Wiens erster Bauch
Der Bio-Markt auf der Freyung
Eine gewachsene Stadt hat ihren Bauch am rechten Fleck: mittendrin. Das verraten schon die alten Straßennamen, die in Wien wie in den meisten historischen Innenstädten oft auf -markt enden, vom Bauern- bis zum Wildpretmarkt. Außer den Namen ist davon so gut wie nichts geblieben, die ehemaligen Marktplätze Wiens wurden wie der Neue Markt zu Parkplätzen oder wie der Kohlmarkt zu Luxusshoppingmeilen. Nur ein einziger Altwiener Marktplatz hat seine Funktion behalten: die Freyung. Im Spätmittelalter wurden dort Pferdemärkte abgehalten, im Lauf des 18. Jahrhunderts entfaltete sich vor dem Schottenstift ein beliebter Lebensmittelmarkt mit Anbietern aus dem Umland von Wien, aus Ungarn, der Slowakei, Böhmen und Mähren. Das geschäftige Treiben vor ihrer Haustür war jedoch den Mönchen des Schottenstifts und den Bewohnern des Viertels ein Dorn im Auge oder vielmehr im Ohr: Der Markt, der sich über Freyung, Am Hof und Judenplatz erstreckte, begann um ein Uhr nachts und schloss um sechs Uhr morgens. Das allnächtliche Pferdewagen-Verkehrschaos muss ein unglaubliches Getöse verursacht haben.
Honigstand beim Austria-Brunnen
Gegen Ende des Jahrhunderts musste der Markt schließlich auf einen vormaligen Müll- und Aschenplatz auf der Wieden übersiedeln – der Naschmarkt, der gelegentlich in Anlehnung an die Pariser Hallen „Bauch von Wien“ genannt wird, entwickelte sich später aus dem von der Freyung vertriebenen Markt. Kurze Zeit hatten die Mönche ihre Ruhe, doch im Lauf des 19. Jahrhunderts kehrte das hartnäckige Marktleben auf seinen angestammten Platz zurück.
Nach wechselvollen Jahrzehnten ist die Freyung heute als letzter Innenstadtmarkt noch immer oder endlich wieder in Betrieb: Sie ist der Schauplatz eines kleinen temporären Marktes von Dienstag bis Donnerstag, freitags und samstags ist Bio-Markt. Zwischen Schottenstift und Austria-Brunnen, umgeben von Innenstadt-Palais, kauft man hier vor einer einzigartigen Kulisse ein – was die Stadtbewohner jedoch kaum zu schätzen wissen: „Zu siebzig Prozent sind meine Kunden Touristen“, erzählt Honighändler Siegfried vom „Welthonig“-Stand, der Markt-Dependance eines Bio-Honigladens – „des ersten und besten der Stadt“ – am Hohen Markt. Die Wiener, so der blendend gelaunte Honigfachmann, schauen eben vor allem auf den Preis und kaufen ihren Honig im Supermarkt, wenn das Kilo dort um einen Euro billiger ist. Sie lassen sich dadurch einiges entgehen: etwa die einzige Quelle der Stadt für originalen „Christkindl“-Honig aus Fürst Liechtenstein’scher Imkerei, vor allem aber unzählige, teils ungewöhnliche Honigsorten, die von biologisch arbeitenden Imkern aus Wien, der Steiermark und Niederösterreich hergestellt werden. Kirschenblüte, Hanf oder Lavendel gibt es da neben den „üblichen Verdächtigen“ wie Lindenblüten-, Akazien- oder Tannenhonig, aber auch ein paar – fair gehandelte – Exoten wie Palmen-, Orangen- oder Zitronenblütenhonig. Mit Ausnahme der wenigen Produkte aus Übersee kauft Siegfried stets bei Imkern, die er persönlich kennt und regelmäßig besucht, auch wenn er dafür ein Stück weit fahren muss, wie etwa für den „Aceto di Miele italiano biologico“, den Bio-Honigessig eines piemontesischen Imkers, dessen Familie ihr Wissen bereits in der siebten Generation weitergibt.
„Seebäuerin“ Gunda Dutzler
Exotisches gibt es auch wenige Stände weiter: Steaks von der Seekuh nämlich. Wobei dafür keine gefährdeten Meeresbewohner geschlachtet werden, sondern „normale“ Rinder – oder doch auch wieder nicht, wie im Gespräch mit „Seebäuerin“ Gunda Dutzler rasch klar wird. Sie ist eigentlich Zoologin und forschte an der Universität. „Ich hätte mir nie gedacht, dass ich wieder dort lande“, erzählt sie über den elterlichen Hof inklusive Gastwirtschaft am idyllischen Gleinkersee in Oberösterreich. Den eines Tages angedachten Verkauf des Hofes, auf dem sie aufgewachsen ist, konnte sie sich jedoch noch weniger vorstellen und so führt nun sie die Landwirtschaft mit vierzehn Schweinen und vierundzwanzig Rindern weiter – allerdings so, wie sich eine Zoologin einen idealen Bauernhof vorstellt, und dazu gehören Freilandhaltung und Hausschlachtung. Freitags und samstags steht Gunda Dutzler nun immer mit „ihrem“ Fleischer Heinz auf der Freyung, verkauft neben dem Fleisch der spaßeshalber „Seekühe“ genannten Rinder auch gut gewürzte Banater Wurst, Speck vom „Gleinkersau“ getauften Wollschwein, der kräftig – „Da glaubst du, du schleckst die Wand von der Selchkammer ab!“ – oder zart geräuchert ist, Schinken, Leber- und Blutwurst … und wirkt ansteckend begeistert von ihren Produkten und dem vor Kurzem noch undenkbaren Leben als Neo-Landwirtin.
