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E-Book

Und doch ein ganzes Leben

Ein Mädchen, das Auschwitz überlebt hat

AutorHelga Weiss
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783838739120
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Als Helga 1939 ihr Tagebuch beginnt, ist sie noch ein Kind. Der Einmarsch der Deutschen in Prag und die antisemitische Brutalität der Nationalsozialisten reißen sie aus ihrer heilen Welt: Ihr Vater darf nicht mehr arbeiten, die Schule ist ihr plötzlich verschlossen, sie darf die Wohnung nicht verlassen, Freunde und Verwandte verschwinden.

Als schließlich auch Helgas Familie deportiert wird, erst nach Theresienstadt, später nach Auschwitz, spendet ihr das Tagebuch Trost und Kraft. Wie durch ein Wunder überleben Mutter und Tochter die Transporte, das Lager und die Todesmärsche der letzten Kriegstage - und mit ihnen dieses einzigartige Zeitzeugnis.

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Leseprobe

1. Prag


Was bedeutet das eigentlich, diese »Mobilmachung«? Alle jungen Männer müssen einrücken. Und warum? Noch vor kurzem hieß es immerzu nur Österreich, und jetzt schon wieder eine Mobilmachung. Alle reden nur noch hiervon. Aber was ist das? Warum sind Papa und Mama heute nicht zu Hause? Anstatt mir etwas über diese Mobilmachung zu sagen, sind sie weggegangen, um Radio zu hören. Das ist sowieso nur eine Ausrede, Radio hören können sie ja auch zu Hause. Bestimmt haben sie Bekannte besucht, damit sie sich über diese Mobilmachung unterhalten können. Was denken sie eigentlich von mir? Dass ich immer noch diese Kleine bin, mit der man über nichts reden kann? Ich bin doch schon groß, immerhin werde ich schon neun. Um Himmels willen, was hat die Uhr gerade geschlagen? Und ich bin immer noch auf, dabei muss ich doch morgen früh in die Schule. Wegen dieser dummen Mobilmachung hätte ich doch glatt die Schule vergessen.

Was für ein Luftangriff? In den Keller, jetzt, mitten in der Nacht? Warum weckst du mich denn, Mama? Was ist los, was geht hier vor? Was machst du denn da, du kannst mir doch nicht meine Kleider über den Schlafanzug ziehen!

Da ertönte schon im Hausflur der Gong, der alle in den Luftschutzraum rief. Papa ging in der Diele ungeduldig auf und ab, und kaum hatte Mama mir die Trainingshose übergestreift, rannten wir auch schon zum Keller. Der Hausmeister schloss einen alten Lagerraum auf, der uns Unterschlupf bieten sollte. Dort war wenig Platz, wir saßen eng aneinandergedrängt, aber letztendlich passten doch alle hinein. Anfangs sagte niemand ein Wort, nur die angsterfüllten Augen in allen Gesichtern fragten: »Was wird das wohl werden, was hat das zu bedeuten?« Nach einer Weile wurde die Stimmung jedoch ein wenig besser. Die Männer beruhigten die Frauen, obwohl sie selbst nicht weniger aufgeregt waren als diese. Sie konnten sich besser beherrschen und machten Witze. Etwa eine halbe Stunde später verkündete der Sirenenton das Ende des Luftangriffs. Alle kehrten in ihre Wohnungen zurück. Die Eltern meiner Freundin luden uns ein, den Rest der Nacht bei ihnen zu verbringen. Eva und ich wurden ins Bett geschickt, unsere Eltern blieben im Nebenzimmer, wo sie Radio hörten. Uns war so gar nicht nach Schlafen zumute. Warum sollten wir schlafen, wenn die anderen auf waren? Und wenn wir dann doch schon fast eingenickt waren, heulte die Sirene auf. Das passierte in jener Nacht noch drei Mal, und jedes Mal gingen wir in den Schutzraum.

