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E-Book

Anatomie des Verbrechens

Meilensteine der Forensik

AutorVal McDermid
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641184681
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Bestseller-Autorin Val McDermid lässt die Toten sprechen
In ihren Romanen schreibt Val McDermid seit Jahren vom unvorstellbar Bösen. Jetzt geht sie zum ersten Mal realen Verbrechen auf den Grund und schildert die Methoden der Forensik von ihren Anfängen bis an die Grenzen künftiger Wissenschaft und Technologie. Denn die Toten sprechen. Denen, die genau hinhören, erzählen sie alles über sich: woher sie kommen, wie sie lebten, wie sie starben - und wer sie umgebracht hat. Wie minimal die Spur auch sein mag, dem scharfen Blick der Gerichtsmedizin entgeht nichts...

Val McDermid wuchs in einem schottischen Bergbaugebiet auf und studierte Englisch in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften englischen Zeitungen lebt sie heute als freie Autorin in Manchester und in einem kleinen Dorf an der Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten Autorinnen im Spannungsgenre - und ist als Krimikritikerin der BBC, der Times, des Express sowie als Jurymitglied mehrerer Krimipreise eine zentrale Figur in der Krimiszene ihres Landes. Ihre Romane wurden in viele Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

EINS DER TATORT

Der Tatort ist der stumme Zeuge.

Peter Arnold,
Spezialist für Tatortarbeit

»Code Zero. Notruf – Verstärkung schicken!« Das ist das Funksignal, das jeder Polizist fürchtet. An einem grauen Nachmittag im November 2005 ließen Police Constable Teresa Millburns abgerissene Worte alle in der Leitstelle der West Yorkshire Police erstarren. Ihr Notruf war der Vorbote eines Falls, der alle Mitarbeiter der Polizei betroffen machen würde. An jenem Nachmittag wurde für zwei Kriminalbeamtinnen die Angst, mit der Polizisten jeden Tag leben müssen, harte Wirklichkeit.

Teresa und ihre Partnerin, PC Sharon Beshenivsky, die erst neun Monate zuvor eingestellt worden war, waren gegen Ende ihrer Schicht im Streifenwagen unterwegs. Bei der Streifenfahrt sollten die beiden die Nachbarschaft beobachten und nach dem Rechten sehen. Bei kleineren Vorkommnissen sollten sie eingreifen. Präsenz auf den Straßen zeigen. Sharon freute sich darauf, nach Hause zu kommen zur Geburtstagsparty ihres Jüngsten, und da es nur noch knapp eine halbe Stunde bis Feierabend war, sah es aus, als würde sie pünktlich zu Geburtstagstorte und Partyspielen eintreffen.

Dann, um kurz nach halb vier, kam eine Nachricht. Bei Universal Express, einem Reisebüro im Viertel, war ein Fernalarm ausgelöst worden, der direkt an die Polizeizentrale ging. Die beiden Frauen würden auf dem Rückweg zum Revier sowieso dort vorbeikommen, so beschlossen sie, den Auftrag zu übernehmen. Sie parkten gegenüber dem Reisebüro und überquerten die verkehrsreiche Straße zu dem langen einstöckigen Backsteingebäude, an dessen großen Fenstern Jalousien angebracht waren.

Als sie das Büro erreichten, sahen sie sich einem Trio bewaffneter Einbrecher gegenüber. Sharon bekam aus kürzester Entfernung einen Schuss in die Brust ab. Beim Prozess gegen Sharons Mörder sagte Teresa später: »Wir waren nur einen Schritt auseinander. Sharon ging vor mir. Dann hielt sie an. Sie blieb stehen, weil sie tot war – sie hielt so plötzlich an, dass ich ins Straucheln geriet. Ich hörte einen Knall, und Sharon fiel zu Boden.«

Nur Augenblicke später wurde auch Teresa in die Brust geschossen. »Ich lag auf dem Boden. Ich hustete und spuckte Blut. Ich spürte, dass Blut an meiner Nase herunterlief und überall im Gesicht war, ich bekam kaum noch Luft.« Trotzdem gelang es ihr, den Notfallknopf zu drücken und die Leitstelle mit den schicksalsschweren Worten »Code Zero« zu alarmieren.

