“DEHNUNGSÜBUNGEN” FÜR DAS HERZ

“Liebe ist keineswegs mühelos,
sondern bedarf vielmehr beträchtlicher Anstrengung.”

– M. Scott Peck –

“Eigentlich habe ich gar keine richtigen Freunde”, gestand Shelley sich ein, als sie erklärte, wie einsam sie über all die Jahre geworden war.

“Bist du denn die Freundin von irgendjemandem?”, fragte ich vorsichtig zurück. Mit einer solchen Gegenfrage hatte sie nicht gerechnet und starrte mich an, während die Erkenntnis einzusinken begann: Wir können keine Freunde haben, wenn wir nicht irgendwessen Freund sind.

Dasselbe gilt für die Liebe. Das Geheimnis jeglicher Anziehungskraft liegt darin, so zu werden wie das ersehnte Objekt. Anstatt geliebt werden zu wollen, sollten wir also damit beginnen, selbst zu lieben.

Dehnen Sie sich! Tun Sie etwas, wozu Sie eigentlich keine Lust haben. So begann auch der Heilige Franz von Assisi sein Leben zu verändern. Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns hatte Franz eine natürliche Abscheu vor Leprakranken. Er ging ihnen in weitem Bogen aus dem Weg und bat andere darum, ihnen seine Almosen zu überbringen. Eines Tages stieß er auf einem Ausritt ganz unerwartet hinter einer Kurve fast mit einem Aussätzigen zusammen, der über und über mit Wunden übersät war. Der Anblick und Gestank des armen Mannes war ihm ein Gräuel, sodass er gerade sein Pferd wenden wollte, um einer direkten Konfrontation zu entgehen, als ihm plötzlich klar wurde, dass er nicht von sich behaupten konnte, Gott zu lieben, wenn er sich von einem hilfsbedürftigen Menschen abwandte. Anstatt dem Impuls des Ekels zu folgen und der Situation den Rücken zu kehren, öffnete er sein Herz ebenso wie seine Börse. Er stieg vom Pferd und als er dem Leprakranken sein Almosen überreichte, umarmte und küsste er ihn.

Diese Begegnung mit dem Aussätzigen war ein Wendepunkt im Leben des Franz von Assisi. Er hatte das Gefühl, einen wichtigen Sieg über eine große Schwäche errungen zu haben. Später schrieb er: “Alles war plötzlich so anders. Was mir früher als schmerzlich und unmöglich erschienen war, wurde plötzlich einfach und angenehm.”

Dies ist mehr als eine bloße Heiligenlegende. Es ist eine Initiationslehre der Herzensalchemie. Gibt es nicht auch in unserem Leben solche “Aussätzigen”, die unserer Liebe bedürften – Menschen, die uns abstoßen oder Dinge, die wir einfach nicht tun wollen? Diese Person oder Situation ist vielleicht ein Bote der Liebe, die uns klar machen sollen, dass unser Herz lernen sollte, sich ein bisschen in diese oder jene Richtung zu “dehnen”.

Rumi schreibt: “Ein Mensch ist wie ein Rasthaus.” Jeden Morgen kommen neue Gäste, neue Boten. Der Dichter rät, auch die Störenfriede willkommen zu heißen, die den halben Möbelbestand davontragen, denn vielleicht schaffen sie ja nur Platz für etwas ganz Neues und Wunderbares. “Sei dankbar für jeden Gast, denn jeder einzelne wurde uns von drüben als Führer gesandt.”6

Unser Herz all jenen Personen und Situationen zu öffnen, die uns das größte Leid bereiten, kann sich als einer der wichtigsten und mutigsten Schritte zu einem völlig neuen Leben entpuppen. Und gerade dieses Mutes bedarf es, um sich in die unbekannten Gefilde der Liebe vorzuwagen. Deshalb sprach Mark Prophet auch von Coeur-age (vom französischen “coeur”, das Herz, und dem englischen “age”, das Zeitalter), um darauf hinzuweisen, dass wir diese Art von Courage brauchen werden, um ein neues Zeitalter des Herzens einzuleiten. Nur durch sie können wir die Liebe und Weisheit unseres Herzens so stärken, dass wir das Richtige und Notwendige auch dann tun, wenn es uns nicht gerade angenehm ist.

In Der wunderbare Weg beschreibt M. Scott Peck die Liebe sehr treffend als “den Willen, sein Ich so auszudehnen, dass es sich für sein eigenes oder für das spirituelle Wachstum seiner Mitmenschen einsetzt”. Er schreibt: “Ein wirklich liebender Mensch ist in der Lage, Menschen zu lieben oder helfend beizustehen, die er eigentlich nicht mag oder gar verabscheut.”7

Hören wir auf, uns so “auszudehnen” und zu geben, nur weil es unangenehm ist, dann lieben wir auch nicht mehr. “Ich habe das Gefühl, nicht mehr zu wachsen, wenn ich mich nicht mehr dehne”, sagt Neil, der bei seinen Konferenzorganisationen oft unter starkem Stress steht. Eilt er gerade zum nächsten Krisenherd, kommt es vor, dass er an einer völlig verloren dreinblickenden Hilfskraft vorbeikommt, die Hilfe, ja Liebe bräuchte. Dann stellt sich die Frage: Geht er an ihr vorbei und kümmert sich um seine eigentliche Aufgabe, oder “dehnt” er seine Liebe aus.