Das Gefühl, Waren einzukaufen, deren Produzenten sich sehr genau überlegt haben, was sie tun, verlässt einen während des ganzen Marktbummels auf der Freyung nicht: So hat etwa die Wiener Schinkenmanufaktur Thum hier einen Stand. Der Margaretner Fleischermeister gilt als Institution, wovon auch die endlose Schlange zeugt, die sich stets am Osterwochenende vor seinem kleinen, nur vormittags geöffneten Geschäft in der Margaretenstraße bildet: Die Thums sind die einzigen Fleischer Wiens, die sich auf die traditionelle „Adernpökelung“ verstehen, bei der die Pökel-Flüssigkeit nicht ins Fleisch gespritzt, sondern über die Adern im Schinken verteilt wird. Neben traditionellem Wiener Beinschinken gibt es bei Thum auch immer wieder Spanferkelschinken, italienische Salami mit oder ohne Fenchel oder auch Rohschinken vom schwarzfelligen Gascogne-Schwein, das mittlerweile auch in der Buckligen Welt gezüchtet wird – in Freilandhaltung, versteht sich.
Ich bummle noch am Bio-Fisch aus Hernals vorbei, an der schönen Käseauswahl vom Kaszeit-Stand, dem Obst und Gemüse des Waldviertler Bio-Bauernhofs der Familie Haber, deren Mohnkuchen ich uneingeschränkt empfehlen kann, bestaune die Gemüseauswahl des burgenländischen Biohofs Priber, wo man Mairüben oder Grünkohl aus heimischem Anbau findet.
Pielachtaler Garküche
Eine Besonderheit ist der Wein von Johannes Zillinger, der das seit dreißig Jahren biologisch bewirtschaftete Weingut der Familie nicht nur biodynamisch betreibt, sondern noch allerhand andere „wahnsinnige Ideen“ verfolgt, wie er es selbst nennt: Er lässt einen Teil seiner Weine in Amphoren reifen, pflanzt zwischen die Reben Kräuter als Lebensraum für Nützlinge und räumt mit seinen Weinen, deren Entwicklung im Keller er einen so freien Lauf wie möglich lassen möchte, Ranking um Ranking ab.
Auch Streetfood gibt es auf der Freyung, es kommt aus dem Pielachtal: Seit vierundzwanzig Jahren fährt Landwirt Johann Schweiger freitags und samstags auf den kleinen Traditionsmarkt in der Innenstadt. Für den Verkauf von Fleisch oder Gemüse ist seine Produktion zu klein, erzählt er, darum verkocht er einfach alles: Kürbisgröstl gibt es heute, aber auch Blutwurst, Käsekrainer oder Lammwürstel sowie Dirndl-Bratwürste, wie es sich für einen Pielachtaler Betrieb eben gehört, und hofeigenen Most. Und dann steht da auf einer schwarzen Tafel: „Rehleber“. Kaum habe ich das Wort laut gelesen, ist schon ein Gaskocher aufgestellt, eine klein geschnittene Zwiebel brutzelt wenige Augenblicke später vor meinen Augen in der Pfanne, dann kommt die – bereits vorgeschnittene – Leber dazu, ein Schuss Birnenmost zum Ablöschen, kurz mit Mehl gestaubt, Salz und Pfeffer darüber – fertig. Dazu ein bisschen Kürbisgröstl und ein gespritzter Birnenmost – ein unverhoffter Festschmaus, wie er zum imperialen Ambiente dieses nicht nur alten, sondern tatsächlich würdigen Wiener Innenstadtmarktes passt.
Freyung, 1010 Wien: Temporärer Markt
(Mai bis November) von Dienstag bis Donnerstag 10–18 Uhr
Bio-Markt (ganzjährig): Freitag und Samstag 9–18 Uhr
www.biobauernmarkt-freyung.at
Zum Vertiefen
Welthonig: http://honey.wien
Seebauer: www.gleinkersee.at
Zillinger Wein: www.velue.at
Biohof Piber: http://members.aon.at/biohof.priber/
Verweile doch, du bist so schön!
Wien hat doch noch eine Markthalle bekommen, aber nur kurz: die Markterei
Wiens zwar wenige, aber durchaus ansehnliche Markthallen haben die oft blindwütige Modernisierung der 1960er- und 1970er-Jahre nicht überstanden. Traurig, wie man immer wieder auf Urlauben in weniger brachial...