Nurture vs. Nature – Erziehung oder Genetik: Werde ich resilient gemacht oder geboren?
Nurture vs. Nature – Erziehung oder Genetik: Werde ich resilient gemacht oder geboren?
Ist für unsere spätere Resilienz allein die kindliche Früherziehung verantwortlich oder können wir psychische Stabilität auch erben? Die Frage, wie stark Genetik und Prägung jeweils auf das Leben eines Individuums einwirken, ist in der Fachwelt als „Nurture vs. Nature“ bekannt. In der Praxis scheint sie allerdings kaum beantwortbar: Wäre die frühe Prägung entscheidend, würden Babys aus Problemvierteln zu stabilen Erwachsenen heranwachsen, wenn sie nur ihre ersten Lebensjahre in einer gutbürgerlichen und psychisch gesunden Familie verbringen könnten. Umgekehrt würde ein Säugling aus der Mittelschicht durch seine genetische Ausrüstung nicht geschützt, wenn er in prekäre Verhältnisse hineinadoptiert würde. Solche Tauschmodelle lassen sich in der menschlichen Realität kaum finden und absichtsvoll höchstens mit Mäusen durchführen.
Beim Menschen sind Forscher deshalb darauf angewiesen, Gene zu finden, die mit bestimmten Verhaltensweisen und Schicksalen assoziierbar sind. Nur sie könnten Aufschluss darüber geben, ob Eigenschaften wie Resilienz allein der Erziehung oder auch dem Erbgut geschuldet sind.
Gibt es ein Resilienz-Gen?
In den 1990er Jahren entdeckten Forscher den bislang vielversprechendsten Kandidaten für ein Resilienz-Gen. Sein Name lautet 5HTTLPR. Dieses Gen steuert bei jedem Individuum, wie effektiv das Glückshormon Serotonin in seinem Gehirn ausgeschüttet und abgebaut wird. Darüber hinaus reguliert 5HTTLPR ein Enzym, das seinerseits für den Abbau des Stresshormons Noradrenalin zuständig ist.
5HTTLPR existiert in der menschlichen Population in einer langen und einer kurzen Variante.(3) In der langen Ausführung organisiert 5HTTLPR den Serotoninstoffwechsel mustergültig. In der kurzen Variante sorgt es dagegen dafür, dass das Serotonin relativ lange im Spalt zwischen zwei Nervenzellen verbleibt. Die Rezeptoren auf der Zelloberfläche, die durch Serotonin aktiviert werden, stumpfen unter diesem Dauerreiz allmählich ab. In der Folge entfaltet das Glückshormon weniger Wirkpotenzial beim betroffenen Menschen. Gleichzeitig fehlen den Personen mit der kurzen 5HTTLPR-Variante die nötigen Enzyme, um das Stresshormon Noradrenalin abzubauen. Mit dieser hormonellen Ausstattung scheinen die Individuen genetisch dazu verdammt, schlechter gelaunt und schneller gestresst zu sein als andere. Damit könnten sie – wie Wissenschaftler vermuteten – potenziell eher depressiv und weniger resilient sein.
Wie stark der Einfluss eines gestörten Serotoninstoffwechsel auf den Antrieb und die Stimmung ist, demonstrierten Forscher bereits in unzähligen – manchmal zweifelhaften – Tierversuchen. Dieselben Experimente weisen auch nach, welche Substanzen gut als Antidepressivum wirken. Ein Standardversuch, der Laien besonders brutal erscheint, ist der sogenannte Forced Swimming Test (FST). Dabei leiten Forscher die Wirkung der Glückshormone von der Schwimmleistung der kleinen Nager ab. Mäuse, deren Serotoninaufnahme durch medikamentöse Eingriffe gestört wird, schwimmen in einem glattwandigen Wasserbassin nicht besonders lange um ihr Leben, sondern resignieren schnell und gehen unter. Mit Serotonin unterversorgte Tiere zeigen darüber hinaus keine natürliche Vorliebe für Zuckerwasser, wenn man ihnen die Wahl zwischen der gesüßten Lösung und normalem Wasser lässt. „Anhedonie“ nennen die Forscher diesen Zustand – ein aus dem Altgriechischen entlehnter Begriff, der meint, dass jemand unfähig ist, Lust oder Freude zu empfinden. Mäuse, die Störungen im Serotoninstoffwechsel haben, erkunden auch nicht neugierig jede unbekannte Umgebung, wie ihre reich mit Glückshormonen versorgten Artgenossen es zu tun pflegen. Stattdessen verkriechen sie sich in eine Ecke oder bleiben reglos dort, wo sie abgesetzt wurden, und erscheinen gelähmt vor Angst.
All diese Verhaltensweisen betrachten Wissenschaftler als das Tiermodell einer Depression. Denn, wenn man Tieren, die sich resignierend, lustlos oder ängstlich verhalten, Antidepressiva verabreicht, verbessert sich ihre Vitalität deutlich. In diesem Fall halten sie beim Schwimmen länger durch und zeigen auch wieder ihre angeborene Vorliebe für süße Getränke und spannende Umgebungen.
Kurze Genvariante = hohes Risiko für Depressionen?