“Mir ist aufgefallen, dass die Prüfungen der Liebe vor allem eintreten, wenn ich wirklich müde und erschöpft bin”, erzählt Neil. “Jemand braucht gerade dann meine Hilfe, wenn es mir am allerwenigsten in den Kram passt und es das Letzte ist, worum ich mich gerade kümmern will. Tue ich es dann aber trotzdem, so reißt mich das aus meiner Bequemlichkeit. Gelingt es mir jedoch nicht, das Gefühl der Belästigung loszuwerden, während ich diese unerwünschte Hilfe leiste, so bleibt auch der Segen dafür aus.”

Ein neues Niveau in der Meisterschaft der Herzensliebe zu erreichen, ist wie das Training zum Hochsprung. Es bedarf einer gewissen Überwindung und ständiger Übung. Je mehr wir jedoch trainieren, desto gelenkiger werden wir, bis wir plötzlich den Sprung schaffen … um die Latte wieder ein Stückchen höher setzen zu können. Im Reich des Herzens vergrößern wir jedes Mal, wenn wir unsere selbst gesetzten Grenzen überwunden haben, unsere Fähigkeit zu lieben.

Unsere Seele strebt ständig danach, diesen Rahmen zu sprengen. Deshalb neigen wir oft auch dazu, unbewusst Menschen anzuziehen, die uns mit der nächsten Stufe konfrontieren. Beziehungen sind altbekannte Gelegenheiten zur Dehnung des Herzens.

So wusste Roberto z. B. nicht, wie ihm geschah, als seine Flitterwochen ein ebenso plötzliches wie unerwartetes Ende nahmen. Alles, was er sagte oder tat, schien seine Frau Maria aufzuregen. Den ersten Hürden ihrer jungen Ehe standen beide ratlos gegenüber. Nach ein paar herzzerbrechenden Diskussionen und eisernen Schweigestunden entschlossen sie sich dazu, den “Aussätzigen zu umarmen”. Es bedurfte einiger langer Gespräche und tiefer Seelenergründungen, bevor sie begannen, die ersten Einblicke in die Liebesinitiationen zu bekommen, die ihnen in einem gemeinsamen Leben bevorstanden.

Sieh dir lange an, was dir gefällt, aber noch länger, was dich schmerzt.

– Colette

Einerseits wurde Maria klar, dass die Wurzeln ihrer Unzufriedenheit in ihr selbst lagen, da sie einige unrealistische Erwartungen bezüglich ihres künftigen Gatten gehegt hatte. Sie musste lernen, menschlichere Maßstäbe an ihrem Mann zu setzen und sich auch in seine Lage zu versetzen. Roberto andererseits war als langjähriger Junggeselle keineswegs gewohnt, sein Leben mit einer Frau zu teilen. Auch wenn er dies wohl nicht über Nacht bewerkstelligen würde, so wurde ihm doch klar, dass er sich nicht mehr nur um sich selbst kümmern konnte, wenn ihm wirklich etwas an seiner Ehe lag.

Heute sagt Roberto: “Noch vor ein paar Jahren hätte ich mir das nie vorstellen können, doch ist es wirklich ein Geschenk Gottes, mit einer Frau verheiratet zu sein, die mich nicht so sein lässt, wie ich gerade bin. Manchmal habe ich das Gefühl, wir versetzen einander Tritte in den Hintern, um die Leiter zum Himmel hinaufzuklettern.”

Liebe lässt uns sicher nicht da, wo sie uns zuerst antrifft, so wie auch wir die Menschen, die wir lieben, nicht dort lassen, wo sie gerade sind. Nehmen wir das Beispiel von Clara und Lorraine Hale. Auf ihrem Weg nach Hause hielt Lorraine bei ihrer Mutter an und klagte über ihren harten Job als Studienberaterin in den öffentlichen Schulen von New York. Ihre Mutter erwiderte: “Lorraine, Gott hat dich aus einem ganz bestimmten Grund in diese Welt gesetzt. Früher oder später wirst auch du diesen Grund verstehen. Komm ein bisschen zur Ruhe und höre auf dein Herz. Dann wirst du wissen, wenn er dir deine Lebensaufgabe offenbart.”

Auf ihrem Heimweg kam Lorraine an einer Ampel neben einer völlig heruntergekommenen Frau zum Stehen. Die Frau wog mit halb geschlossenen Augen ein winziges Baby in ihren Armen. Die Ampel wurde grün und Lorraine setzte ihre Fahrt fort. Doch wollte ihr das Baby nicht mehr aus dem Kopf gehen. Also kehrte sie nach ein paar Häuserblocks um und fuhr wieder zu der Kreuzung zurück. Dort gab sie der Frau einen Zettel mit der Adresse ihrer Mutter: “Gehen Sie zu dieser Adresse. Meine Mutter wird Ihnen helfen.”

Am nächsten Morgen standen Frau und Kind tatsächlich vor Clara Hales Tür. Clara hatte Dutzende Pflegekinder...