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Angst und Hoffnung

Theologisch-praktische Quartalschrift

AutorDie Professoren u. Professorinnen der Fakultät für Theologie der Kath. Privat-Universität Linz
VerlagVerlag Friedrich Pustet
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783791761121
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Diese Ausgabe widmet sich in interdisziplinärer Ausrichtung den menschlichen Grundphänomenen Angst und Hoffnung. Viele Menschen fürchten um ihre Sicherheit, um ihren Arbeitsplatz, um ihre Beziehungen, um ihre Zukunft. Warum ist Angst zu einem derartigen 'Zeichen der Zeit' geworden? Und welche Rolle spielen die Religionen, die Kirchen, die Theologien dabei?

Mit Beiträgen von Manfred Prisching, Gert Pickel, Clemens Sedmak, Franz Gruber, Klaus Mertes SJ, Wunibald Müller, Gerold Lehner, Ewald Volgger OT und Tomás Halik.

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Leseprobe

Manfred Prisching

Soziologie der kollektiven Ängste


 Viele Menschen haben zunehmend den Eindruck, in einer Gesellschaft zu leben, in der nichts mehr „normal“ ist. Der Grazer Soziologe Manfred Prisching zeigt eindrucksvoll, welche zentralen Verlusterfahrungen sich kollektiv entfalten, wenn Werte, Gemeinschaft, Überschaubarkeit, Wohlstand und Sicherheit in Frage stehen: der Verlust der Normalität wie z. B. vermeintlicher Selbstverständlichkeiten und der Verlust der Resonanz (H. Rosa), d. h. einer gelingenden Weltbeziehung wie Verbundenheit mit und Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen. Wer davon profitiert, sind neoautoritäre Bewegungen. (Redaktion)

Wir leben (in Mitteleuropa) in einer wohlhabenden und historisch einmalig sicheren Welt, und dennoch scheinen die Ängste nicht zu weichen, ja sogar zuzunehmen, bis hin zum Empfinden einer Risikogesellschaft und zum Befund einer umfassenden Angstgesellschaft.1 Das ist eine paradoxe Sache. Denn der beste Indikator für Lebenssicherheit und Wohlstand ist die Lebenserwartung, die in den westlichen Ländern hoch ist und weiter ansteigt, jedes Jahr um ein Vierteljahr. Dennoch entspricht diese objektive Sicherheit nicht dem Lebensgefühl. Die oberflächlichste aller Bedrohungen ist der Terror. Manche Menschen sagen, dass sie sich kaum noch auf die Straße trauen. Mehr als 20.000 Tote pro Jahr in Europa jedoch gibt es durch Mord und 30.000 durch Autounfälle. Da ist es sonderbar, dass Menschen Angst haben, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Terroranschläge haben in den letzten Jahren etwa 200 bis 300 Tote pro Jahr in Europa verursacht. Für Amerika wurde festgestellt: Zwei Tote pro Jahr durch eingewanderte, islamische Terroristen, die der amerikanische Präsident für eine der größten Gefahren hält, aber 21 Tote durch bewaffnete Kleinkinder, 31 durch Blitzeinschläge, 69 Personen werden von Rasenmähern getötet, und 737 Amerikaner sterben jährlich, weil sie aus dem Bett fallen.2 Ehepartner sind jedenfalls statistisch viel gefährlicher als Terroristen. Doch die Feststellung, dass solche Ängste übertrieben sind, beseitigt diese nicht. Möglicherweise aber haben wir vor den falschen Dingen Angst, etwa vor importierten Salzsäure-Hühnern: Es wäre ein Skandal, würde es publik, dass man im Magen von Menschen bereits Spuren von Salzsäure gefunden hat. Das ist allerdings zwingend der Fall, denn Magensaft besteht hauptsächlich aus Salzsäure. Deshalb kaufen auch Menschen, bei denen keinerlei Unverträglichkeiten festgestellt worden sind, glutenfreie und laktosefreie Produkte. Man weiß ja nie.

Es herrscht Unbehagen, Angst, Wut. Heinz Bude sagt: „[Angst] ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind.“3 Sie ist die spätmoderne Verständigungssprache. Man spricht über Gefühle, die gewissermaßen objektiviert, als Ausfluss einer (in Wahrheit nichtwirklichen) Wirklichkeit dargestellt werden. Denn die Gefahren sind „unsichtbar“ geworden. Angst kann man auch vor gegensätzlichen Dingen haben: Bei der Kontrollgesellschaft weiß man schon nicht mehr, ob die Angst vor dem „großen Bruder“ überwiegt oder die Maßnahmen allseitiger Überwachung bereits wieder angstreduzierend sind. Am besten hat man Angst vor beidem, vor der Überwachung und vor der Nichtüberwachung.

Dabei haben wir doch viele herkömmliche Ängste abgebaut: vor der Hölle und dem Teufel, vor den Dämonen und Geistern, vor dem bösen Blick der Nachbarin, vor dem Jüngsten Gericht … Dennoch handelt es sich um einen wuchernden Angsthaushalt, mit Folgen für die politische Szene. Sind alle verrückt geworden? Paranoia an allen Ecken und Enden? Woher die vielen Ängste?

Die Ängste resultieren aus dem Verlust der Normalität, aus dem Phänomen einer „Auflösungsgesellschaft“. Da war einmal eine Ordnung der Völker, Gruppen und Staaten (das war nicht notwendig eine besonders gute oder bessere Ordnung, zumal es im Rückblick ohnehin alle möglichen realitätsfernen Stimmungen und Gefühle gibt), doch diese Ordnung ist zerbrochen. Und eine neue geistige Ordnung ist noch nicht an ihre Stelle getreten. Man lebt in einer Gesellschaft, in der nichts mehr „normal“ ist – jedenfalls ist es immer weniger möglich festzustellen, was normal wäre. Wie aber soll man ohne Normalität leben? Bei diesem Normalitätsproblem handelt es sich um fünf aktuell diskutierte Fragestellungen, die auch für den politischen Diskurs mit neoautoritären Bewegungen eine entscheidende Rolle spielen: Werte, Gemeinschaft, Komplexität, Wohlstand, Sicherheit.

