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E-Book

Verratene Revolution

Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?

AutorLeo Trotzki
VerlagMEHRING Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl353 Seiten
ISBN9783886348053
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wenige Werke der politischen Literatur haben vor der Geschichte so glänzend bestanden wie Leo Trotzkis 'Verratene Revolution'. Mehr als siebzig Jahre nach ihrer Entstehung im Jahr 1936 ist diese Analyse der Sowjetunion noch immer unübertroffen. Sie sagt mehr über die Struktur und die Dynamik der sowjetischen Gesellschaft aus, als irgendein anderes Buch. Trotzki charakterisierte die Sowjetunion als eine 'Übergangsgesellschaft', deren Charakter und Schicksal die Geschichte noch nicht entschieden habe, und betont die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, das stalinistische Regime zu stürzen, auf der Grundlage der Sowjetdemokratie wieder die Kontrolle über den Staat zu erlangen und die Sowjetgesellschaft in den Sozialismus zu führen. Die Alternative sei nur die Gefahr eines katastrophalen Rückfalls in den Kapitalismus und damit der Vernichtung der UdSSR, wenn die Bürokratie an der Macht bliebe und im Interesse ihrer eigenen privilegierten Stellung weiterhin das kreative Potential der verstaatlichten Planung ersticke. Das Ende der Sowjetunion im Jahr 1990 und der anschließende soziale, politische und kulturelle Niedergang Russlands haben diese hypothetische Voraussage in erstaunlichem Maße bestätigt und bewahren Trotzkis Werk bis heute vor einem Verlust an Aktualität und Brisanz. Die vorliegende Ausgabe enthält eine ausführliche Einleitung von David North, der die Ereignisse am Ende der Sowjetunion im Lichte von Trotzkis Analyse untersucht.

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Leseprobe

Kapitel 1 
 
Was ist erreicht?

Infolge der Unbedeutendheit der russischen Bourgeoisie konnten die demokratischen Aufgaben des zurückgebliebenen Russland – wie die Liquidierung der Monarchie und der Knechtung der noch halb leibeigenen Bauernschaft – nicht anders gelöst werden als durch die Diktatur des Proletariats. Nachdem das Proletariat an der Spitze der Bauernmassen die Macht erobert hatte, konnte es indessen bei den demokratischen Aufgaben nicht stehen bleiben. Die bürgerliche Revolution verschmolz unmittelbar mit dem ersten Stadium der sozialistischen Revolution. Das war kein Zufall. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte bezeugt besonders anschaulich, dass unter den Bedingungen des kapitalistischen Verfalls die zurückgebliebenen Länder unmöglich dasselbe Niveau erreichen können wie zu ihrer Zeit die alten kapitalistischen Metropolen. Selber in eine Sackgasse verrannt, versperren die Zivilisatoren den sich Zivilisierenden den Weg. Russland betrat die Bahn der proletarischen Revolution, nicht weil seine Wirtschaft zuerst für die sozialistische Umwälzung reif gewesen wäre, sondern weil sich diese auf kapitalistischer Grundlage überhaupt nicht weiterentwickeln konnte. Die Vergesellschaftung des Eigentums an den Produktionsmitteln war eine notwendige Voraussetzung, um das Land aus der Barbarei herauszuführen: Das ist das Gesetz der kombinierten Entwicklung der zurückgebliebenen Länder. Als »schwächstes Glied der kapitalistischen Kette« (Lenin) in die sozialistische Revolution eingetreten, steht das ehemalige Zarenreich auch heute, im neunzehnten Jahr nach der Umwälzung, noch vor der Aufgabe, Europa und Amerika »einzuholen und zu überholen« – folglich vorerst einzuholen – d. h. die Aufgaben der Technik und der Produktion zu lösen, die der fortgeschrittene Kapitalismus längst gelöst hat. 