Wir kamen die ganze Nacht nicht zum Schlafen. Wir Kinder sehnten schon den Morgen herbei. Da würde es in der Schule was zu erzählen geben! Vielleicht fällt ja sogar der Unterricht aus, das wäre prima. Die Erwachsenen hatten andere Sorgen und freuten sich deshalb nicht so sehr, wenn die Sirene aufheulte. Gott sei Dank ging aber alles gut aus. Es waren nur Alarme und kein Luftangriff.

*

Am nächsten Morgen ging ich zur Schule. Vom Unterricht bekamen wir nicht viel mit. Wegen der vergangenen Nacht waren wir alle aufgeregt und unausgeschlafen. Wir erzählten uns gegenseitig unsere nächtlichen Abenteuer. Das Erzählen wollte gar kein Ende nehmen. Nach dem Mittagessen (das nicht besonders gut war, denn niemandem stand der Sinn nach Kochen) traf sich das ganze Haus wieder im Schutzraum. Diesmal war es nicht wegen eines Luftangriffs, sondern um ihn aufzuräumen, falls wir noch einmal die ganze Nacht darin verbringen müssten. Wir trugen alle Sachen hinaus, die in den Lagerraum gehörten, die Frauen machten sich ans Fegen und Schrubben, die Männer stellten einen Verbandskasten zusammen und bereiteten einen Geheimausgang vor. Die Mütter richteten die Warenfächer als Schlafstellen für uns her. Zum Schluss brachte jeder noch einen Koffer mit Vorräten. Eine Zeitlang wurde noch erzählt und dann gingen wir in unsere Wohnungen und warteten ängstlich, was die Nacht bringen würde. Sie verlief wider Erwarten ruhig. Trotzdem entschieden Papa und Evas Vater, dass es zu gefährlich sei, in Prag zu bleiben. Gleich am Nachmittag machten sie sich auf, um irgendeine geeignete Wohnung außerhalb von Prag zu finden, in der wir bleiben könnten, bis die Gefahr vorbei war. Sie mieteten für uns zwei Zimmer in einer kleinen Villa in Úvaly. In der Zwischenzeit hatten unsere Mütter schon gepackt und am nächsten Tag fuhren wir ab.

~

Als man den Eindruck hatte, dass in Prag keine Gefahr mehr drohe, kehrten wir nach Hause zurück. Inzwischen war unser Präsident Eduard Beneš abgetreten und Emil Hácha hatte seinen Platz eingenommen. Das war die Zweite Republik. Danach war eine Weile Ruhe, aber nicht lange. Eines Tages wurde unser neuer Präsident nach Berlin gerufen, wo über die Zukunft der Tschechoslowakei verhandelt werden sollte. Wieder herrschte im ganzen Land große Aufregung. Alle ahnten, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde. Und sie täuschten sich nicht.

~

15. März 1939


Als ich am Morgen aufwachte, saßen Mama und Papa mit hängenden Köpfen vor dem Radio. Zuerst wusste ich nicht, was geschehen war, doch schon bald wurde es mir klar. Aus dem Radio ertönte eine zitternde Stimme: »Heute Morgen um 6 Uhr 30 hat die Deutsche Wehrmacht die tschechoslowakische Grenze überschritten.« Zwar verstand ich den Sinn dieser Worte nicht ganz, aber ich spürte, dass sie etwas Schreckliches bedeuteten. Der Radiosprecher wiederholte noch mehrere Male: »Bleiben Sie ruhig und besonnen!« Ich blieb noch eine Weile im Bett. Papa kam und setzte sich zu mir auf die Bettkante. Er wirkte ernst, und ich konnte sehen, dass er sehr bestürzt war. Er sagte kein Wort. Ich nahm seine Hand und spürte, wie sie zitterte. Die Stille wurde nur vom leisen Ticken der Uhr unterbrochen. Etwas Schweres lag in der Luft. Niemand wollte das verlegene Schweigen brechen. So verharrten wir mehrere Minuten. Dann zog ich mich an und ging zur Schule. Mama begleitete mich. Unterwegs begegneten wir bekannten und unbekannten Gesichtern, doch in allen stand dieselbe Angst und Betroffenheit. Alle fragten sich: Was wird jetzt geschehen?

