Das Recht der Europäischen Union bezeichnet die Summe aller Rechtsnormen, die in den die EU begründenden Verträgen enthalten sind (Primärrecht) und auf deren Grundlage von den zuständigen Organen erlassen wurden (Sekundärrecht). Die zwei wichtigsten primärrechtlichen Gründungsverträge sind die Verträge über die Europäische Union (EUV) und über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die nach Art. 1 Abs. 2 S. 1 AEUV als „die Verträge“ bezeichnet werden. Zum Primärrecht gehört auch das von der Rechtsprechung des EuGH entwickelte ungeschriebene Unionsrecht. Das Verhältnis zwischen europäischem und nationalem Recht war in der Vergangenheit sehr umstritten, da die Mitgliedstaaten keine Kollisionsnorm in das Unionsrecht aufgenommen haben. Zudem hängt die Beurteilung dieses Verhältnisses davon ab, welchen Charakter man der Unionsrechtsordnung zuweist.[14] Gleichzeitig mit dem Verhältnis der Rechtsordnungen zueinander wird auch das Verhältnis zwischen deren Hütern, dem EuGH und dem BVerfG begründet.
Über das grundsätzliche Rangverhältnis besteht in der Rechtsprechung des EuGH und in der nationalen Rechtsprechung der Mitgliedstaaten Einigkeit darüber, dass dem Unionsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht einzuräumen ist.[15] Der EuGH formulierte einen solchen erstmals in der Rechtssache Costa gegen E.N.E.L.[16] und stützte sich in der Begründung auf die bereits ein Jahr zuvor im Urteil van Gend & Loos angedeutete[17] Eigenständigkeit des Unionsrechts durch die Übertragung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten auf die EU und der Ermächtigung zur eigenständigen Rechtsetzung ihrer Organe.[18] Dieses durch die Verträge geschaffene Unionsrecht fließe aus einer „autonomen Rechtsquelle“ und müsse Vorrang vor den innerstaatlichen Rechtsvorschriften haben, um seine Charakter als Unionsrecht zu behalten.[19] Um die Funktionsfähigkeit der EU zu sichern, muss der Unionsrechtsvorrang nach Ansicht des EuGH umfassend sein, also auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht gelten.[20] Daraus folgerte der EuGH, dass nationale Rechtsvorschriften, die dem Unionsrecht entgegenstehen, nicht entsprechend eines Geltungsvorranges nichtig sind, sondern unangewendet bleiben müssen, das Unionsrecht also Anwendungsvorrang genießt.[21] Sah der Verfassungsvertrag für Europa noch die Aufnahme des Anwendungsvorrangs in das geschriebene Primärrecht vor,[22] wurde er lediglich als Erklärung Nr. 17 in die Schlussakte zum Vertrag von Lissabon aufgenommen, stellt aber dennoch als Rechtsprechungsgrundsatz des EuGH ungeschriebenes primäres Unionsrecht dar.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz des Anwendungsvorrangs im Solange-II-Beschluss vom 22. Oktober 1986 bestätigt.[23] Nach Ansicht des BVerfG beruht dieser aber auf einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung und findet dort auch seine Grenzen.[24] Das autonome Unionsrecht sei eine abgeleitete Rechtsordnung und weiterhin von der völkerrechtlichen Übertragung abhängig.[25] Der Anwendungsvorrang stelle deshalb ebenfalls ein völkervertraglich übertragenes, abgeleitetes Institut dar.[26] Im Laufe seiner Rechtsprechung hat das BVerfG verschiedene Vorbehalte hinsichtlich des Unionsrechtsvorrangs vorgenommen. Nahm es zunächst für eine gewisse Zeit die Grundrechte aus dessen Geltungsbereich heraus, so sieht es diesen heute insbesondere in Bezug auf die Verfassungsidentität und kompetenzwidrig erlassenes Unionsrecht als eingeschränkt an.[27]
Je nachdem ob man die Unionsrechtsordnung und dessen Anwendungsvorrang aus der rein europarechtlichen Perspektive oder unter Berücksichtigung fortbestehender verfassungsrechtlicher Ermächtigungen betrachtet, kommt man folglich zu unterschiedlichen Ergebnissen. Diese Disharmonie setzt sich auch in der Frage zur Letztentscheidungskompetenz über sekundäres Unionsrecht fort, wenn es darum geht, eine eventuelle Kollision mit dem nationalen Verfassungsrecht in Form einer Kompetenzüberschreitung der EU festzustellen.[28]
