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Altwerden von seelenpflegebedürftigen Menschen in einer sozialtherapeutischen Einrichtung

Am Beispiel der Dorfgemeinschaften Hermannsberg und Lehenhof

AutorFranz Fauser, Helge Klaes, Julia Klaes
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783640792740
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Forschungsarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, , Sprache: Deutsch, Abstract: Welche Fachkompetenzen sind für die optimierte Betreuung von alten Menschen mit geistiger Behinderung notwendig? Das Forschungsprojekt 'Altwerden von seelenpflegebedürftigen Menschen in einer sozialtherapeutischen Einrichtung', gefördert durch die Ruth- und Christian-Bruhn-Stiftung, vermittelt über das Deutsche Stiftungszentrum Essen, befasst sich mit dem Alter und Altwerden von Menschen mit geistiger Behinderung (in der Terminologie der anthroposophischen Heilpädagogik 'seelenpflegebedürftige' Menschen genannt) in den Camphill-Dorfgemeinschaften Hermannsberg und Lehenhof im Bodenseeraum. In den Camphill-Einrichtungen wird die Idee eines umfassenden, brüderlichen Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen Lebensschicksalen, geistigen, seelischen und körperlichen Behinderungen und Mitarbeitern verwirklicht. In wahlfamilienähnlichen Strukturen leben hier partnerschaftlich Mitarbeiter und Menschen mit Behinderung zusammen. Der Alterungsprozess von Menschen mit geistiger Behinderung verläuft prinzipiell nicht anders als in der Allgemeinbevölkerung. Allerdings zeigt dieser Personenkreis eine deutlich erhöhte Anfälligkeit für körperliche und psychische Erkrankungen, insbesondere auch im Alter. Deshalb setzte das Projekt-Team sich mit der Fragestellung auseinander, welches Fachwissen und welche Kompetenzen aus Sicht der Mitarbeiter für eine optimierte Betreuung alter Menschen mit geistiger Behinderung relevant erscheinen.

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Leseprobe

II. Vorstellung der Camphill-Dorfgemeinschaften Hermannsberg und Lehenhof


 

„Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie geht davon aus, dass hinter allen intellektuellen und psychischen Behinderungen das Geistige seines Wesens unversehrt ist (geistige Entelechie)“ (vgl. SIEGEL-HOLZ, 2008, S. 277). Auf der Grundlage dieses Menschenbildes wird in den Camphill-Dorfgemeinschaften gearbeitet.

 

Die Camphill-Dorfgemeinschaft nach Buchka:„Eine sozial agogisch inszenierte Gemeinschaftsform mit therapeutischem Auftrag“ (vgl. BUCHKA, 2003, S. 263) ist die Umsetzung einer Vision des anthroposophischen Arztes Dr. Karl König (19021966). Aufgrund seiner jüdischen Herkunft musste der gebürtige Wiener vor den Nazis fliehen. Auf Umwegen gelangte er nach England und gründete dort mit Gleichgesinnten eine heilpädagogische Gemeinschaft. 1940 wurde auf einem Bauernhof im Camphill-Areal im nordöstlichen Schottland (Nähe Aberdeen) eine Einrichtung zur Betreuung junger seelenpflegebedürftiger Menschen gegründet. Zwanzig Jahre später entstand im Deggenhausertal, von Dr. König selbst noch gegründet, die erste deutsche Camphill-Dorfgemeinschaft auf dem Lehenhof, unweit vom Bodensee. Es wurde versucht, die Idee eines umfassenden, brüderlichen Zusammenlebens von Menschen mit verschiedenen Lebensschicksalen, geistigen, seelischen und körperlichen Behinderungen zu verwirklichen. In wahlfamilienähnlichen Strukturen leben partnerschaftlich Betreute und Betreuer in der Einrichtung einer Dorfgemeinschaft zusammen. Es handelt sich dabei um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, im Gegensatz zum Schichtbetrieb in anderen Heimeinrichtungen. Die rhythmische Gliederung und Wahrnehmung des Tages-, Wochen- und Jahresablaufes können den Menschen mit Behinderung eine innere Orientierung und Halt geben. Auch die Möglichkeit zu kultureller Bildung wird bewusst zur Verfügung gestellt. Es bestehen Andachten, jahreszeitliche Festivitäten, sowie musikalische und andere künstlerische Aktivitäten.

