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E-Book

Weder Kommunismus noch Kapitalismus

AutorCarl Jentsch
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl315 Seiten
ISBN9783849643492
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Für Jentsch und viele andere Deutsche war die brennende Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht, ob die Sozialdemokratie, sondern wann das Elend siegen werde; das »ob« stand dabei außer Frage, wenn nicht binnen kurzem neue Lebensbedingungen geschaffen worden wären. Das Buch verstand sich als ein Vorschlag zur Lösung der europäischen Frage, den aber die Zeit - wie so vieles anderes - überholte.

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Wie weit wird Marx durch den bisherigen Gang der wirtschaftlichen Entwicklung gerechtfertigt?

 

Das theoretische System des modernen Sozialismus – mit diesem Satze beginnt der dritte Abschnitt von Wolfs Buch –, ist das von Karl Marx in seinem Buch »Das Kapital« niedergelegte. Hier wird von Marx der Nachweis angetreten, daß der Kapitalist Ausbeuter ist, dem Arbeiter das gesamte Produkt der Volkswirtschaft gebührt, wenn es aber nicht an ihn gelangt, dies an der Einrichtung des Kapitals als Privatkapitals statt als Gesellschaftskapitals liegt. Und es wird ferner gezeigt, wie die vielen kleinen und mittlern Kapitalien allmählich aufgesogen werden, bis die Konzentration des Kapitals so weit gediehen ist, daß der Umschlag unvermeidlich ist und »die Expropriateure von den Expropriirten expropriirt werden,« nach dem Spruche des Propheten Jesaja, dessen Buch, nebenbei bemerkt, sich beinahe so gut wie das »Kapital« zur Arbeiterbibel eignen würde: »Wehe dir, du Räuber, deiner Zeit wirst du selbst den Räubern zur Beute fallen.« Die Werttheorie des großen Sozialistenpapstes, die sich in einer schwierigen Algebra verliert, mag wahr sein oder nicht, darauf kommt wenig an; aber die beiden angeführten Kernpunkte bleiben das wesentliche und wirkungskräftige seiner Lehre. Wir brauchen sie nicht so ausführlich darzulegen, wie es Wolf thut Dem übrigens seine sozialistischen Kritiker, wie Bernstein in Nr. 16 und 17 der »Neuen Zeit,« vorwerfen, er habe den Inhalt der Sozialistenbibel nicht allein ungenau dargestellt, sondern stellenweise auch gröblich mißverstanden und sogar gefälscht. weil sie ja allgemein bekannt sind. Nun ist es zwar kein Fehler der Methode, wenn sich Wolf mit seiner Widerlegung auf Marx beschränkt, weil in dessen Widerlegung, falls sie gelingt, die der andern Sozialisten schon mit vollzogen ist, und weil ohne ihn, wie Wolf ganz richtig ausführt, die deutsche Sozialdemokratie nicht geworden wäre, was sie ist. Aber die Wahrheit hätte doch wohl gefordert, wenigstens zu erwähnen, daß auch Rodbertus, der freilich auf ganz andern Wegen dazu gelangte, der Hauptsache nach denselben Gedankenfaden ausgesponnen hat wie Marx. Er ist nicht so bekannt geworden wie dieser, ja bis zu seinem Tode so gut wie unbekannt geblieben, weil er für einen Leserkreis schrieb, der nicht wie der von Marx an der Verbreitung, sondern an der Unterdrückung dieser Lehren ein Interesse hatte. Und die Wahrheit gebietet außerdem anzuführen, daß die konservativen Parteien Deutschlands und Österreichs seit 30 Jahren ihre Politik auf dieselben beiden Sätze oder wenigstens auf den zweiten gründen. Denn während sie allerdings die Leiden der untersten Klasse meist zu verhüllen suchen, klagen sie unausgesetzt über die Zerreibung des Mittelstandes, über die Aufsaugung des Handwerkerstandes durch die Großindustrie, sowie des Kleinhandels durch Versandgeschäfte und Konsumvereine und über die erdrückenden Fesseln der Schuldknechtschaft, in die das städtische Kapital den ländlichen Grundbesitz geschlagen habe. Von der Voraussetzung dieses Zustands sind alle Gesetzvorschläge der Konservativen ausgegangen, deren Tendenz im Antisemitismus, dieser »Sozialdemokratie der dummen Kerls« (die ethische Seite der Judenfeindschaft lassen wir aus dem Spiele), ihre schärfste Spitze hervorgetrieben hat. Gelingt der Nachweis, daß die vielbeklagte Aufsaugung der mittlern Vermögen durch das Großkapital eine leere Einbildung sei, dann ist nicht allein die Sozialdemokratie, sondern auch die Politik der konservativen Parteien in Deutschland und Österreich entweder eine große Narrheit oder ein frecher Humbug und abscheulicher Volksbetrug. Da jedoch die Möglichkeit, daß so große Massen gebildeter Männer sich entweder durch leere Einbildungen äffen oder Betrügerbanden bilden sollten, vollkommen ausgeschlossen, andrerseits aber auch Professor Wolf über den Verdacht der Narrheit und des Betrugs erhaben ist, so steht es, wie bei allen solchen großen Gegensätzen, von vornherein fest, daß beide Parteien Recht haben müssen, und es kommt nur darauf an, den Punkt anzugeben, bis zu dem eine jede Recht hat. Dieser Punkt läßt sich im vorliegenden Falle mit wunderbarer Genauigkeit angeben, er ist für England wenigstens das Jahr 1850.