Höchstwahrscheinlich haben Sie selbst Ihre 5HTTLPR-Genvariante nie bestimmen lassen und wissen nicht, wie es um Ihren Serotoninstoffwechsel bestellt ist. Gerade in Fragen der genetischen Ausstattung bevorzugen es einige Menschen, weniger Informationen über den eigenen Körper zu haben, um Sorgen um potenzielle Risiken zu vermeiden. Doch allein die Entdeckung des 5HTTLPR-Gens durch das Team des Würzburgers Psychiater Klaus Peter Lesch verursachte reichlich Aufruhr: Während die Medien bereits die Entdeckung des Depressionsgens feierten, fragt man sich als Laie beunruhigt: Was bedeutet das für Menschen, die von Geburt an die kurze Version des 5HTTLPR-Gens besitzen? Fehlt ihnen die Lust, das Leben zu genießen? Sind sie ängstlich, wenig resilient und enden unabwendbar in einer tiefen Depression?
So simpel funktioniert die Natur dann glücklicherweise doch nicht. Aufschluss brachte hier die Untersuchung der Kinder aus der neuseeländischen Dunedin-Studie auf ihre 5HTTLPR-Genvariante. Dabei zeigte sich, dass die Träger des kurzen 5HTTLPR-Gens nur dann ein höheres Risiko für psychische Krankheiten trugen, wenn ihnen parallel dazu äußere Ereignisse zustießen, die Angst und Depressionen begünstigen. Bei Menschen, die dagegen nie im Leben schwere Belastungen erfahren, ist es unerheblich, ob sie die lange oder kurze Genvariante tragen. Sie bleiben dennoch psychisch gesund. Andersherum gibt es Menschen, die ohne ersichtlichen Grund von außen an einer Depression erkranken. Auch unter ihnen findet sich die kurze Genvariante nicht signifikant häufiger als die Lange.
Mittlerweile existieren zahlreiche Studien, die versuchen, den Genotyp von 5HTTLPR mit einem bestimmten Hang zu Stress oder psychischen Erkrankungen in Verbindung zu bringen. In den vergangenen Jahren wurden dabei insgesamt 40.000 Teilnehmer untersucht. Ihr Fazit: Der Zusammenhang „kurze Genvariante = mehr psychische Krankheiten“ lässt sich nicht ohne Weiteres herstellen. Neben unserem genetischen Ausgangsmaterial scheinen also andere Faktoren daran beteiligt zu sein, ob wir psychische Resilienz gegen Krisen und Traumata entwickeln oder nicht.
Epigenetik: Unsere Umwelt prägt uns … und zukünftige Generationen
Ein Gen für Diabetes, eines für Brustkrebs und vielleicht eins für Resilienz – die Medien konzentrieren sich gern auf die DNA als simple Ursache aller denkbarer Krankheiten und Schicksalsschläge. Doch in der Wissenschaft fragen sich Fachleute, wie schicksalhaft und unveränderlich sich bestimmte genetische Anlagen beim Individuum letztendlich überhaupt äußern können. Mittlerweile gilt es als wissenschaftlicher Konsens, dass unser Genom kein bei der Geburt festgeschriebenes Drehbuch der Zukunft enthält. Vielmehr kommunizieren die Gene mit unserer Umwelt und passen sich flexibel an.
Wie diese Prozesse in puncto Resilienz ablaufen könnten, demonstrierten Forscher an Mäusemüttern, die ihren Nachwuchs in unterschiedlichen Erziehungsstilen aufziehen.(4) So wie Emmy Werner bei den Kindern von Kauai die variable Qualität der frühkindlichen Bindung herausstellte, unterscheiden sich nämlich auch Tiere zuweilen stark in ihrem mütterlichen Engagement. Manche Mäuse bemuttern ihre Welpen mit hohem Aufmerksamkeitsaufwand und pflegen sie kontinuierlich durch Säubern und Ablecken ihres Fells. Andere lassen ihren Wurf die meiste Zeit des Tages unbeachtet im Nest liegen. Bei den Mäusekindern verursacht das abweichende Verhalten der Mütter einen wesentlichen Unterschied in ihrer späteren Stresskompetenz. Es prägt ihre Resilienzfähigkeit, wenn man so will.
Die vernachlässigten Mäusekinder bilden höhere Spiegel des Stresshormons Cortisol und bauen es langsamer wieder ab als jene Mäuse, die als Welpen intensiv gepflegt werden. Dieser Unterschied im Stoffwechsel der Tiere bleibt auch im höheren Alter bestehen. Ist diese hormonelle Stressempfindlichkeit den Mäusen nun angeboren oder anerzogen worden? Im Gegensatz zu Längsschnittstudien mit Menschen empfinden Wissenschaftler hier keine moralischen Bedenken, wenn sie zu Klärung der Frage „Nurture vs. Nature“ die Mäusewelpen in den Nestern zweier Mütter vertauschen. Und dann zeigt sich dies: Das Stressempfinden bzw. die Resilienz der Maus richtet sich nicht danach, wie fürsorglich ihre genetische Mutter sich zeigte, sondern danach, wie viel Pflege sie im Welpenalter von der Ziehmutter erhielt. Nachwuchs von ausgeglichenen Elterntieren leidet dann...