 

Die betreuten Menschen finden innerhalb dieser Einrichtungen in Werkstätten (Gärtnerei, Landwirtschaft, Schreinerei, Hauswirtschaft) ihre Tätigkeiten. Inzwischen existieren mehr als 100 Gemeinschaften in über 20 Ländern der Erde (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Camphill).

 

Die Dorfgemeinschaft Lehenhof

 

Auf dem Lehenhof leben heute 135 „Dörfler“ (Menschen mit Behinderung). Davon sind 116 in Werkstätten tätig, 26 arbeiten im landwirtschaftlichen Bereich. Von außerhalb sind 25 Menschen mit Behinderung in Werkstätten tätig. Gearbeitet wird im Bereich der Hauswirtschaft, Landwirtschaft und Gärtnerei, in Dorfmeisterei, Bäckerei, Weberei, Färberei und Wollwäschewerkstatt, sowie in einer Papierwerkstatt, Holzwerkstatt, Etikettierwerkstatt und einer Verpackungswerkstatt. Weiterhin gehört eine „Holzklang-Werkstatt“ hinzu, in der vorwiegend Menschen, die sehr wenig zu leisten imstande sind, elementar mit Holz arbeiten. Insgesamt sind auf dem Lehenhof momentan 161 Mitarbeiter tätig (inklusive Praktikanten und Auszubildenden), diese sind u.a. ausgebildet in Heilerziehungspflege, Heilpädagogik, Sozialtherapie, Kranken- und Altenpflege aber auch als Landwirt, Gärtner oder Bäcker.

 

Die Dorfgemeinschaft Hermannsberg

 

1975 erfolgte die Gründung der Dorfgemeinschaft Hermannsberg durch eine Gemeinschaft von Eltern aus dem Freundeskreis Camphill und CamphillMitarbeitern, da die Dorfgemeinschaft Lehenhof die Aufnahmeanfragen alleine nicht mehr bewältigen konnte.

 

In der Dorfgemeinschaft Hermannsberg, 15 km nördlich von Überlingen auf den letzten Ausläufern der Schwäbischen Alb gelegen (ein früheres Klostergebäude), leben zurzeit 110 Dörfler, davon sind 99 in den Werkstätten tätig.

 

Die behinderten Menschen finden Arbeit in der Schreinerei, Hauswirtschaft, Weberei, Kerzenzieherei oder Kräuterwerkstatt. Darüber hinaus gibt es eine Wäscherei, eine Papierwerkstatt und eine Landwirtschaft.

 

Das betreuende Fachpersonal setzt sich aus 49 Mitarbeitern, welche auf dem Hermannsberg leben, und 64 Mitarbeitern, die von extern kommen, zusammen. Die Berufsbezeichnungen der Mitarbeiter sind, mit denen der Mitarbeiter des Lehenhofs etwa deckungsgleich.

 

Die Bedeutung der Krankenstationen

 

Eine wichtige Einrichtung in beiden Dorfgemeinschaften sind die Krankenstationen, in denen jeweils zwei Mitarbeiter beschäftigt sind. Hier finden regelmäßige Sprechstunden der betreuenden Ärzte statt. Außerdem erfolgt die medizinische Versorgung und Koordination therapeutischer Maßnahmen.

 

Besondere Therapiemöglichkeiten

 

In den Camphill-Einrichtungen gibt es u.a. die Möglichkeit der Heileurythmie und der rhythmischen Massage (beides genuin anthroposophische Therapiekonzepte), sowie Physiotherapie, therapeutisches Reiten und Maltherapie, Sprachtherapie und Musiktherapie. Inwiefern gerade diese besonderen Therapiemöglichkeiten einen günstigen Einfluss auf den Altersprozess haben können, wäre eine interessante Frage, die im Rahmen dieses nicht verfolgt werden konnte.

 

Im Hinblick auf die spezielle Fragestellung des Alterns und Älterwerdens der Dörfler sind hier zwei Hausgemeinschaften besonders herauszustellen.

