TEIL 1: HINTERGRUND
1. Der radikale Behaviorismus und grundlegende verhaltensanalytische Prinzipien
Die philosophische Grundlage der Psychologie von B. F. Skinner ist der sogenannte radikale Behaviorismus (1953). Diese Bezeichnung hat im Laufe der Jahre zahlreiche Kontroversen hervorgerufen und wurde häufig missverstanden. Dabei erreichte das Missverständnis gelegentlich solche Ausmaße, dass man sich fragen könnte, ob die Bezeichnung nach wie vor von Nutzen ist oder stattdessen nicht vielmehr ein Hindernis für die Beschreibung der zugrunde liegenden Psychologie darstellt. In der Regel werden Skinners Ansichten als oberflächlich und grob mechanistisch geschildert, selbst in psychologischen Lehrbüchern (Power & Dalgleish, 1997, S. 35–36; Solso, MacLin & MacLin, 2005, S. 329). Dies steht in starkem Kontrast zu meinem eigenen Eindruck beim Lesen von Skinners Arbeiten, und ich habe mich oft gefragt, ob die Autoren, die Skinners Positionen in der beschriebenen Weise umreißen, seine Werke überhaupt gelesen haben. Dessen ungeachtet sind Skinners Positionen und die Bezeichnungen, die er für ihre Beschreibung verwendet, durchaus kontrovers und die Bezeichnung „radikaler Behaviorismus“ ist ein deutliches Beispiel hierfür. Die alternative und auch modernere Bezeichnung funktionaler Kontextualismus (Gifford & Hayes, 1999) gibt vermutlich deutlich besser wieder, in welcher Beziehung diese wissenschaftliche Philosophie zu anderen modernen Ansätzen steht. Sie setzt Skinners Position in Relation zu alternativen Arten von Kontextualismus, etwa dem sozialen Konstruktivismus oder bestimmten Arten des Feminismus (Roche & Barnes-Holmes, 2003; Gifford & Hayes, 1999). Darüber hinaus betont die Bezeichnung „funktionaler Kontextualismus“ zwei essenzielle Elemente des radikalen Behaviorismus: Erstens muss Verhalten stets in Bezug zum Umfeld oder Kontext, in dem es stattfindet, betrachtet werden. Zweitens müssen wir zum Verständnis und zur Beeinflussung von Verhalten seine Funktion ergründen – also das, worauf es abzielt.
Ich werde im Folgenden trotz der oben beschriebenen Diskussion zunächst die Bezeichnung „radikaler Behaviorismus“ verwenden, da dies unter den vielen Bezeichnungen diejenige ist, die bis heute überlebt hat und unter den Wissenschaftlern, die mit ihren Forschungen in Skinners Fußstapfen getreten sind, auf breiter Basis akzeptiert wird. Die Bezeichnung ist linguistisch korrekt und hebt außerdem einige wesentliche Elemente der Sichtweise, auf der dieses Buch basiert, hervor.
1.1 Der Behaviorismus und seine Prämissen
Beginnen wir an dieser Stelle mit einer Diskussion der eher allgemeinen Bezeichnung „Behaviorismus“. Dies ist ein relativ breiter Begriff, der zahlreiche, in Teilen recht unterschiedliche Ansätze umfasst (O’Donohue & Kitchener, 1998). Allerdings haben diese Ansätze auch bestimmte Prämissen gemeinsam, weshalb es angemessen ist, sie allesamt konzeptuell dem Behaviorismus zuzurechnen. Die grundlegendste Prämisse wurde von Watson formuliert, der auch die Bezeichnung „Behaviorismus“ prägte, und betont die Fokussierung auf das Verhalten (Watson, 1929); also das, was eine Person – oder irgendein anderer Organismus – tut. Die Handlungen oder Reaktionen des gesamten Organismus sind Gegenstand des Interesses. Eine weitere, den unterschiedlichen Ansätzen gemeinsame Prämisse ist die Methode der Forschung: Die Erkenntnis wird von den Grundlagen ausgehend aufgebaut, wobei man nach fundamentalen, universell gültigen Prinzipien für das Verständnis von Verhalten sucht. Das bedeutet, dass Laborexperimente eine wichtige Rolle spielen. Bei der Durchführung von Experimenten besteht ein zentrales Konzept darin, nicht kontrollierbare Variablen so weit wie möglich zu minimieren, bevor man damit fortfährt, die essenziellen Variablen zu identifizieren und systematisch zu manipulieren. Dies ähnelt in vielerlei Hinsicht der strikten Haltung, die Psychoanalytiker in Bezug auf die Rahmenbedingungen ihrer Sitzungen einnehmen, um irrelevante störende Einflüsse zu eliminieren und relevante, leitende Phänomene in der stattfindenden Interaktion zu beobachten. Die bekanntesten und klassischen Beispiele dieser Methode im Rahmen des Behaviorismus sind wahrscheinlich Skinners Experimente mit Tauben und Ratten. Bei diesen ist die Umwelt auf ein Minimum reduziert (sie besteht nur aus einer Box) und es existieren wenige relevante Variablen (die Box enthält einen Hebel, mittels dessen das Tier agieren kann, um Futter zu erhalten, sowie eine Lichtquelle, die ein- und ausgeschaltet wird). Das Entscheidende sind hier jedoch nicht die Laborexperimente als solche und auch keineswegs die Handlungen von Tauben oder Ratten. Vielmehr besteht das Ziel bei der Verwendung dieser Methode darin, in der Lage zu sein, die dem Verhalten von Organismen zugrunde liegenden Prinzipien zu identifizieren – Prinzipien, die anschließend dazu herangezogen werden können, komplexere Prozesse zu verstehen, welche sich möglicherweise nicht in Laborsituationen untersuchen lassen.
