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E-Book

827 Jahre Lebenserfahrung

Worauf es ankommt

AutorLydia Girndt
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783743169739
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Zehn lebensbejahende Menschen erzählen in diesem Buch ihre ganz persönliche Geschichte. In ihrem langen Leben haben sie bei Schweinen übernachtet und Häuser gekauft, sich nach Brot gesehnt und Kartoffelpuffer genossen. Sie sind in Bunker geflüchtet und haben Volksfeste besucht, haben Kinder geboren und Ehepartner begraben, Kühe gehütet und Konzerte besucht. Dabei haben sie sich ihre Lebensfreude bis ins hohe Alter erhalten. Die Autorin hat jeden ihrer Gesprächspartner gefragt, worauf es im Leben ankommt und was er oder sie jüngeren Menschen empfiehlt.

Lydia Girndt, geboren 1973, ist Diplom-Psychologin. Sie ist seit mehr als zehn Jahren als Coach und Beraterin für Führungskräfte und ihre Teams tätig. Ihre Leidenschaft ist die Persönlichkeitsentwicklung.

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Leseprobe

ILSE G.: AUF MENSCHEN ZUGEHEN


Alles wirkliche Leben ist Begegnung.(Martin Buber)

Es ist ein Montagabend im September 2014, als ich an der Tür zum oberen Stockwerk der Seniorenwohnanlage klingele. Kein Aufzug. Wer oben wohnt, muss noch gut zu Fuß sein. Ilse G. öffnet strahlend ihre Wohnungstür. Mit ihren 1,76 Metern ist sie fast so groß wie ich, und ihren Bewegungen sieht man sofort an, dass Treppen sie nicht schrecken können. Seit ihrer Geburt 1926 lebt meine Schwiegermutter in Bremen Nord, mittlerweile im betreuten Wohnen. Das Interview mit ihr führe ich wenige Wochen nach ihrem 88. Geburtstag.

Als Erstes betreten wir ihre kleine Küche, in der schon das Wasser kocht. Ob ich einen Tee möchte? Aber gerne doch. Mit Porzellankanne, Stövchen und Teegläsern ausgerüstet, nehmen wir am kleinen runden Wohnzimmertisch Platz. Alles in dieser Wohnung ist recht klein. Vom Wohnbereich aus führt ein offener Durchgang in den Schlafbereich und eine Terrassentür auf den liebevoll mit Geranien geschmückten Balkon. Ich weiß, dass sich Ilse an die begrenzte Wohnfläche längst gewöhnt hat. Nur ihr Garten fehlt ihr bis heute.

„Erzähl einfach einmal von Anfang an, was in deinem Leben so passiert ist und was dir wichtig war“, bitte ich sie.

Frühe Erinnerungen


Ilses früheste Erinnerung ist nicht fröhlich: Im Flur steht ein kleiner, weißer Sarg, in dem ihre Schwester Herma liegt. Herma war 1929 geboren worden und wurde nur ein Jahr alt.

„Meine Mutter ist mit mir zu Hause geblieben, während sie begraben wurde“, berichtet Ilse nüchtern. Ich traue meinen Ohren kaum. Wäre es heute denkbar, dass die Mutter nicht zur Beerdigung ihrer Tochter geht, um bei der anderen Tochter zu bleiben? Heute würde man die Kleine vermutlich mitnehmen oder bei Verwandten oder Freunden lassen. Andererseits konnte Ilse die Nähe ihrer Mutter in dieser verwirrenden Situation sicher gut gebrauchen. Ilse erklärt, dass sie gerne eine Schwester gehabt hätte – und eine weitere feststehende Erinnerung taucht auf: Herma bekommt die Brust und Ilse ist neidisch.

„Aber ich durfte dann auch mal“, erinnert sie sich amüsiert.

Ilses Eltern hatten einen Elektroladen mit Werkstatt. Nur die Werkstatt erbrachte einen kleinen Gewinn. Wie knapp das Geld immer war, erzählt Ilse erst auf Nachfrage. Das Thema Geld ist für sie weder tabu noch sonderlich interessant.

