Die Wirklichkeit, in der wir leben, wird umfassend durch Bilder hergestellt. Bilder „repräsentieren nicht nur Vorstellungen über Wirklichkeit, mittels Bilder wird kommuniziert und Wirklichkeit konstruiert“ (Niesyto & Marotzki, 2006, S. 3). Sie sind „handlungsleitend“, sie ermöglichen uns, die Welt zu deuten (Bohnsack & Krüger, 2004, S. 3) und soziale Situationen in Form von inneren Bildern zu erlernen. Diese Situationen legen sich ausschlaggebend bildhaft in unserer Erinnerung ab und erlauben uns „unser Handeln an diesen sozialen Szenerien in adäquater Weise zu orientieren“ (Bohnsack & Krüger, 2004, S.3) Sie stellen nicht nur für die massenmediale Produktion, sondern auch und vor allem in der „alltäglichen Verständigung und des Lernens, der Sozialisation und der Bildung“ (Bohnsack & Krüger, 2004, S.3) einen wesentlichen Kommunikationsträger dar. Insbesondere für die empirische Methodik der Sozial- und Erziehungswissenschaften ist die wachsende Relevanz der Bildmedien eine Herausforderung. Verständigungsprozesse und die Sinnvermittlung wickeln sich innerhalb dieser Bildmedien ab, doch für ihre Deutung und Interpretation existieren nur wenige „empirisch-methodisch gesicherte Zugänge“ (Bohnsack & Krüger, 2004, S.3).
Der Soziologe Ralf Bohnsack arbeitete eines der wichtigsten Modelle der Bildinterpretation heraus und bezog sich dabei auf die dokumentarische Methode, die bereits der Kunsthistoriker Erwin Panofsky auf Basis der Methoden des Wissenssoziologen Karl Mannheim entwickelt hatte. Die Methodik der Bildinterpretation nach Ralf Bohnsack lässt sich in die formulierende Interpretation und die reflektierende Interpretation aufgliedern. Die formulierende Interpretation fragt dabei nach dem Was und befasst sich mit der vorikonographischen, sowie der ikonographischen Ebene. Die reflektierende Interpretation fragt nach dem Wie und behandelt die formale Komposition des Bildes, darunter zählen planimetrische Komposition, perspektivische Projektion und szenische Choreographie. Des Weiteren wird der „‚ikonologisch-ikonische‘ Gehalt eines Bildes bildimmanent herausgearbeitet“ (Niesyto & Marotzki, 2006, S. 10).
Wie bereits erwähnt, befasst sich die formulierende Interpretation mit der Frage nach dem Was. Die vorikonographische Ebene beschreibt, was auf dem Bild zu sehen ist, „ohne auf kulturelle oder soziale Wissensbestände zurückzugreifen“ (Bohnsack, 2011, S. 99), generell handelt es sich um den Bereich der „sichtbaren Gegenstände, Phänomene und Bewegungsabläufe“ (Bohnsack, 2011, S. 56). In der Bildbeschreibung werden die unterschiedlichen Ebenen berücksichtigt, wobei aller Regel nach Vorder-, Mittel- und Hintergrund des Bildes schrittweise beschrieben werden. Bei Personen im Bild werden Alter geschätzt, die Äußerlichkeiten, sowie Mimik und Gestik beschrieben. (Bohnsack, 2011, S.60) Die ikonographische Ebene identifiziert die Handlungen auf dem Bild. Die in der vorikonographischen Ebene beschriebenen Handlungen werden nun interpretiert und identifiziert. Bohnsack definiert sie als „Um-zu-Motive“ und zieht dafür das Beispiel des Hutziehens von Panofsky heran: Die vorikonographische Ebene beinhaltet den reinen Bewegungsablauf, der beim Ziehen des Hutes ausgeübt wird. Auf der ikonographischen Ebene findet die Interpretation des Hutziehens statt und offenbart den eigentlichen Sinn der Bewegung, nämlich das Grüßen: „Der Bekannte zieht seinen Hut um zu grüßen“ (Bohnsack, 2011, S. 56). Bohnsack (2011) verweist aber auf die Problematik dieser Art von Unterstellungen und Attribuierungen, da sie nur dann unproblematisch sind, wenn es sich um institutionalisierte, oder in der dokumentarischen Methode kommunikativ-generalisierte Bedeutungen handelt. Essenziell hierfür ist das Wissen um Institutionen innerhalb der Gesellschaft und Rollenbeziehungen. Wichtig ist vor allem die Unterscheidung um die „fall- oder auch milieuspezifische Besonderheit des Dargestellten und seiner konkreten Geschichte, das ‚konjunktive‘ Wissen“ (Bohnsack, 2011, S. 56). Beispielsweise das Wissen um den Begriff „Familie“: Zwar verfügen wir über das institutionalisierte Wissen um den Begriff, doch es gilt das fall- oder milieuspezifische Wissen, das darüber hinausgeht, zu „suspendieren“ (Bohnsack, 2011, S. 57). Innerhalb der sprachlichen Vorbegrifflichkeiten sollen also nicht alle Namen „‚ausgelöscht‘ werden […], sondern lediglich die ‚Eigennamen‘“ (Bohnsack, 2007, S. 28). So zeigt beispielsweise das Familienfoto offensichtlich eine Familie, doch das Wissen darum, dass es sich um Familie Meier handelt, gilt es zu suspendieren. (Bohnsack, 2007, S. 28) In der ikonographischen Beschreibung darf also ausschließlich das kommunikativ-generalisierte Wissen miteinbezogen werden, das sich dann mittels Vermutungen äußern lässt. (Bohnsack, 2011, S. 57) Diese Ebene erlaubt es, spezifisches Wissen in einen bestimmten Kontext einzuordnen, so ließen sich beispielsweise Stilelemente, wie Kleidung oder Accessoires einer bestimmten Epoche zuordnen. (Bohnsack, 2011, S. 60).
