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Wohnen erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung unter dem Aspekt des Normalisierungsprinzips und der Selbstbestimmung

AutorFriederike Jung
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783640348831
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,4, Justus-Liebig-Universität Gießen (Institut für Heil - und Sonderpädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: In Kapitel 2 wird der Begriff der geistigen Behinderung umrissen. Ebenso werden Schwierigkeiten aufgezeigt, die sich im Zusammenhang mit seiner Definition ergeben. Es schließt sich die Beschreibung von wissenschaftlichen Definitionsansätzen an, welche sich auf unterschiedliche Weise dem Phänomen »geistige Behinderung« nähern. Darauf bezugnehmend wird der Wandel, welcher sich in den Sichtweisen zu geistiger Behinderung vollzieht, dargestellt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der geistigen Behinderung beschließt dieses Kapitel. Kapitel 3 wird mit der Definition des Wortes »Wohnen« begonnen. Nachfolgend wird die psychologische Bedeutsamkeit des Wohnens erläutert. Aspekte der Wohnqualität verdeutlichen dann den Zusammenhang von Wohnqualität und Lebensqualität. In Abgrenzung zum Wohnen im allgemeinen wird das Wohnen speziell in Verbindung mit geistiger Behinderung aufgezeigt. Ein historischer Abriß über die Unterbringung und das Wohnen von Menschen mit geistiger Behinderung seit der Neuzeit leitet von der Zeit der Anstaltsgründungen bis zu gegenwärtigen Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung über. Ein Rückblick in die Geschichte der Umsetzung verschiedener Denkmodelle über geistige Behinderung ab 1933 eröffnet Kapitel 4. Zentraler Gegenstand dieses Kapitels ist dann die Schilderung des Normalisierungsprinzips in seiner Entstehung und weiteren Ausformulierung. Das Paradigma der Selbstbestimmung ist Gegenstand von Kapitel 5. Kapitel 6 verbindet die Kapitel 3, 4 und 5. Ausgewählte Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung werden unter dem Aspekt von Normalisierung und Selbstbestimmung betrachtet, wobei Wohnbedürfnisse zur Beurteilung hinzugezogen werden. Der Schwerpunkt dabei soll auf dem Normalisierungsprinzip als Grundvoraussetzung für ein normalisiertes und integriertes Leben von Menschen mit geistiger Behinderung liegen. Während drei Formen des Wohnens vorwiegend anhand von Literatur dargestellt werden, erfolgt die Betrachtung der vierten im Rahmen einer eigenen Beobachtungsstudie. Diese fällt im Vergleich zu den übrigen etwas umfangreicher aus. Kapitel 7 beinhaltet eine Interpretation und Reflexion der insbesondere in Kapitel 6 gewonnenen Ergebnisse. Kapitel 8 bildet das Fazit der Arbeit.

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Leseprobe

3 Das Wohnen


 

3.1  Definition


 

Zu wohnen ist mehr, als lediglich eine Unterkunft zu haben. Etymologisch gesehen leitet sich das Wort »wohnen« ab von »gewöhnt« bzw. »Gewohnheit« und wurde ursprünglich verwendet im allgemeinen Sinne von »zufrieden sein«.[62]

 

Speck betrachtet das Wohnen als Wert für ein menschenwürdiges Dasein. Die heutige Bedeutung von Wohnen ist nach ihm zu verstehen

 

im Sinne eines relativ dauerhaften Behaustseins, dessen Wert sich im besonderen auf den personalen und sozialintimen Lebensvollzug bezieht und zwar in einem Gegengewicht zum vorherrschenden Außenbezogensein des modernen Menschen“[63].