 

Marx hat die Wahrnehmung gemacht, daß mit der Auflösung der Feudalwirtschaft in England die Lage der untern Klassen immer schlechter wurde, während sich in den obern kolossale Reichtümer anhäuften. In den vierziger Jahren, wo er mit seinem Freunde Engels die Verhältnisse des Inselreichs zu studiren begann, war der Gegensatz zwischen Proletarierelend und Nabobismus für jeden Menschenfreund wie für jeden englischen Patrioten schlechthin unerträglich geworden, und die Konzentration des englischen Nationalvermögens in einigen hundert Familien schien unmittelbar bevorzustehen. Als strenger Hegelianer, der Marx war, sagte er sich nun: England ist das fortgeschrittenste Land der Welt, demnach der Typus für alle andern Länder. Sie alle werden denselben Prozeß durchmachen, und dieser Prozeß wird sich bis zu jener äußersten Möglichkeit durchsetzen, wo er nicht mehr weiter kann und in sein Gegenteil umschlagen muß.

 

Aber es kam anders. Lange bevor sein auf diese Wahrnehmungen gegründetes Hauptwerk vollendet war, und wenige Jahre, nachdem Engels sein kleines Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England veröffentlicht hatte, trat eine Besserung ein, die auch von Engels in der soeben erschienenen neuen Auflage des genannten Buches anerkannt wird. Der zunehmende englische Nationalreichtum kam fortan aus Ursachen, die wir später noch erörtern werden, auch den mittlern und untern Klassen zu gute; anstatt vollends aufgerieben zu werden, feierte der Mittelstand seine Auferstehung, oder besser gesagt, zu einigem Ersatz für den untergegangnen alten Mittelstand bildete sich ein neuer. Dieser Periode entnimmt nun Wolf seinen statistischen Nachweis und zieht daraus den ganz richtigen Schluß: Also hat Marx Unrecht!

 

Nämlich mit der Verallgemeinerung seiner Wahrnehmungen; aber daß es Wolf unterläßt, anzugeben, wie weit diese Wahrnehmungen richtig waren, und aus diesen richtigen Wahrnehmungen die Folgerung zu ziehen, darin hat er selbst wieder Unrecht. Und sein Unrecht ist größer als das des Gegners, den er bekämpft, weil er, so viel an ihm ist, den Nutzen zu nichte macht, den der Gegner trotz seiner Irrtümer gestiftet hat. Wenn nämlich die ökonomische Geschichte Englands in den drei Jahrhunderten von 1550 bis 1850 auch nicht in dem Sinne typisch ist, daß die Dinge überall auf Erden und unter allen Umständen so verlaufen müssen, bleibt sie doch vorbildlich in dem Sinne, daß unter gewissen Umständen dasselbe Unheil unabwendbar ist, und diese Umstände, die wir später angeben werden, bestehen nicht allein abgeschwächt in England fort, sondern sie bedrohen auch die Völker des europäischen Festlands, ja sogar schon die Amerikaner. Es ist demnach von der größten Wichtigkeit, daß man die ökonomische Geschichte Englands in den bezeichneten drei Jahrhunderten und die Ursachen der in dieser Periode stetig ärger werdenden Besitzverschiebung genau kenne, denn nur bei solcher genauen Kenntnis dürfen die übrigen Völker, dürfen vor allen wir Deutschen ähnlichem Unheil vorzubeugen hoffen. Indem nun Wolf diese hochwichtige Periode der englischen Geschichte nur sehr kurz und oberflächlich abfertigt und weder von der Größe des Unheils einen Begriff giebt noch seine Ursachen aufdeckt, machte er sich zum Mitschuldigen jenes Teils der »deutschen Wissenschaft,« die diesen ungeheuer wichtigen Abschnitt der Menschheitsgeschichte dem deutschen Publikum bisher einfach unterschlagen hat.

 

Also, um es kurz zusammenzufassen: Marx hat mit seiner Darstellung der englischen Zustände Recht für die Zeit von 1550 bis 1850. Wolf hat Recht für die Zeit von 1850 bis 1890, und solche Sozialisten, die, wie Schippel, nachzuweisen suchen, daß es auch in diesem letzten Zeitabschnitt noch stetig schlimmer geworden sei, geben wir ihm preis. Aber Wolf hat Unrecht, indem er seine Augen der Bedeutung jener unheilvollen dreihundert Jahre verschließt und es unterläßt, seine Leser darüber zu belehren. Wir wollen diese seine Versäumnis gut machen, vorher aber seine Statistik des heutigen englischen Volksvermögens, seines Wachstums und seiner Verteilung ein wenig kritisiren.

 

Er übertreibt nämlich ganz bedeutend die um die Mitte unsers Jahrhunderts unstreitig eingetretene Besserung. Nur an einigen der von ihm mitgeteilten Zahlenreihen wollen wir das klar machen. Das britische Nationalvermögen wird von verschiednen Statistikern folgendermaßen angegeben:

 

                                              Jahr                       

für England allein                  1600  auf  100      Mill Pfd..St.

...
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