Ilses ein Jahr älterer Bruder, mit dem sie heute häufigen und guten Kontakt hat, spielt in den Erzählungen von damals kaum eine Rolle.

Ilse hat die Volksschule bis zur achten Klasse besucht. Dann kam die Handelsschule in Bremen Vegesack und nebenher half sie im Laden. Als ich überlege, wie reif ich in der achten Klasse war, werden mir die unterschiedlichen frühen Lebensumstände sehr deutlich. Den Kriegsbeginn erwähnt Ilse nicht.

Erst bei unserem nächsten Treffen sagt sie, sie hätte noch ein paar Dinge vergessen, und beginnt mit dem gefühlten Ende ihrer Jugend: Als sie 13 Jahre alt war, kam die Mutter ins Krankenhaus. Die Oma war ebenfalls krank. Also stellte sich die Frage, wer nun kochen sollte. Es war ein Samstag, an dem es grundsätzlich etwas ganz Einfaches gab. Die Entscheidung lautete: Ilse soll kochen und es soll Schmorkartoffeln geben.

„Im Nachhinein hab‘ ich gedacht, da war auch meine Jugend zu Ende", sagt Ilse. „Meine Mutter kam aus dem Krankenhaus. Ein paar Wochen später starb meine Oma.“ Eine Tante aus Berlin kam zu ihnen und alles zusammen war für Ilse ein großer Wendepunkt.

„Da war ja auch Krieg“, sagt sie. Und nach einer kurzen Pause: „Ja, ich hör das noch, wie sie im Radio sagen ‚Seit soundso viel Uhr wird zurückgeschossen‘“. Dabei sagt sie ‚zurückgeschossen‘ mit einer solchen Aggression und Schärfe, dass ich kurz innerlich zusammenzucke.

„Dieses ‚zurückgeschossen‘, das hat sich so eingeprägt“, erklärt Ilse. „Und es war ja gelogen. Hinterher konnte man das nicht begreifen.“

In ihrer Handelsschulzeit hatte sich eine Freundschaft entwickelt, die ein Leben lang gehalten hat. Ilses Freundin wohnte später auf der anderen Weserseite in Niedersachsen und war mit einem Seemann verheiratet. Entsprechend war sie viel alleine und Ilse hat sie häufig besucht.

„Ich war immer die, die hinfuhr“, sagt sie. „Das hat sich komischerweise in meinem Leben so fortgesetzt. Ich gehe immer irgendwo hin. Ich denke, das ist auch eine Veranlagung. Meine Großmutter hat mich früher immer mitgenommen. Wir gingen immer irgendwo hin.“ Ich kann das bestätigen. Manchmal wünscht sie sich mehr Initiative von anderen, aber auf keinen Fall bleibt sie stur zu Hause hocken.

Ich möchte wissen, was die Freundschaft ausgemacht hat, die so lange gehalten hat.

„Da hat keiner bestimmt“, sagt Ilse. Eine Freundschaft auf Augenhöhe. „Ihr Vater war nur ein einfacher Arbeiter und es gab dort nicht viel, aber wenn ich da war, habe ich dort mit Abendbrot gegessen. Vollkommen unkompliziert.“

Im Anschluss an die Handelsschule arbeitete Ilse zunächst auf der Werft. Nach einem halben Jahr Arbeit bei Lürssen wurde sie 1944 zum Kriegsdienst eingezogen und landete als ‚Motorenschlosser‘ auf einem Fliegerhorst in Bayern. Es waren allerdings keine Flugzeuge und keine Soldaten mehr dort.

