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Die Kultur der Stadt

AutorWalter Siebel
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783518743010
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR


<p>Walter Siebel, geboren 1938, ist Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.</p>

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Leseprobe

1. Teil:
Das Ende der bürgerlichen Stadt?


Stadt ist raumgewordene Gesellschaft. Die soziale Tatsache, die in der europäischen Stadt räumliche Gestalt gewonnen hat, ist die bürgerliche Gesellschaft. Sie ist mit der europäischen Stadt entstanden, sie hat ihre räumlichen und sozialen Strukturen geprägt, und der Stadtbürger ist ihre zentrale Figur. Das Bürgertum hat die europäische Stadt geschaffen. Doch auch die Umkehr dieses Satzes trifft zu: Ohne die europäische Stadt gebe es das Bürgertum nicht. Mit der Gründung einer Stadt war im europäischen Mittelalter ein Schritt in Richtung der politischen und ökonomischen Emanzipation des Bürgers verbunden. Max Weber (1956) hat dies als einen in mehrfacher Hinsicht revolutionären Akt beschrieben: Der Bürger löste sich aus religiösen, verwandtschaftlichen und feudalistischen Abhängigkeiten und als solchermaßen Freier verbrüderte er sich mit anderen durch eine »Schwurgemeinschaft« zur Bürgerschaft der Stadt. Die europäische Stadt ist »autokephal« (Max Weber), unabhängig von Kirche und Feudalherren, sie ist ein politisches Subjekt. Ökonomisch trat der Bürger aus dem »Ganzen Haus« (Otto Brunner), in dem Produktion und Konsumtion in einen geschlossenen Kreislauf eingebunden waren, heraus. Die ökonomischen Beziehungen regelte nun der Markt. Der freie Tausch von Waren und Geld erleichterte die Arbeitsteilung und ermöglichte damit Produktivitätsfortschritte. Mauer, Wall und Graben umschlossen in Europa die Keimzelle einer neuen Gesellschaft der Stadtbürger, der Marktwirtschaft und der demokratischen Selbstverwaltung.

Mit den freien Reichsstädten wird im Mittelalter eine Tradition wiederbelebt, die in der griechischen Antike ihren Ursprung hat. Der Althistoriker Christian Meier (2009, S. 18) hat das historisch Einmalige der griechischen Polis emphatisch auf den Punkt gebracht: »Einmal jedoch lief es ganz anders. Da war es keine Monarchie und kein herrschaftsgeübter Adel, sondern eine relativ breite, über Hunderte von selbständigen Gemeinden sich verteilende Schicht von Freien, von ›Bürgern‹, die sich ihre Welt formte.« Nicht alle Bewohner der Polis waren Bürger, nur eine schmale Schicht männlicher Grundbesitzer und Sklavenhalter kam in den Genuß dieses Privilegs, aber sie unternahmen doch den historisch beispiellosen Versuch »einer Kulturbildung um der Freiheit willen […], eines Großversuchs gleichsam, unter schwierigen Verhältnissen ein Leben ohne Herrschaft zu führen, und das heißt auch, es zu ermöglichen, zu sichern; also all das hervorzubringen, was man dazu braucht« (ebd., S. 22). In der griechischen Polis ist zum ersten Mal eine andere Logik der Organisation von Gesellschaft erfunden worden, darauf gerichtet, die Freiheit des einzelnen zu sichern, nicht die Stabilität eines Herrschaftssystems. Sophokles hat die Polis mit dieser Logik gleichgesetzt: »Die Stadt, die einem Mann gehört, ist keine Stadt« (Haimon, Antigone, zit. n. Mumford 1984 [1961], S. 139). Das Wort »Demokratie« ist nicht ohne Grund griechischen Ursprungs. »Die europäische Kultur ist eine Schöpfung der europäischen Stadt. Demokratie, Philosophie und Wissenschaft – verhandelt als öffentliche Angelegenheiten – verdankt Europa dem öffentlichen Dialog-Raum der griechischen Polis« (Strauch 2000, S. 132). »Die Stadt ist die Kulturlandschaft Europas« (ebd., S. 133, Hervorh. i. Orig.).

Max Webers Definition von Stadt als Marktort und als politisches Subjekt mit zumindest partieller Autonomie und Selbstverwaltung ist zum einen historisch spezifisch: Sie gilt für die europäische Stadt des Mittelalters, aber weder für das Augusteische Rom noch für das Babylon Nebukadnezars II., noch für arabische, chinesische oder vormoderne Städte in Südamerika. Zum anderen handelt es sich um eine idealtypische Definition. Weber bietet weder ein normatives Ideal noch eine repräsentative Beschreibung. Wenn die europäische Stadt als Marktort, als revolutionäre Schwurgemeinschaft und als politisches Subjekt definiert ist, dann heißt das nicht, sämtliche Städte seien in einem revolutionären Akt der Selbstbefreiung von Bürgern aus feudaler Abhängigkeit entstanden. Kennzeichnend sind gerade umfangreiche Gründungskampagnen durch Feudalherrscher wie dem schwäbischen Fürstengeschlecht der Zähringer. Es heißt auch nicht, alle Städte Europas im Mittelalter seien freie Reichsstädte gewesen. Es gab außerordentlich große Unterschiede (vgl. Hohenberg/Lees 1996, S. 27ff.) je nach den Machtverhältnissen zwischen Stadt und Feudalherren – die Stadtrepubliken in Italien und die freien Reichsstädte in Deutschland sind Ausnahmeerscheinungen im Meer unbedeutender Kleinststädte. Differenzen gab es auch hinsichtlich der ökonomischen Funktion – Pilgerstädte entlang des Jakobswegs, Residenzstädte, Handelsstädte, Bergbaustädte –, der Größe – Köln, die größte deutsche Stadt im Mittelalter, hatte 50 ‌000 Einwohner, die meisten anderen weniger als 2000 – und nicht zuletzt der Architektur und des Städtebaus – man vergleiche nur Venedig mit einer deutschen Fachwerkstadt wie Quedlinburg am Harz. Weber handhabt den Idealtypus als ein heuristisches Instrument: Er wollte jene Besonderheiten herausarbeiten, die die europäische Stadt neben dem Protestantismus zur zweiten Quelle des europäischen Sonderwegs gemacht haben.