 

„Heinrich Fuhrmann Haus“ und „Haus Sonnenblume“

 

Das „Heinrich Fuhrmann Haus“ der Dorfgemeinschaft Hermannsberg wurde 2004 bezogen. Es wurde von Eltern gestiftet. Hier leben 11 Menschen mit Behinderung. Vier davon sind schwerst pflegebedürftig. Von den zwölf Mitarbeitern kommen sechs von extern. Der Altersdurchschnitt der Bewohner beträgt hier 42,0 Jahre. Eine Hausfamilie bildet den verantwortlichen Kern. Im „Heinrich Fuhrmann Haus“ leben mehrere Generationen und auch Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, d.h. leicht bis mittelgradige und schwere Behinderungen, zusammen. Man versucht die Belastung der Mitarbeiter in Schwerstpflege-Situationen intern zu verteilen. D.h. im Akutfall kommen aus der Dorfgemeinschaft insbesondere solche Menschen, die den Betreuten aus früheren Situationen noch kennen, zur Hilfe. Der einzelne Mitarbeiter wird nicht ausschließlich in der Pflege von Menschen mit schwerer Behinderung eingesetzt, sondern kann sich auch den nicht pflegebedürftigen Dörflern zuwenden. Dadurch versucht man die Gefahr eines „Burnouts“ zu verringern. Das Konzept hier ist integrativ, mehrgenerativ und richtet sich an Menschen, die eine breite Differenzierung an Behinderungen und Erkrankungen aufweisen. Dieser Ansatz könnte ein funktionsfähiges Modell sein, und Camphill- übergreifend eingesetzt werden. Rüdiger Grimm, ein erfahrener Heilpädagoge und Sozialtherapeut (derzeit Sekretär der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie in der medizinischen Sektion am Goetheanum/Dornach) schreibt in seinem Beitrag „Der Mensch im Alter und die Aufgaben der Sozialtherapie“ (Zeitschrift Seelenpflege 1/2006, S. 10): „Gerade für alte Menschen ist es von hoher Bedeutung in einem mehrgenerationenellen sozialen Raum leben zu können, also auch mit kleinen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und eben nicht nur mit Menschen der eigenen Altersgruppe im Kontakt zu sein“.

 

Als eine familienähnliche Hausgemeinschaft wie andere, in der jedoch auch Schwerstpflege leistbar sein sollte, hatte auch das „Haus Sonnenblume“ am Lehenhof 1995 mit zwei Wohngruppen begonnen. Die Konzeption eines Zusammenlebens von Menschen mit Hilfebedarf und Helfern mit ihren Familien war ebenso angelegt wie das Zusammenleben von Menschen mit leichten und sehr schweren Behinderungen in unterschiedlichen Lebensaltern. Die Konzeption ließ sich hier allerdings in dieser Form nicht durch tragen. Folgende Erfahrungen wurden im Verlauf von 15 Jahren gemacht:

 

 Wenn zur Alltagsbegleitung der Betreuten und zu den umfangreichen hauswirtschaftlichen Aufgaben noch Pflege in erheblichem Umfang geleistet werden muss, stellt ein Zusammenleben im Haus die Mitarbeiter vor Belastungen, die langfristig nicht zu leisten sind.

 

 Wenn eine ganze Alterskohorte einer sozialtherapeutischen Gemeinschaft in ein Alter kommt, in dem der Hilfebedarf stark zunimmt, werden Häuser wie das Haus Sonnenblume bald zu Orten ausschließlich für Menschen, die in anderen Hausgemeinschaften nicht mehr angemessen versorgt werden können. Betreute, die das Hausleben in einem Haus Sonnenblume bislang noch stützen konnten, müssen ihren Wohnplatz denen zur Verfügung stellen, die Schwerstpflege und einen hohen Personalaufwand in Anspruch nehmen müssen.

 

Heute leben im Haus Sonnenblume insgesamt 17 Menschen mit Behinderungen in zwei Wohngemeinschaften, davon sind vier Menschen an Demenz erkrankt und fünf Menschen an den Rollstuhl gebunden. Eine Wohngruppe wird von Hausverantwortlichen geführt, die als Familie mit kleinem Kind im Haus wohnen. Die andere Gruppe, in der Schwerstpflege geleistet wird, wird von 12 extern wohnenden Voll- und Teilzeit-Mitarbeitern im Drei-Schicht-Betrieb betreut. In dieser Gruppe sind die Betreuten durchschnittlich 62,4 Jahre alt.

 

Aufgrund des fortschreitend zunehmenden Durchschnittsalters und weil die öffentliche Finanzierung neuer Gebäude mit entsprechender Ausstattung im vollstationären Bereich sehr schwierig geworden ist, stellen sich dem Lehenhof neue Herausforderungen in Bezug auf eine künftige Struktur.

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