 

Siegmund Crämer konkretisiert dies noch, wenn er den Wohnplatz als Ort maximaler individualer Souveränität bezeichnet. Dadurch stellt er in seinen Augen, neben dem Arbeitsplatz, den wichtigsten Ort der personalen Individuation dar.[64]

 

„Er ist [...] Schutzraum der personalen Integrität, [...] in dem der Mensch [...] den innersten Prozeß seiner Individuation vollziehen kann, nämlich den Dialog mit sich selbst als dem permanenten Orientierungs- und Verhaltenskorrektiv in seinem Dialog mit der Welt.“[65]

 

Zu dieser dialogischen personalen Selbstverwirklichung gehören demnach alle anderen Funktionen des Wohnens wie Selbstversorgung, Verwaltung und Gestaltung des Wohnraums.[66]

 

Im Grundsatzprogramm der Bundesvereinigung Lebenshilfe heißt es zum Thema Wohnen:

 

Wohnen bedeutet nicht nur Versorgung, Unterkunft und Verpflegung, sondern Geborgenheit und Eigenständigkeit, Privatheit und Gemeinschaft, die Möglichkeit des Rückzugs und Offenheit nach außen.“[67]

 

Otto Friedrich Bollnow und an ihn anlehnend auch Theodor Thesing sehen den Begriff des Wohnens eng verbunden mit den Begriffen Raum und Räumlichkeit. So lebt der Mensch in Räumen und bewohnt sie. Bollnow unterscheidet zwischen dem abstrakten mathematischen Raum und dem erlebten Raum, in welchem sich das Leben abspielt.[68] Letzterer zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

 

a) Er besitzt einen ausgezeichneten Mittelpunkt. Durch den Ort, den der Mensch einnimmt, bekommt er einen Standort.

b) Die Orte, die Menschen aufsuchen, sind für sie qualitativ verschieden und erlangen unterschiedliche Bedeutung.

c) Der erlebte Raum ist nicht wertneutral. Er ist durch Lebensbeziehungen fördernder wie hemmender Art auf den Menschen bezogen.

d) Jeder Ort im erlebten Raum hat seine Bedeutung für den Menschen.

e) Der Raum stellt also keine vom Menschen losgelöste Wirklichkeit dar, er ist für den Menschen da. Raum und Mensch sind verhältnismäßig aufeinander bezogen und nicht voneinander zu trennen.[69]

 

Im folgenden werden die Begriffe Wohnen und Raum, je nach zitiertem Autor, nebeneinander verwendet.

 

3.2 Die psychologische Bedeutsamkeit des Wohnens


 

Mit Wohnen im oben beschriebenen Sinne eng verbunden ist das Grundbedürfnis des Menschen, einen „ruhenden und ordnenden Eigenbereich“[70] zu haben. Dieser Ort bietet Sicherheit und Vertrautheit, ein hohes Maß an Selbstbestimmung und die Möglichkeit, ihn und das Leben darin nach eigenen Maßstäben zu gestalten. Man kann sich in ihn zurückziehen, zur Ruhe kommen und ihn als Abwechslung oder Kompensation zu anderen Lebensbereichen erfahren. Der Wohnbereich wird zum Ort autonomen Verfügenkönnens, zum Raum für Selbstentfaltung und zum Symbol für eigene Identität.[71] Dies scheint besonders wichtig, da diese Selbstentfaltung in anderen Bereichen wie dem der Arbeit oder des gesellschaftlichen Lebens durch Normen recht begrenzt ist.[72]

 

Ähnliches läßt sich bei Thesing nachlesen. Demnach wird Raum aktiv angenommen, also durch Bearbeiten geschaffen. Der Raum bedeutet dadurch für den Menschen Anforderung und Tätigsein.[73]

 

Der Wohnbereich kann die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Personen in hohem Maße beeinflussen. In dem Zusammenhang spielen verschiedene Faktoren und Prozesse eine Rolle, welche die Wohnqualität bestimmen. Entscheidend dabei sind nicht allein objektive Kriterien, sondern ist primär die Art und Weise, wie die Wohnumwelt vom einzelnen Bewohner wahrgenommen wird und dem von außen entsprochen werden kann.[74]

 

3.2.1 Lebensqualität durch Wohnqualität


 

3.2.1.1 Gestaltung des Wohnraums

 

Es ist ein elementares Bedürfnis, den eigenen Wohnraum zu errichten oder zumindest gestalten und verändern zu können.[75] Teil dieses Bedürfnisses ist es, über selbst gewählte Möbel, Bilder oder sonstige Einrichtungsgegenstände sowie deren Anordnung verfügen zu können.