Die europäische Stadt des Mittelalters war eine ständisch gegliederte Gesellschaft, wie in der griechischen Polis besaßen keineswegs alle Einwohner die Rechte eines Stadtbürgers. Aber ihre Organisation folgte einer anderen Logik als das feudalistisch organisierte Land. Auch waren sie handlungsfähige Akteure. Die freien Reichsstädte waren souveräne, staatsähnliche Gebilde, Athen nach den Perserkriegen für kurze Zeit sogar eine »Weltmacht« (Meier 2009).

Die Kennzeichen der europäischen Stadt sind die in einem langen historischen Prozeß entstandenen Merkmale einer spezifischen historischen Formation, eben der Stadt der bürgerlichen Gesellschaft. Mit deren Verschwinden verschwinden auch sie. Zurück bleiben Fassaden, hinter denen sich eine ganz andere soziale Realität breitmacht. Die ständische Gliederung der mittelalterlichen Stadt und die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts, wie sie Engels (1974) am Beispiel Englands eindrucksvoll beschrieben hat, existieren nicht mehr. Letztere könnte allenfalls in gewandelter Gestalt wiederkehren, als sozial gespaltene und ausgrenzende Stadt, wie sie sich heute als Drohung abzeichnet (vgl. Kronauer/Siebel 2013). Die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit verschwimmt, der Stadtbürger ist keine relevante Figur mehr und die Stadt nicht mehr Subjekt ihrer eigenen Entwicklung.

1.1 Die Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung oder das Ende der europäischen Stadt als politisches Subjekt


Mit dem Aufkommen der absolutistischen Territorialstaaten verschwinden bis auf wenige Ausnahmen die freien Reichsstädte. Als eine der letzten verlor Frankfurt am Main 1866 seine Selbständigkeit. Nur einige Hansestädte konnten sie länger bewahren. Lübeck wurde erst 1937 in das Land Schleswig-Holstein eingegliedert. Heute erinnern lediglich noch Hamburg und Bremen an die Tradition der europäischen Städte als staatsähnliche Gebilde. 1808 hatte Preußen im Zuge der Stein-Hardenberg-Reformen die Selbstverwaltung der Städte wiederbelebt, ein Zugeständnis an das erstarkende Bürgertum, um es nach der Niederlage gegen Napoleon stärker an den preußischen Staat zu binden. Den Bürgern wurde das Stadtregiment überlassen, während Staatsverwaltung und Militär weiterhin in der Hand der Aristokratie blieben. Die kommunale Demokratie war eine besitzbürgerliche Demokratie, das nach Hauseigentum und Einkommen gestufte Wahlrecht sicherte die Dominanz der (männlichen) Bodeneigentümer, Kaufleute und Handwerker in den kommunalen Parlamenten. Trotz dieser Machtverhältnisse konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine städtische Armuts-, Gesundheits-, Wohnungs-, Planungs- und Infrastrukturpolitik etabliert werden, die mehr als nur die unmittelbaren Interessen der ökonomisch und politisch einflußreichen Stadtbürger im Auge hatte. Dabei spielte die moralische Empörung von Christen über die unmenschlichen Lebensbedingungen der Unterschichten in den Industriestädten ebenso eine Rolle wie die Angst der Wohlhabenden vor den möglichen gesundheitlichen und politischen Folgen des Elends. Choleraepidemien und revolutionäre Arbeiterbewegungen waren gleichermaßen überzeugende Argumente gegen die Ideologie eines Laisser-faire-Liberalismus. All das hat dazu beigetragen, die Traditionen städtischer Sozialpolitik zu reaktivieren, die sich schon im Mittelalter in Gestalt zuerst kirchlicher, später städtischer Armenfürsorge, Hospize und Krankenhäuser herausgebildet hatten. Es wurden Bauordnungen und erste (»Fluchtlinien«-)Pläne erlassen, um die gänzlich unkontrollierte Bautätigkeit zu regulieren. Die Städte erwarben systematisch Grund und Boden und versuchten sich mit Ansätzen eines sozialen Wohnungsbaus, um als Akteure auf den Immobilienmärkten eingreifen zu können. Vor allem aber bot der Bau städtischer Infrastrukturen für Transport, Wasser, Abwasser, Müllentsorgung und Energie den Kommunen vielfältige Gelegenheiten für weitreichende wirtschaftliche Betätigung. Private Unternehmer versagten oft bei diesen Aufgaben, also übernahmen die Städte sie in öffentlicher Regie und wurden so zu bedeutenden wirtschaftlichen Akteuren. Sie nutzten die gewonnenen Handlungsspielräume nicht nur, um Profite zu erzielen, sondern verstanden ihr wirtschaftliches Engagement auch als »öffentliche«, dem...

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