In der Schule herrschte gedrückte Stimmung. Das fröhliche Plappern und das sorglose Lachen der Kinder waren einem verängstigten Flüstern gewichen. Auf den Fluren und in den Klassenzimmern standen Grüppchen von Mädchen und besprachen das Geschehene. Nach dem Läuten gingen wir in unsere Klassen. An diesem Tag fand nicht viel Unterricht statt. Wir waren alle mit den Gedanken woanders und verspürten Erleichterung, als schließlich die Schulglocke wieder läutete. Nach dem Unterricht wurden viele der Mädchen draußen von ihren Eltern erwartet. Auch ich wurde von Mama abgeholt. Auf dem Heimweg sahen wir massenhaft deutsche Autos und Panzer. Das Wetter war unwirtlich, es regnete, Schnee fiel, der Wind heulte. Es war, als würde die Natur protestieren.

~

So gerieten wir, ohne zu begreifen, wie und wozu es geschah, unter die »Obhut« des Deutschen Reichs. Wir bekamen auch einen neuen Namen. Anstelle von Tschechoslowakei heißt unser Land jetzt »Protektorat Böhmen und Mähren«.

Vom 15. März an gibt es keinen einzigen ruhigen Tag mehr. Es werden immer wieder neue Verordnungen erlassen, die uns mehr und mehr unterdrücken und kränken. Kein einziger Tag vergeht ohne neue Repressalien. Uns Juden trifft es am meisten. Alles wird auf uns geschoben. Wir sind an allem schuld, alles ist unser Fehler, auch wenn wir nichts verbrochen haben. So wie wir nichts dafür können, dass wir Juden sind, können wir auch nichts für alles andere. Doch danach fragt niemand, sie haben einfach das Gefühl, ihre Wut an jemandem auslassen zu müssen, und wer würde sich da besser eignen als natürlich die Juden. Der Antisemitismus wächst, die Zeitungen sind voll von judenfeindlichen Artikeln.

*

Die judenfeindlichen Verordnungen werden immer schärfer. Große Aufregung verursachte in den jüdischen Familien die Nachricht, dass Juden nicht mehr in öffentlichen Ämtern arbeiten dürfen. Kein »Arier« (dieses Wort kannten wir bisher gar nicht) darf einen nichtarischen Juden einstellen. Jetzt kommt es Schlag auf Schlag, Erlass auf Erlass. Man weiß kaum mehr, was man tun darf und was nicht. Es ist verboten, Cafés, Lichtspielhäuser, Theater, Spielplätze, Parks zu besuchen … So viel ist verboten, dass ich mir gar nicht alles merken kann. Unter allen Erlassen war einer, der mich sehr getroffen hat: der Ausschluss jüdischer Kinder von öffentlichen Schulen. Ich war sehr unglücklich, als ich davon erfuhr. Nach den Ferien sollte ich in die fünfte Klasse kommen. Ich gehe gern in die Schule, und die Vorstellung, dass ich nie wieder mit meinen Mitschülerinnen in der Schulbank sitzen darf, treibt mir die Tränen in die Augen. Doch ich muss mich beherrschen, denn es kommen noch andere Dinge auf mich zu, und viele davon werden bestimmt viel schlimmer sein.

Schilder in deutscher und tschechischer Sprache an einem Kinderspielplatz in Prag, 1939

1. September 1939


Der Krieg ist ausgebrochen. Das hat niemanden überrascht. So wie sich die Dinge entwickelt hatten, musste man damit rechnen. So schrecklich die Vorstellung auch ist, dass dies zu einem Weltkrieg führen könnte, ist es nicht nur für uns, sondern für alle unterjochten Völker die einzige Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft.

*

Noch vor dem Ende der Ferien hatte Papa mich bei einer Hausunterrichtsgruppe angemeldet, damit ich weiter lernen kann. Es ist zwar nicht wie in der Schule, aber ich gewöhne mich schon langsam, und diese neue Art des Lernens beginnt mir zu gefallen. Unsere Gruppe besteht aus fünf jüdischen Mädchen. Unsere Lehrer sind zwei junge Studenten, die ihr Studium aus denselben Gründen abbrechen mussten...

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