Peter Arnold, ein Tatortermittler der Yorkshire and Humberside Scientific Support Services, hörte den Notruf über Funk. »Das werde ich nie vergessen. Ich sah den Tatort vom Polizeirevier aus, es war buchstäblich nur ein Stück weiter vorn an der Straße. Und plötzlich rannte da eine ganze Schar Polizisten die Straße entlang. Ich habe nie so viele Kollegen auf einem Haufen gesehen, es war wie bei einer Feueralarmübung.

Zuerst wusste ich gar nicht, was los war. Dann hörte ich über Funk, jemand sei erschossen worden, möglicherweise eine Polizeibeamtin. Da rannte ich auch einfach los. Ich war der Erste von der Tatortermittlung vor Ort. Ich wollte den Kollegen helfen, die Absperrung einzurichten, damit wir sicher sein konnten, dass der Tatort nicht beschädigt wurde, weil alles sehr emotional war in dem Moment, wie Sie sich ja vorstellen können, und wir mussten da einfach etwas Ordnung reinbringen.

Fast zwei Wochen habe ich mich mit diesem Tatort befasst. Oft bis in die Nacht hinein. Um sieben Uhr früh fing ich an und kam erst gegen Mitternacht nach Haus. Ich erinnere mich, dass ich danach vollkommen erschöpft war, aber damals kümmerte mich das nicht. Es wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Diesen Tatort werde ich niemals vergessen. Nicht weil es ein so aufsehenerregender Fall war, sondern weil eine Kollegin ermordet worden war. Die Tatsache, dass Sharon Polizistin war, bedeutete, dass sie zu meiner Familie gehörte. Andere, die sie gekannt hatten, waren noch verstörter, aber alle steckten ihren Kummer weg und widmeten sich wieder ihrer Arbeit.

Die Polizeibeamtin Sharon Beshenivsky, die von einer Gruppe bewaffneter Raubmörder aus kürzester Distanz erschossen wurde

Und wir konnten gute kriminaltechnische Beweismittel sichern, die wirklich zur Aufklärung des Falls beitrugen, nicht nur am Tatort selbst, sondern auch in der Umgebung: In den Fluchtfahrzeugen und an den Orten, wo die Flüchtigen sich danach aufhielten.«

Die Männer, die für den bewaffneten Raubüberfall verantwortlich waren, der Sharon Beshenivskys Mann zum Witwer machte und durch den ihre drei Kinder ihre Mutter verloren, wurden später vor Gericht gestellt und bekamen eine lebenslange Haftstrafe. Die Verurteilung kam hauptsächlich dank der Arbeit der Tatortermittler und anderer forensischer Spezialisten zustande, Menschen, die Beweise suchen, sie auswerten und schließlich vor Gericht vorlegen. Den Weg solchen Beweismaterials werden wir in diesem Buch verfolgen.

Edmond Locard, der das erste Labor für Ermittlungen am Tatort eröffnete, prägte auch das Motto der Kriminaltechniker: »Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur«

Jeder plötzliche gewaltsame Tod hat seine eigene Geschichte. Um sie lesen zu können, beginnen die Ermittler mit den zwei grundlegenden Informationsquellen – dem Tatort und der Leiche. Idealerweise finden sie die Leiche vor Ort; betrachtet man die Verbindungen zwischen diesen beiden, so hilft das den Ermittlern, die Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren. Allerdings ist das nicht immer der Fall. In der vergeblichen Hoffnung, dass sie wiederbelebt werden könnte, wurde Sharon Beshenivsky eilig in ein Krankenhaus gebracht. In anderen Fällen gelingt es tödlich verwundeten Personen, sich eine gewisse Strecke von der Stelle zu entfernen, wo sie angegriffen wurden. Manche Mörder schaffen die Leiche weg, entweder mit der Absicht, sie zu verstecken, oder einfach, um die Kriminalbeamten zu verwirren.

