dem Hof von ihrem Leibgedinge zehrte. Als nämlich der Leichenwagen mit ihrem Sarg abfuhr, scheuten die Pferde, stemmten sich gegen die Deichsel und schoben das Fuhrwerk eine Radumdrehung zurück. Ein Nachbarbauer meinte, dies sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass aus diesem Haus schon bald der Nächste heraussterben werde. Der Nächste war der Großvater.

Mehr weiß ich von seinem Heimgang nicht mehr. Der Platz am schmalen Bürotisch in der Stube war fortan leer, die Schreibmaschine, eine Mercedes Prima aus Zella-Mehlis, hatte zu klappern aufgehört. Die Zither blieb stumm, das Sachs-Motorrad unbewegt. Es sollte keine Spazierfahrt mehr geben, bei der ich vorne auf dem Benzintank sitzen durfte. Gegenüber dem Kachelofen hing ein Bild des Großvaters. Sein strenger, traurig anmutender Blick hat meine ganze Kindheit und Jugend begleitet.

Großvater Bartholomäus,
gestorben am 8. Februar 1958

Die schwebende Kappe des Kutschers des Leichenwagens, ein gefrorener Augenblick, eine magische Sekunde – diese Szene bleibt in meinem Gedächtnis wie ein surrealistisches Gemälde von Giorgio de Chirico. Es war meine erste bewusste Anschauung des Todes. Sie sollte sich als dessen Urgestalt in meine kindliche Vorstellungswelt einschreiben.

Fast ein halbes Jahrhundert später, an einem Novembertag des Jahres 2004, trat eine neue Gestalt des Todes in das Bild, ein Mann in einem beinlangen, schwarzen Ledermantel. Er trug eine Sonnenbrille und stand just an der Stelle vor der Haustür, an der einst der Leichenwagen angehalten hatte, um den Sarg des Großvaters abzuholen. Es war ein warmer, bernsteingelb leuchtender Spätherbstmorgen. Der Mann schaute sich noch einmal um. Das Bauernhaus. Der Obstanger. Der Hühnerstall. Der Getreidespeicher. Der Taubenkobel. Das leere Storchennest auf dem Dachfirst. Der letzte Blick – ein Abschied für immer. Der Mann war Urban, mein unheilbar kranker Bruder. Er stieg an diesem Tag in ein Auto, das ihn nach Zürich brachte, zu den Sterbehelfern von Dignitas. Er hatte sich für den assistierten Freitod entschieden. Dreißig Stunden später sollte er nicht mehr unter uns sein.

Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen all meine Begegnungen mit dem Tod, die ich in diesem Buch beschreibe. Es birgt, um falschen Erwartungen vorzubeugen, keine Abhandlung über das Altern und die Begleiterscheinungen des biologischen Verfalls. Auch Querverweise auf den Generationenkonflikt in einer modernen westlichen Gesellschaft, in der immer mehr Alte und immer weniger Junge um begrenzte Zukunftsressourcen konkurrieren, werden die Leser vergeblich suchen. Das Buch will auch kein Ratgeber zum Thema Sterben und Sterbehilfe sein. Es ist vielmehr der Versuch einer sehr subjektiv gefärbten Phänomenologie des Todes, ein Herantasten an die Gestalten, Figuren oder Personifikationen, in denen er mir erschienen ist, die sich in mein Bewusstsein gesenkt und mit kollektiven Repräsentationen vermengt haben, mit jener Vielfalt von Vorstellungen, Sinnbildern, Metaphern und Ideen vom Tode, die wir mit uns herumtragen. Aber es sind eben nur schattenhafte Abbilder des Todes – sein Wesen bleibt uns so verschlossen wie den gefesselten Menschen in Platons Höhlengleichnis, die ihre Sinneseindrücke für die Wirklichkeit halten.

Im Zentrum steht der Freitod meines Bruders Urban, sein langer Kampf gegen den Krebs, schließlich sein unwiderruflicher Entschluss, das Leiden und den endlos sich hinziehenden Prozess des Sterbens zu beenden. Er sprach von seiner letzten Freiheit, von der Freiheit des erlösenden Todes. Urban bat mich, seine Geschichte aufzuschreiben, um Menschen, die sich in einer ähnlich verzweifelten Lage befinden, einen Ausweg anzubieten. Nachdem er gegangen war, zögerte und zauderte ich ein ganzes Jahr, ehe ich den Text zu Papier brachte. In dieser Zeit, ich war gerade fünfzig Jahre alt geworden, begann meine bisweilen obsessive Beschäftigung mit dem Sterben und dem Tod – viel zu früh, sagten gleichaltrige Freunde, die im Spätsommer des Lebens noch nichts von den letzten Dingen wissen wollten. Den Fragen aber, die ich im Zusammenhang mit dem assistierten Suizid meines Bruders aufwarf, konnten sie sich nicht entziehen. Niemand kann sich ihnen entziehen, sie stellen sich zwangsläufig im Rahmen der großen ethischen Kontroversen in einer vergreisenden Gesellschaft. Wie gehen wir mit den Verheißungen einer Hochleistungsmedizin um, die die Herrschaft über den Tod an sich gerissen hat? Wie weit soll unsere Hilfe für Schwerstkranke gehen? Wer darf wann lebensverlängernde Geräte abschalten, die oft nichts anderes sind als Sterbeverlängerungsmaschinen? Über diese Fragen habe ich mit einem der bedeutendsten katholischen Moralphilosophen unserer Zeit gestritten, mit Robert Spaemann, einem entschiedenen Gegner jeder Form von Sterbehilfe. Im Kontext dieses Gesprächs schildere ich auch die Folgen, die das Niederschreiben und die Veröffentlichung der Geschichte meines Bruders hatten: die zahllosen Briefe und Hilferufe von Menschen, die ein ähnliches Schicksal durchlitten; den schamlosen Voyeurismus der Medien; den moralischen Druck auf die Familie; schließlich meine Weigerung, öffentlich über den assistierten Freitod zu sprechen. Mein Bruder sollte endlich Ruhe finden. Ich hatte mir eine Art benediktinisches Schweigen auferlegt.

In diesem Buch beende ich zehn Jahre des Schweigens und erzähle von meiner Auseinandersetzung mit dem Tod, die die existenzielle Erfahrung meines Bruders ausgelöst hatte. Sie beginnt mit dem Rückblick auf die alpenländische Totenkultur, die meine Kindheit geprägt hat, auf den Katholizismus und seine Erlösungslehre von der Auferstehung und dem ewigen Leben, auf das Memento mori, das ich in den frühen Jahren verinnerlicht habe, und auf die Ars moriendi, jene mittelalterliche Kunst des Sterbens, welche die Todesfurcht bannen soll. Die Auseinandersetzung endet mit dem Sterben meiner Mutter in der Trostlosigkeit einer Intensivstation, als ich den Tod stärker denn je als ruchlosen Mörder empfand.

Der Tod hat tausend Gesichter, und ich habe in viele geschaut, das brachte mein Beruf als Auslandskorrespondent mit sich. Die ersten Einsätze in den achtziger Jahren führten mich nach Osteuropa, nach Polen, wo Geheimagenten der wankenden Jaruzelski-Diktatur regimekritische Priester entführten und umbrachten. Dann, Weihnachten 1989, nach Rumänien, als der Despot Nicolae Ceauçescu gestürzt und hingerichtet wurde und mir beim Anblick vermeintlicher Folteropfer des Geheimdienstes Securitate der Tod erstmals als furchtbarer Menschenschinder erschien. Drei Jahre später wurde ich von der...

Blick ins Buch

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