 

Die individuelle Gestaltung seines Wohnbereiches hebt den Menschen nicht nur von anderen ab, sondern schafft Intimität und vermittelt das Gefühl von etwas Eigenem und Unverwechselbarem. Damit einher geht auch die Erwartung, daß dieser private Raum samt Eigentum von anderen geachtet wird. Im privaten Lebensbereich gelten die eigenen Normen. Die Vertrautheit in und mit der eigenen Wohnung bietet Rückhalt in der Interaktion mit anderen.[76]

 

Gleichzeitig hat die Wohnung auch die Funktion eines Statussymbols. In der persönlichen Gestaltung stellt man sich selbst dar und vermittelt anderen symbolisch, wie man gerne gesehen und eingeschätzt werden möchte und worauf man stolz ist.[77]

 

3.2.1.2 Wohnzufriedenheit

 

Wohnzufriedenheit bildet sich aus kognitiven und affektiven Prozessen, welche aus den Reaktionen auf die gegebene Wohnumwelt, einschließlich der Möglichkeit, diese zu verändern, hervorgehen. Sie ist also stark davon abhängig, inwieweit die Wohnumwelt die Verwirklichung der eigenen Intentionen gewährt.[78]

 

Weiterhin ist Wohnzufriedenheit nach Speck gleichbedeutend mit Beheimatet- oder Zuhausesein.[79] Denn

 

„eine Wohnung ist eben [...] ein lokaler Bereich, in dem sich für das Leben sehr bedeutsame Ereignisse abspielen, und an den sich durch Emotionalisierung (emotioning) von Verhaltensweisen und Bedeutungen das eigene Erleben bindet, und wo es Stabilität erhält“[80].

 

Das so entstehende Gefühl von Zugehörigkeit ist von zentraler Bedeutung für die eigene Identität.[81]

 

Ebenfalls ausschlaggebend für das Wohlbefinden ist der bereits angesprochene Aneignungsprozeß, in welchem eine Wohnung zum Zuhause wird. Aneignung ist dabei die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt, durch welche etwas Reales zu Eigenem wird.[82] Eine Wohnung folglich, die man nur passiv bewohnt, das heißt, ohne die Möglichkeit der Kontrolle oder Einflußnahme, dürfte hohe Unzufriedenheit auslösen.

 

3.2.1.3 Ortsidentität - Heimat

 

Die Möglichkeit zur persönlichen Aneignung der Wohnungsumgebung steigert die Ortsidentität. Wenn eine Person ihre Wohnwelt als Möglichkeit begreift, darin eigene Bedürfnisse und Ziele verwirklichen zu können, wird die Wohnung als Zuhause erlebt. Der Wohnumwelt als dem wesentlichsten Referenzpunkt kommt zentrale Bedeutung für das Selbst zu.[83] „Individuen definieren, wer und was sie sind, in Begriffen einer starken effektiven Verbundenheit zu ‚Haus und Heim’, Nachbarschaft und Gemeinde.“[84] Voraussetzung dafür dürfte eine gewisse Beständigkeit der Wohnumwelt sein. Fortwährende Veränderungen, seien es räumliche oder personelle, gefährden den Menschen in seiner Beziehungsfähigkeit. Dies wiederum kann sich negativ auf die psychische Stabilität auswirken.[85]

 

Es liegt nahe, daß durch ein dauerhaftes Erleben von Heimat, also Zufriedenheit und Wohlbefinden in der eigenen Wohnumwelt, das Verhalten mitbestimmt wird. Ein Ausbleiben dieses Heimatgefühls kommt Unzufriedenheit und Unwohlbefinden gleich und kann entsprechend zu Verhaltensstörungen führen.[86]

 

3.3 Wohnen und geistige Behinderung


 

Vermutlich würden die meisten Menschen ohne Behinderung die Erfüllung all dieser genannten Wohnbedürfnisse als selbstverständlich für sich reklamieren, und man würde sie ihnen ohne weiteres zugestehen..

 

Anders verhält es sich bei Menschen mit geistiger Behinderung, welchen Wohnen unter jenen Bedingungen noch nicht lange gewährt wird. So wird der Auszug aus erwähntem Grundsatzprogramm der Bundesvereinigung Lebenshilfe auch um eine Forderung ergänzt: „Menschen...

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