Das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht wird aber nicht nur durch dessen Rangverhältnis bestimmt, sondern ist auch durch deren Verschränkung und Interpendenz geprägt.[29] Insoweit stehen die beiden Rechtsordnungen nicht isoliert nebeneinander, sondern nehmen in vielerlei Hinsicht auf einander Bezug.[30] Insbesondere im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV kommt dieses Ineinandergreifen mit der Vorlageberechtigung und Vorlagepflicht der nationalen Gerichte zum Ausdruck. Dort entscheidet der EuGH über die Auslegung des Primärrechts sowie über die Gültigkeit und die Auslegung des Sekundärrechts[31] nach Vorlage einer entsprechenden Frage durch ein nationales Gericht, das sein Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH aussetzt und anschließend auf Grundlage des bindenden EuGH-Urteils zu Ende entscheidet.[32] Darum handelt es sich beim Vorabentscheidungsverfahren um ein indirektes und nicht kontradiktorisches Klageverfahren (Zwischenverfahren).[33] Das Vorabentscheidungsverfahren ist daher in seiner Funktion mit dem Verfahren der konkreten Normenkontrolle vor dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. § 13 Nr. 11 Bundesverfassungsgerichtsgesetz vergleichbar, in dem das BVerfG auf Antrag eines nationalen Gerichts die Vereinbarkeit einer Norm, auf deren Gültigkeit es bei einem konkreten Rechtsstreit ankommt, mit höherrangigem Recht überprüft.[34]
Gerichte, die in letzter Instanz entscheiden, sind gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage der sich ihnen für das nationale Verfahren stellenden entscheidungserheblichen Frage an den EuGH verpflichtet. Eine Vorlagepflicht besteht außerdem für jedes Gericht - letztinstanzlich oder nicht - wenn es einen Unionsrechtsakt für ungültig hält und diesen unangewendet lassen will oder aber einen vom EuGH bereits für ungültig erklärten Unionsrechtsakt anwenden will,[35] da zusammen mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Unionshandlungen innerhalb des europäischen Rechtschutzsystems dem EuGH obliegt und ihm somit auch die Feststellung der Ungültigkeit vorbehalten bleibt.[36] Das BVerfG hat die abschließende Entscheidungsbefugnis des EuGH aus Art. 263 AEUV grundsätzlich anerkannt[37] und ihn als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG qualifiziert.[38] In ständiger Rechtsprechung betont es deshalb die Vorlagepflicht der innerstaatlichen Gerichte, die bei willkürlicher Nichtvorlage der deutschen Gerichte per Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter durchgesetzt werden kann.[39] Die pflichtwidrige Nichtvorlage eines nationalen Gerichtes stellt außerdem einen Verstoß gegen die Unionstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 S.2 EUV sowie einen direkten Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV dar, der, angeregt durch eine Beschwerde bei der Kommission, im Vertragsverletzungsverfahren gerügt werden kann.[40] Mit der Vorlagepflicht soll das Vorabentscheidungsverfahren die einheitliche Rechtsanwendung der Gerichte und die Rechtssicherheit im Unionsrecht gewährleisten.[41] Auch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte sind unter Art. 263 Abs. 3 AEUV zu subsumieren,[42] da sie die dortige Definition eines vorlagepflichtigen Gerichtes erfüllen.[43] Das BVerfG hat dies bereits 1974 und 1979 in den sogenannten Beschlüssen „Solange I“ und „Vielleicht“ dem Grunde nach anerkannt,[44] dem EuGH jedoch lange Zeit selbst keine Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage gestellt und eine mögliche Pflicht in den konkreten Fällen bisher z. B. mangels Entscheidungserheblichkeit verneint.[45] Die Vorlagebereitschaft der nationalen Gerichte sowie die Berücksichtigung der Auslegung durch den EuGH sind jedoch tragende Säulen für das Zusammenwirken der nationalen und europäischen Gerichtsbarkeit und Voraussetzungen für deren Verzahnung.[46] Insoweit wird nicht von einem hierarchischen Verhältnis der nationalen Gerichte (einschließlich der Verfassungsgerichte) zum EuGH,[47] sondern von einer Kooperation[48] im Sinne einer Aufgabenteilung ausgegangen,[49] bei der beide innerhalb eines justiziellen Dialogs[50] zu einer Entscheidung beitragen.[51] Der Präsident des BVerfG formulierte, dass es „im Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG nicht um Über- oder Unterordnung geht, sondern um eine angemessene Verantwortungsteilung und Zuordnung in einem komplexen Mehrebenenverbund.“[52] Die bisherige Nichtvorlagepraxis des BVerfG kann zum einem dem Umstand geschuldet sein, dass sich die Zuständigkeitsbereiche des BVerfG und des EuGH als Hüter unterschiedlicher „Verfassungen“ grundsätzlich nicht...