KAPITEL 2

JA zur Selbstverwirklichung

„Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand

gehen kann außer dir: wohin er führt?

Frage nicht, gehe ihn!“

(Nietzsche)

Einleitung

„Werde, der Du bist!“

In einer Zeit, die geprägt ist von Oberflächlichkeit und Konformismus, ist es eine große Herausforderung für uns Menschen, zu unserem eigenen Kern vorzudringen und von diesem inneren Zentrum aus unser Leben auszurichten.

Während ein Großteil der Glück suchenden Menschen nach wie vor darauf fixiert ist, dem Ruf der äußeren Welt nach Pflichterfüllung, Erfolg und Leistung gerecht zu werden, so ist der tiefste Wunsch jedes selbstverwirklichenden Menschen ein anderer. Er sehnt sich danach, den ihm ureigenen Sinn zu ergründen, seine Gaben als seine Aufgaben zu erkennen, sie zu entfalten und in den Dienst der Welt zu stellen.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit war die Möglichkeit, freie Wahlen zu treffen, so groß wie heute. In unserer westlichen Welt sind die grundlegenden Überlebensbedürfnisse weitgehend gedeckt. Während die großen Lebensmotivationen früher einem Mangelbewusstsein entsprungen sind, so erwachsen sie heute vermehrt einem Wachstumsbewusstsein. Wir gehören deshalb zu den ersten Generationen, die das Privileg haben, sich bewusst und gezielt mit der eigenen Selbstverwirklichung auseinandersetzen zu können. Mehr denn je hat der Mensch der heutigen Zeit die Wahlfreiheit, sich selbst zu leben oder sich selbst zu verfehlen, sich selbst zu gewinnen oder sich selbst zu verlieren. Dies ist einerseits eine große Chance, andererseits aber auch eine große Herausforderung und Verantwortung, die darin besteht, einen aktiven Beitrag zur weiteren Entwicklung unseres Planeten zu leisten.

Das Wort „Sünde“ entspringt dem Hebräischen und bedeutet ursprünglich „das Ziel verfehlen“. In diesem Sinne könnte man sagen, dass ein Mensch dann sündigt, wenn er an seiner wahren Lebensaufgabe vorbei lebt. Wenn er es verfehlt, all das, was als Potenzial in ihm angelegt ist, zu entfalten und so zu einer umfassenderen Existenz zu reifen.

Schon Platon betonte, dass jede Manifestation des Universums ein Urbild in sich trägt, in welches sie hineinwachsen möchte. So möchte die Rose möglichst ganz Rose, der Mensch möglichst ganz Mensch, die Liebe möglichst vollkommen Liebe sein. Alles im Dasein strebt danach, sein innewohnendes Urbild zu verwirklichen.

Aristoteles, ein Schüler Platons, prägte den Begriff der „Entelechie“. Danach ist jedes Lebewesen nicht bloß eine Ansammlung von Einzelteilen, sondern eine Ganzheit, die ihren Teilen erst Sinn verleiht. So ist auch der Mensch eine Entität und trägt Ziel und Sinn seines Daseins in sich selbst: Sich der Fülle seiner Möglichkeiten gemäß zu verwirklichen und ganz er selbst zu werden.

In jedem Menschen schlummern unzählige individuelle Möglichkeiten und Fähigkeiten. Jeder von uns besitzt ein einmaliges Potenzial, das es zu erforschen, zu entwickeln und ins Leben einzubringen gilt. Sind unsere Veranlagungen das Resultat eines selbst erschaffenen Karmas aus früheren Leben? Sind sie Teil eines göttlichen Planes? Oder sind sie ganz einfach Zufall?

Niemand kann uns mit Sicherheit beantworten, ob wir selbst verantwortlich sind für unsere Startbedingungen in dieses Leben. Selbst verantwortlich sind wir aber sicherlich dafür, was wir im Laufe unseres Daseins aus unseren Anlagen und unserem Potenzial machen.

Das Selbst-Bewusstsein des Menschen, seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und seine Möglichkeit, sich selbst perspektivisch wahrzunehmen, unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen und ermöglicht es ihm, bewusste Wahlen zu treffen – so auch die Wahl, immer mehr zu erkennen und zu verwirklichen, wer er zutiefst ist.

Sagen wir also JA zu unserer Selbstverwirklichung! Sagen wir JA dazu, das Potenzial, das in uns schlummert, zu erwecken und zu entwickeln, um als Mitschöpfer unseren Fähigkeiten gemäß der Welt zu dienen und so den evolutionären Prozess mit zu prägen!

„Die Geschichte der Welt ist die Geschichte weniger Menschen,

die den Glauben an sich selbst besessen haben.“ 13

(Vivekananda)

Blockierte Lebenskraft befreien

Leben ist Energie in Bewegung. Unsere Lebenskraft möchte kanalisiert und zum Ausdruck gebracht werden. Die Essenz unseres Lebens besteht darin, etwas zu bewegen – im Innen wie im Außen. Ein ungehindertes Fließen unserer schöpferischen Kräfte erfüllt uns mit einem Gefühl von großer Lebendigkeit. Menschen, die im Fluss sind, weil sie ihren Weg gefunden haben und ihrem innersten Wesen kongruent auf authentische Weise folgen, beeindrucken uns durch ihre Ausstrahlungskraft und einen einmaligen Output. Es scheint, als schöpften sie aus einem immensen Energiereservoir, das nie zu versiegen droht. Leider ist diese Art von Mensch relativ selten anzutreffen.