Selbst für die komplexesten Umstände haben Wissenschaftler Methoden entwickelt, die die Ermittler mit einem ganzen Spektrum an Informationen ausstatten, um die Geschichte eines Todes lesen zu können. Um diese Geschichte vor Gericht glaubhaft darzustellen, muss die Staatsanwaltschaft zeigen, dass das Beweismaterial belastbar und unverfälscht ist. Genau deshalb ist die Tatortarbeit bei der Untersuchung von Mordfällen in den Vordergrund gerückt. Wie Peter Arnold sagt: »Der Tatort ist der stumme Zeuge. Das Opfer kann uns nicht erzählen, was sich zugetragen hat, der Tatverdächtige möchte uns wahrscheinlich nicht sagen, was passiert ist, deshalb müssen wir eine Hypothese aufstellen, die erklärt, was sich abgespielt hat.«

Je besser die Methoden der Spurensicherung am Tatort wurden, desto akkuratere Hypothesen konnten über den Vorgang eines Verbrechens aufgestellt werden. Im 19. Jahrhundert wurden beweisgestützte Gerichtsverfahren zwar zur Regel, die Sicherung des Beweismaterials war aber noch nicht sehr weit entwickelt. Der Gedanke, dass Verunreinigungen oder Verfälschungen zu vermeiden seien, blieb unberücksichtigt. Bedenkt man, wie begrenzt das war, was die wissenschaftliche Analyse damals leisten konnte, stellte das kein sonderlich großes Problem dar. Aber diese Grenzen wurden erweitert, als die Wissenschaftler ihr zunehmendes Wissen in der Praxis anwendeten.

Eine der Schlüsselfiguren, die für das Verstehen der Beweislage am Tatort sorgte, war der Franzose Edmond Locard. Nach seinem Studium der Medizin und Rechtswissenschaft in Lyon begründete er 1910 das weltweit erste Labor für Ermittlungsarbeit. Die Polizei von Lyon stellte ihm zwei Assistenten und zwei Räume unter dem Dach zur Verfügung. In diesen beengten Verhältnissen der Anfangszeit entwickelte er das Labor zu einem internationalen Zentrum. Schon von klein auf hatte Locard eifrig Arthur Conan Doyle gelesen und wurde besonders von A Study in Scarlet (1887) (Eine Studie in Scharlachrot) beeinflusst, wo Sherlock Holmes zum ersten Mal auftritt. In diesem Roman sagt Holmes: »Ich habe eine spezielle Studie zu Zigarrenasche durchgeführt, ja, ich habe eine Monografie zu dem Thema geschrieben. Ich bilde mir ein, dass ich mit einem Blick die Asche jeder bekannten Zigarre – und auch Tabakmarke von anderen unterscheiden kann.« Im Jahr 1929 veröffentlichte Locard einen Aufsatz über die Bestimmung von Tabak anhand der am Tatort gefundenen Asche: »Die Analyse von Staubspuren.«

Er schrieb ein bahnbrechendes siebenbändiges Lehrbuch über den Gegenstand, den er »Kriminalistik« nannte, aber sein einflussreichster Beitrag zur forensischen Wissenschaft ist wahrscheinlich diese simple Aussage: »Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur«, die als der Locardsche Grundsatz des Austauschs bekannt ist. Er schrieb: »Es ist unmöglich, dass ein Verbrecher handelt, ohne Spuren seiner Anwesenheit zu hinterlassen, besonders wenn man die Intensität eines Verbrechens berücksichtigt.« Es mögen Fingerabdrücke sein, Fußspuren, identifizierbare Fasern von seiner Kleidung oder der Umgebung, Haare, Haut, eine Waffe oder Gegenstände, die ihm versehentlich herunterfielen oder die er mitzunehmen vergaß. Und auch das Gegenteil ist wahr: das Verbrechen hinterlässt Spuren am Verbrecher. Schmutz, Fasern vom Opfer oder dem Tatort selbst, DNA, Blut oder andere Flecken. Locard demonstrierte die Möglichkeiten dieses Prinzips mit seinen eigenen Ermittlungen. In einem Fall entlarvte er einen Mörder, der ein stichhaltiges Alibi für die Zeit zu haben schien, als seine Freundin ermordet wurde. Locard...

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