Ja, konnte es auch anders sein? Der Sturz der alten herrschenden Klassen hat die Aufgabe, aus der Barbarei zur Kultur emporzusteigen, nicht gelöst, sondern lediglich bloßgelegt. Dadurch, dass die Revolution zugleich das Eigentum an den Produktionsmitteln in der Hand des Staates konzentrierte, schuf sie die Möglichkeit, neue, unvergleichlich wirksamere Wirtschaftsmethoden anzuwenden. Nur dank planmäßiger Leitung wurde in kurzer Frist wiederaufgebaut, was der imperialistische und der Bürgerkrieg vernichtet hatten, wurden neue grandiose Unternehmungen errichtet, neue Produktionszweige und ganze Industrien geschaffen. 

Die außerordentliche Verzögerung in der Entwicklung der internationalen Revolution, mit deren baldiger Hilfe die Führer der bolschewistischen Partei gerechnet hatten, bereitete der UdSSR einerseits ungeheure Schwierigkeiten, brachte aber andererseits auch außerordentliche innere Hilfsquellen und Möglichkeiten zum Vorschein. Jedoch eine richtige Beurteilung der erzielten Resultate – ihrer Größe wie ihrer Unzulänglichkeit – ist nur unter Zuhilfenahme internationaler Maßstäbe möglich. Die Methode der vorliegenden Arbeit ist die geschichtlich-soziologische Deutung des Prozesses und nicht die Häufung statistischer Illustrationen. Dennoch ist es im Interesse der weiteren Darstellung erforderlich, einige der wichtigsten Ziffern zum Ausgangspunkt zu nehmen. 

Der Umfang der sowjetrussischen Industrialisierung vor dem Hintergrund des Stillstands und Verfalls fast der gesamten kapitalistischen Welt wird aus folgenden Globalangaben ersichtlich. Die Industrieproduktion Deutschlands ist nur dank des Aufrüstungsfiebers gegenwärtig auf das Niveau von 1929 zurückgekehrt. Die Produktion Großbritanniens stieg mit Hilfe des Protektionismus in denselben sechs Jahren um 3 bis 4 Prozent. Die Industrieproduktion der Vereinigten Staaten ging annähernd um 25 Prozent zurück, die Frankreichs um mehr als 30 Prozent. An erster Stelle, was den Fortschritt unter den kapitalistischen Ländern anbelangt, steht das toll rüstende und plündernde Japan: Seine Produktion stieg beinahe um 40 Prozent! Aber auch diese Ausnahmeziffer verblasst vollkommen vor der Entwicklungsdynamik der Sowjetunion, deren Industrieproduktion in derselben Periode auf das Dreieinhalbfache oder um 250 Prozent stieg. Die russische Schwerindustrie hat im letzten Jahrzehnt (1925–1935) ihre Erzeugung mehr als verzehnfacht. Im ersten Jahr des ersten Fünfjahresplans (1928–1929) betrugen die Kapitalinvestitionen 5,4 Milliarden Rubel. 1936 sollen es sogar 32 Milliarden sein. 

Sehen wir wegen der Schwankungen des Rubels von der Maßeinheit des Geldes ab, so mögen andere, unbestreitbare Messgrößen sprechen. Im Dezember 1913 förderte das Donezbecken 2 275 000Tonnen Kohle, 7 125 000 Tonnen im Dezember 1935. In den letzten drei Jahren vergrößerte sich die Gusseisenschmelze um das Doppelte, die Stahl- und Walzeisenerzeugung beinahe um das Zweieinhalbfache. Verglichen mit dem Vorkriegsniveau stieg die Gewinnung an Erdöl, Kohle und Eisenerz auf das Drei- bis Dreieinhalbfache. 1920, als der erste Elektrifizierungsplan aufgestellt wurde, gab es im Lande zehn lokale Elektrizitätswerke mit einem Gesamtleistungsvermögen von 253 000 Kilowatt. 1935 waren es bereits 95 mit einem Gesamtleistungsvermögen von 4 345 000 Kilowatt. 1925 stand die UdSSR hinsichtlich der Erzeugung von elektrischer Energie an elfter Stelle; 1935 wird sie nur noch von Deutschland und den Vereinigten Staaten übertroffen. In der Kohleförderung rückte die UdSSR von der zehnten an die vierte Stelle, in der Stahlerzeugung von der sechsten an die dritte, in der Traktorenproduktion an die erste Stelle in der ganzen Welt; ebenso in der Zuckergewinnung. 