Fast täglich begegne ich bei meiner therapeutischen Arbeit Menschen, die stark darunter leiden, sich leer und nicht mehr lebendig zu fühlen, weil sie nicht tun und zum Ausdruck bringen können, was sie gerne täten und was ihnen zutiefst entsprechen würde.

Sie fühlen sich zunehmend mut- und kraftlos, etwas an ihrem Leben zu ändern. Der Eindruck, machtlos zu sein, etwas Neues in ihrem Leben und in der Welt, in der sie leben, in Bewegung zu bringen, führt zu diesem Gefühl der Leere und Apathie, das heutzutage bei vielen Menschen vorherrscht. Ein Empfinden großer Ohnmacht lässt sie ihre ursprünglichen Wünsche, ihren ehemaligen Enthusiasmus und ihre Leidenschaften verlieren. Ablenkungsstrategien, Gleichgültigkeit und Mangel an Gefühl helfen ihnen, die Angst vor dem Leben nicht mehr zu spüren.

Östliche Gesundheitssysteme wie etwa der Ayurveda, aber auch die wahrscheinlich älteste Medizin der Welt, die Astromedizin, sprechen in diesem Kontext oft von „blockiertem Feuer“. Das Element Feuer steht in diesem Verständnis für Vitalität, Motivation, Durchsetzungskraft, Klarheit und den Mut, in Aktion zu treten und dem Leben eine klare Richtung zu geben. Feuer wird als schöpferische Energie betrachtet, die zum Leben gebracht werden will, aber durch unser urteilendes Denken oft ihrer Kraft beraubt wird.

Folgende Symptome können ein Hinweis auf blockiertes Feuer beziehungsweise ungelebtes, nicht zum Ausdruck gebrachtes Potenzial sein: Innere Unruhe und Unzufriedenheit, Gefühle von Gereiztheit und Aggression bis hin zu Sinnleere, Antriebslosigkeit und Depression. Vergleichbar mit einem Dampfkochtopf kann ein Mangel an konstruktivem, kreativem Ausdruck zu einer Überaktivierung unseres vegetativen Nervensystems führen. Folge davon sind die heutzutage so weit verbreiteten funktionellen Störungen wie beispielsweise Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Reizdarm, Allergien, Fibromyalgie, Migräne und viele andere, denen die klassische Schulmedizin oft ratlos gegenübersteht, da ihnen keine klaren organischen Ursachen zugrunde liegen. Unsere Lebenskraft bleibt also als gebundene Energie in unserem Körper-Seele-Geist-Kontinuum gefangen, wenn wir unser Potenzial nicht ins Leben bringen. Die Verweigerung anstehender Entwicklungsaufgaben führt früher oder später bei jedem Menschen zu Leid und Schmerz. Die auftauchenden Symptome lassen sich als Korrekturversuch unseres Körpers und unserer Seele interpretieren und scheinen oft notwendig zu sein, um uns in festgefahrenen Lebenslagen wieder in Bewegung zu bringen. Und die Not lässt sich meist nur soweit abwenden, wie wir den Sprung ins Neue, noch Unbekannte wagen....

Bereits Sokrates sprach von einer jedem Menschen vertrauten persönlichen inneren Stimme, die als Vermittler zum Göttlichen dient. Er nannte diese uns innewohnende Instanz „Daimonion“. Der Daimonion wacht darüber, dass der Mensch seiner wahren Bestimmung folgt. Er lässt uns Dinge erkennen, die unserer Vernunft und rationalen Einsicht allein verborgen bleiben. Immer von neuem treibt er uns an, den uns eigenen Auftrag zu verwirklichen, zugleich schickt er uns korrigierende Impulse, wenn wir daran vorbei zu leben drohen. Es ist nicht seine Aufgabe, uns zu sagen, was wir tun sollen, sondern sich immer dann zu melden, wenn wir von unserem Weg abweichen und Gefahr laufen, unseren Seelenauftrag zu verfehlen.

Spannung

Bewusstsein ist reines Schöpfungspotenzial. Und je höher die Bewusstseinsebene ist, die wir erreicht haben, umso stärker ist unsere potenzielle schöpferische Ausdruckskraft. Jeder begabte Mensch braucht demnach ein gewisses Maß an Spannung, um sich lebendig zu fühlen. Er braucht Herausforderungen, an denen er wachsen kann.

Die moderne Stressforschung hat aufgezeigt, wie essentiell wichtig positiver Stress, so genannter Eustress, für unser Wohlbefinden ist und wie belastend es für unsere Psyche sein kann, wenn wir unsere innewohnenden Fähigkeiten nicht fruchtbar und produktiv ins Leben einbringen können. Ohne Spannung kann in dieser Welt...