Die reflektierende Interpretation fragt nach dem Wie der Herstellung der Darstellung und führt die Ergebnisse der formulierenden Interpretation fort. Der Modus Operandi befasst sich demzufolge also mit der Ermittlung von konjunktivem Erfahrungswissen (Bohnsack, 2011, S.19) und mit der „Rekonstruktion der Formalstruktur, formalen Komposition“ (Bohnsack, 2011, S.57). Die formale Komposition wird in drei Dimensionen unterteilt, die die Komposition des Bildes determinieren und den Eigensinn des Bildes erfassen: Die perspektivische Projektion, die planimetrische Komposition und die szenische Choreographie.
Die planimetrische Komposition stellt die erste der drei Ebenen dar und umfasst die „formale Konstruktion des Bildes in der Fläche“ (Bohnsack, 2011, S. 57) Sie „schafft ihre eigenen bildinternen, systemimmanenten Gesetzlichkeiten, ihre eigene formale Ganzheitsstruktur im Sinne einer Totalität“ (Bohnsack, 2011, S. 57). Gemäß Max Imdahl bildet die planimetrische Komposition das Grundgerüst der hier beschriebenen Interpretation und ist von essenzieller Bedeutung für das „sehende Sehen“ (Imdahl, 1979, S. 190). Das Bild ist also in seiner Planimetrie „ein nach immanenten Gesetzlichkeiten konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System“ (Imdahl, 1979, S. 190). In dieser Dimension werden die Eigenschaften des Bildformats wie beispielsweise Farben oder Formen, aber auch die Einzigartigkeiten des Bildes im Allgemeinen dokumentiert und entsprechend Linien auf dem Bild angebracht, um einzelne Bestandteile zu verknüpfen und somit bedeutungsvolle Kompositionen innerhalb des Bildes ersichtlich zu machen: Es geht darum „mit möglichst wenig Linien [beispielsweise Ellipsen oder Kreise , Anm. d. Verf.] oder die Gesamtkomposition des Bildes in der Fläche zu markieren“ (Bohnsack, 2011, S. 61).
Die perspektivische Projektion erlaubt es, Gegenstände und Menschen „in ihrer Räumlichkeit und Körperlichkeit identifizierbar zu machen“ (Bohnsack, 2011, S. 57). Sie orientiert sich dabei an den Außen- und Umwelt-Gesetzlichkeiten des Bildes und bezieht insbesondere Größe, Form und Richtungsfeld des Bildes mit ein. Für Bohnsack gibt die Rekonstruktion der Perspektivität im Bereich der sozialwissenschaftlichen Bildinterpretation „im wahrsten Sinne des Wortes Einblicke in die Perspektive des abbildenden Bildproduzenten und in seine Weltanschauung“ (Bohnsack, 2011, S. 57), der Interpret des Bildes nimmt also die Perspektive des Bildproduzenten ein. Im Bereich der Bildinterpretation von Fotographien handelt es sich vorwiegend um die Zentralperspektive. Hier stellt sich die Frage, welche Personen und soziale Szenerien im Fokus des Bild „abbildenden Bildproduzenten“ (Bohnsack, 2011, S. 57) stehen und im Fluchtpunkt des Kameraauges bzw. im Zentrum des Geschehens stehen. Formen der Zentralperspektive offenbaren sich unter anderem in der Frontalperpektive mit einem Fluchtpunkt, in der Schräg- oder Überecksperspektive mit zwei Fluchtpunkten und in der Unter- und Aufsicht mit drei Fluchtpunkten. (Bohnsack, 2011, S. 57)
Die szenische Choreographie ermöglicht die Analyse hinsichtlich des Verhältnisses von Figuren und Bild. (Bohnsack, 2011, S. 57) Sie stellt die Relationen der auf dem Bild abgebildeten Personen zueinander heraus und analysiert dabei Gestik und Mimik. Auch die Positionierung der Akteure gibt Aufschluss über deren „spezifischen Modus sozialer Bezogenheit“ (Bohnsack, 2013, S. 89). Bohnsack merkt jedoch an, dass die Beschreibung der szenischen Choreographie „hohe Anforderungen an eine Beschreibungssprache“ (Bohnsack, 2011, S. 39) stellt und die „Grundbegrifflichkeit vorliegender sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien […] diesen Anforderungen kaum gewachsen [ist]“ (Bohnsack, 2011, S. 39). Außerdem lässt sich die Rekonstruktion szenischer Choreographien weniger als die beiden anderen Dimensionen „geometrisch und mathematisierbar formalisieren“. Sie tritt hinsichtlich ihrer Möglichkeiten der Formalisierung hinter […] Perspektivität und Planimetrie weit [zurück]“ (Bohnsack,...