1 Der Verlust des Wertebaldachins


Erstens: Die Menschen sind durch die Auflösung des „Baldachins“ der gemeinsamen Werte verunsichert.4 Sie suchen eine einheitliche und konsistente Wertekonstellation. Man muss wissen, was gilt. Es braucht irgendeine Sinnstiftungsquelle. Normative Einheit wurde lange Zeit durch die Religion hergestellt, dann durch Nationalismus, schließlich durch Vernunftglauben und moderne totalitäre Ideologien wie den Marxismus und Faschismus. Das Schwächeln solcher Sinnstiftungssysteme kann eine Zeitlang durch Wohlstand und Konsum überbrückt werden: Menschen, die kaufen, schießen nicht. Aber auf Dauer scheint das nicht zu genügen, besonders wenn es mit dem versprochenen Wohlstandszuwachs auch noch zu hapern beginnt. Wenn es kaum noch außergesellschaftliche Bezüge (wie religiöse Tröstungen) gibt, dann sind die Anderen, die Mitmenschen, Himmel und Hölle zugleich. Der letztere Gedanke, den Heinz Bude von Paul Tillich entlehnt, macht zwangsläufig alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu solchen der Spannung, Unsicherheit, Ambivalenz und Angst, zumal in einer liquiden Spätmoderne5, in der alles andauernd in Schwebe bleibt, der Begründung entbehrt und der Kontingenz6 ausgesetzt ist. Bude meint nicht zu Unrecht, man könne aus dem, wovor sich die Menschen ängstigen, ableiten, „was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln“7.

Neoautoritäre8 versprechen die Wiederherstellung der „richtigen“ Werte, auf Wegen und mit Methoden, die üblicherweise weit jenseits dieser Werte liegen. Ihre Versprechungen sind haltlos, denn das Problem ist, dass es in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft keinen gemeinsamen „Wertehimmel“ geben kann, keine umfassende Leitkultur oder gesellschaftliche Gesinnungslehre. Dort lebt man definitionsgemäß in multiplen Identitäten, in der Vielfalt, in liquiden Verhältnissen, in der Fragilität. Es macht aber Angst, wenn man nicht mehr in der „eigenen Kultur“ lebt, in dem Sinn, dass man über Gültigkeiten Bescheid weiß – was also gut und böse, richtig und falsch ist. Doch es ist gerade diese „eigene Kultur“, die unbefragte Gültigkeiten aufgelöst und damit Freiheiten geschaffen hat, auf die man nicht verzichten will.

2 Der Verlust der Gemeinschaft


Zweitens: Menschen hegen tribalistische Gefühle: Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Heimat, Nation. Sie suchen nach einem Gemeinschaftsgefühl, dessen Quellen versiegt sind, sie streben Einbindung und Einbettung an;9 aber da sind nur noch fluktuierende Gruppierungen. Auch der Nationalismus ist nichts anderes als eine groß geratene Form von „Stammesdenken“, vielleicht die größtmögliche (sodass Europa als Identifikationsobjekt die „Community“ strapazieren würde). Trotz eines sich abschwächenden Gemeinschaftsgefühls war in den deutschsprachigen Ländern in den letzten Jahrzehnten noch die Erfahrung des Krieges gegenwärtig: Kriegsfolgenbetroffenheit und Schuldgefühl. Man hat sich geduckt und hart gearbeitet, mit erstaunlich positiven Folgen. Aber diese Art von Gemeinschaftsstiftung ist in den nachfolgenden Generationen immer weniger ein wirksames Bewusstseinselement. Der Kitt zerbröckelt, die Umstände werden als selbstverständlich genommen, die Wettbewerbsfähigkeit wird wichtiger.

Die Milieus driften auseinander. Da ist die traditionell-kleinbürgerliche Arbeiterschaft, die sichere Jobs und vertraute Umwelt will. Da sind aber auch qualifizierte, moderne Arbeitnehmer, die gut damit zurechtkommen, wenn sie mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft haben. Für die ersteren sind Flexibilität und Liquidität eine Bedrohung, für die letzteren ist es das selbstverständliche Ambiente. Es gibt kreative, coole, sich als Bohemiens gebende Individualisten, die durchaus gutes Geld verdienen. Ein paar konservative Bildungsbürger halten noch die Kulturinstitutionen aufrecht, aber sie sind im Schwinden. Es gibt die bereits etablierten Immigranten, die mit dem Nachzug von Ihresgleichen überhaupt keine Freude haben; und die neueren Flüchtlinge, deren Erwartungen weitgehend enttäuscht werden. Es gibt ein progressiv-intellektuelles Milieu, das sich von der Wirklichkeit der meisten Menschen längst abgekoppelt hat, sich über die Ablösung des Binnen-I den Kopf zerbricht und die Förderung unkonventioneller sexueller Orientierungen für das zentrale soziale Problem hält. Jedenfalls halten die einen die anderen für verrückt, für Restexemplare aus der alten Welt, für Dumpfbacken, für verwöhnte Illusionisten, die auf ihre Kosten leben. Das ist Desintegration.10

Neoautoritäre nehmen diese Heterogenisierung auf. Sie versprechen die Wiederherstellung des „Stammes“, den Abschluss nach außen, die Rekonstruktion staatlicher Container, die Eliminierung alles Fremden. „Wir sind das Volk“ war der Slogan von...

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