„Ich habe dort nie einen Motor gesehen“, erklärt sie. 1945 wurde sie entlassen und war zunächst wieder zu Hause. 1946 bis 1949 hat sie für die Schreiber-Reederei auf der ‚Oceana‘ Kaffee gekocht. Die ‚Oceana‘ fährt noch heute im Sommer einmal täglich als Linienschiff vom Bremer Martini-Anleger nach Bremerhaven und zurück. Einmal bekamen wir die Gelegenheit, einen Blick in Ilses damalige Schlafkajüte zu werfen. Im Vergleich dazu ist ihr heutiger Schlafbereich riesig. Im Anschluss an die Zeit bei der Reederei hat Ilse bis 1956 als Schreibkraft bei Rechtsanwalt Fitschen „den ganzen Tag nur geklappert“, wie sie es ausdrückt. Geklappert haben nur die Tasten der Schreibmaschine, auf der sie Schriftsätze für das Amtsgericht schrieb. Bei keiner dieser Stationen hält sich Ilse mit ihrer Erzählung lange auf. Nach einem halbjährigen Ausflug in eine Kaffeefirma in Bremen Aumund kam Ilse im Dezember 1956 zu Weserflug, das sie echt bremisch „Weserfluch“ ausspricht. Sechs Monate war sie in Bremen, danach wurde sie in der Personalstelle in Lemwerder eingesetzt und fuhr fortan mit der Fähre über die Weser zur Arbeit. Dort blieb sie bis zum schönsten Moment ihres Lebens, fünf Jahre nach ihrer Hochzeit.

Der Mann mit den karierten Hosen


1956 wechselte Ilse nicht nur den Arbeitsplatz, sondern verlobte sich auch. Ihren Herbert lernte sie in der Gastwirtschaft Pelikan kennen. Dort arbeitete ihr großer Bruder als Taxifahrer und ihre Eltern tranken dort ihr Bier.

„Dazu sind wir immer rausgegangen“, erklärt Ilse und ich höre das Unverständnis dafür, dass so viele Menschen zu Hause hocken, statt andere Menschen zu treffen.

„Man lernte dort Leute kennen und die Familie Kuhrke stand uns sehr nahe“, sagt sie. „Und da war auch mein Herbert. Den ersten Abend hatte er eine karierte Hose an und das fand ich so schrecklich. Da hab ich gedacht: ‚Hoffentlich zieht er die nie wieder an.‘“ Offenbar hatte die Hose sie nicht so sehr abgeschreckt, dass sie ihm aus dem Weg gegangen ist. Wie sind sie einander nähergekommen? Sie saßen an der Theke, haben wenig getrunken und viel geredet.

„Es war wirklich Unterhaltung“, sagt sie. Unwillkürlich erinnere ich mich, wie mühelos ich mich einige Jahrzehnte später mit ihrem Sohn unterhalten konnte. Keine krampfhafte Suche nach Themen oder Worten, keine Selbstdarstellungen, keine Irritation in Gesprächspausen, einfach unkompliziert. Als Ilse nach Hause ging, – „spät natürlich“ – dachte sie sich: „Wenn der liebe Gott mir etwas Gutes tun will, dann kommt er wieder.“ Und sie ergänzt: „Das habe ich mir so richtig gewünscht.“ Ihr Wunsch wurde erhört.

„Er kam wieder und das ist dann so langsam gelaufen“, sagt Ilse ohne weitere Details.

1958 heirateten die beiden und hatten ihr Schlafzimmer zunächst bei Ilses Eltern. Wieder horche ich auf. Sie war 32 Jahre alt, frisch verheiratet und konnte mit ihrem Mann nicht gleich in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Stattdessen ein Zimmer bei den Eltern. Kommt jetzt nicht ein Hinweis darauf, dass das fürchterlich schwere Zeiten waren? Nein. Alles klingt danach, als wären es gute Zeiten gewesen. Das muss ich noch einmal prüfen.

„Mein lieber Herbert hatte wenig Geld“, erklärt Ilse auf meine Nachfrage. Er arbeitete auf der Werft ‚Bremer Vulkan‘ und lebte als Letzter noch zu Hause bei seinen Eltern. Von seinem Wochenlohn musste er zu Hause abgeben. Was war das Besondere? Was hat ihr so gefallen an ihrem Herbert? Der erste Teil ihrer Antwort klingt lustig für mich.

„Er war ein ganz sauberer Typ, hatte immer ein...

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