Gigantische Errungenschaften in der Industrie, viel versprechender Beginn eines Aufschwungs der Landwirtschaft, außerordentliches Anwachsen der alten und Entstehen neuer Industriestädte, rasche Zunahme der Zahl der Arbeiter, Hebung des Kulturniveaus und der Bedürfnisse – das sind die unbestreitbaren Ergebnisse der Oktoberrevolution, in der die Propheten der alten Welt das Grab der menschlichen Zivilisation sehen wollten. Mit den Herren bürgerlichen Ökonomen braucht man nicht mehr zu streiten: Der Sozialismus bewies sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten des »Kapitals«, sondern in einer Wirtschaftsarena, die ein Sechstel der Erdoberfläche bildet, bewies es nicht in der Sprache der Dialektik, sondern in der Sprache des Eisens, des Zements und der Elektrizität. Selbst wenn die UdSSR infolge innerer Schwierigkeiten, äußerer Schläge und der Fehler der Führung zusammenbräche – was, wie wir fest hoffen, nicht eintreten möge –, so bliebe doch als ein Pfand der Zukunft die unaustilgbare Tatsache bestehen, dass allein dank der proletarischen Revolution ein zurückgebliebenes Land in weniger als zwei Jahrzehnten historisch beispiellos dastehende Erfolge erzielte. 

Damit ist auch dem Streit mit den Reformisten in der Arbeiterbewegung ein Ende gesetzt. Kann man nur eine Minute lang ihr kleinliches Treiben mit dem Titanenwerk vergleichen, das ein von der Revolution zu neuem Leben erwecktes Volk verrichtet? Hätte 1918 die Sozialdemokratie in Deutschland die ihr von den Arbeitern aufgedrängte Macht zur sozialistischen Umwälzung benutzt, statt zur Rettung des Kapitalismus,[44] so ist aufgrund der russischen Erfahrung unschwer zu begreifen, welch unüberwindliche Wirtschaftsmacht heute das sozialistische mittel- und osteuropäische Massiv und ein erheblicher Teil Asiens darstellen würde. Die historischen Verbrechen des Reformismus werden die Völker der Erde mit neuen Kriegen und Revolutionen zu bezahlen haben. 

Die dynamischen Kennziffern der Sowjetindustrie sind ohne Beispiel. Doch weder heute noch morgen ist mit ihnen die Frage schon gelöst. Die Sowjetunion steigt von einem erschreckend niedrigen Niveau empor, während die kapitalistischen Länder von einem sehr hohen Niveau herabgleiten. Das Kräfteverhältnis ist gegenwärtig nicht durch die Wachstumsdynamik bestimmt, sondern durch die Konstellation der Gesamtstärken beider Lager, wie sie sich in der Anhäufung materieller Vorräte, in der Technik, der Kultur, und vor allem in der Produktivität der menschlichen Arbeit äußert. Sobald wir an die Sache vom statischen Gesichtspunkt herangehen, ändert sich die Lage sofort ungemein zuungunsten der UdSSR.

Die von Lenin formulierte Frage »wer wen?« ist die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen der UdSSR und dem revolutionären Weltproletariat einerseits, den inneren feindlichen Kräften und dem Weltkapital andererseits. Die wirtschaftlichen Fortschritte der UdSSR erlauben ihr zu erstarken, sich weiterzuentwickeln, sich zu bewaffnen, wenn nötig auch nachzugeben und abzuwarten, mit einem Wort, sich zu halten. Aber ihrem Wesen nach steht die Frage »wer wen?« vor der UdSSR im Weltmaßstab, und zwar nicht so sehr als eine militärische, sondern als Wirtschaftsfrage. Die Militärintervention ist gefährlich. Die Intervention billiger Waren im Gefolge der kapitalistischen Armeen wäre weitaus gefährlicher. Der Sieg des Proletariats in einem der westlichen Länder würde selbstverständlich mit einem Schlage das...

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