Dies enthüllt eine weitere Prämisse des Behaviorismus: die Annahme einer Kontinuität über unterschiedliche Organismen hinweg. So wird beispielsweise die Forschung an Tauben dazu herangezogen, Rückschlüsse in Bezug auf Menschen zu ziehen, zumindest in mancherlei Hinsicht. In der Vergangenheit war dieser Punkt oft Grund für Kontroversen, insbesondere unter Psychotherapeuten. Ist es möglich, aus dem Verständnis von Tieren heraus ein Verständnis von Menschen zu entwickeln? Hierüber wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren eine hitzige Diskussion geführt. Seither ist jedoch viel Zeit ins Land gegangen und heute kann man zweifellos sagen, dass Evolutionspsychologie und Neuropsychologie ebenso wie Ethologie die Gestaltung diverser Richtungen innerhalb der Psychotherapie entscheidend prägen, ungeachtet des spezifischen Lagers. Forscher wie John Bowlby (Bindungstheorie) und Joseph LeDoux (Affekttheorie), die unterschiedliche Traditionen in der Psychotherapie stark beeinflusst haben, nehmen aufgrund ihrer evolutionären Herangehensweise dieselbe Position ein, die auch Skinner einst vertrat: dass Evolution – vereinfacht formuliert – stets auf dem aufbaut, was bereits existiert. Bewährte Funktionen werden nicht entfernt, sondern werden zu Bausteinen für künftige Weiterentwicklungen. Aus diesem Grund können wir viel über Menschen lernen, indem wir erforschen, wie Gorillas sich gegenüber ihrem Nachwuchs verhalten (Bindungstheorie), oder indem wir grundlegende Funktionen des Großhirns von Tieren untersuchen (Affekttheorie).
Wenn also Verhalten untersucht werden soll, so lautet die Frage zunächst, wie man diesen Begriff definiert. Was zählt als Verhalten und was nicht? Die Antwort auf diese Frage kann innerhalb des Behaviorismus auf diverse unterschiedliche Weisen gegeben werden. Um festzulegen, was in diesem Buch mit Verhalten gemeint ist, werde ich nun Skinners Sichtweise erörtern, wie sie im Begriff „radikaler Behaviorismus“ zum Ausdruck kommt.
1.2 Was ist radikal am radikalen Behaviorismus?
Radikal zu sein kann so verstanden werden, dass man extrem ist. Dies ist jedoch nicht das, was Skinner vorschwebte, als er den Begriff „radikal“ wählte. In diesem Kontext bedeutet „radikal“ nicht „extrem“, sondern „konsistent“. Radikaler Behaviorismus ist keine Abkehr von fundamentalen behavioristischen Prinzipien, sondern ihre Anwendung in einer allumfassenden Art und Weise. Hieraus ergeben sich einige Konsequenzen. Betrachten Sie beispielsweise das Prinzip, das Skinner für die Beschreibung operanter Konditionierung heranzog (mehr hierzu weiter unten im Text). Dieses Prinzip impliziert, dass unsere Handlungen durch die Konsequenzen, die wir zuvor im Anschluss an eine bestimmte Handlung erlebt haben, beeinflusst werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Taube an einem bestimmten Ort pickt, nimmt zu, wenn sie zuvor im Anschluss an das Picken an eben diesem Ort Futter erhalten hat. Aber sofern man dieses Prinzip entsprechend Skinners Position in konsistenter Weise anwenden will, gilt es auch für mich als Wissenschaftler. Ich tue das, was ich tue (in meinem Experiment mit der Taube), stets in der Konsequenz der Ausgänge früherer ähnlicher Experimente. Als Wissenschaftler habe ich keine objektive oder exklusive Position; ich stehe nicht außerhalb oder über den Prinzipien, die ich erforsche. Wenn man diese Sichtweise konsistent anwendet, müssen wir alle Behauptungen, eine ontologische Wahrheit zu repräsentieren, fallen lassen. Wir können zu keiner Zeit sagen, dass „dies die Art ist, wie die Dinge wirklich liegen“. Radikale Behavioristen lehnen die Auffassung ab, der zufolge Wissenschaftler aus einer objektiven und neutralen Position heraus agieren würden. Wie zuvor ausgeführt, ist es aus der Sicht des radikalen Behaviorismus nicht möglich, Verhalten zu verstehen, ohne seinen Kontext zu untersuchen. Alles Verhalten findet in einem Kontext statt, jedoch kann gleichzeitig der Kontext nicht unabhängig vom Verhalten untersucht werden. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass auch die Bemühungen des Wissenschaftlers bei der Untersuchung einer Sache wiederum Verhalten darstellen. Letztlich ist der Gegenstand unserer Forschung etwas, auf das wir bereits einwirken, indem wir es untersuchen. Genauso wie wir Verhalten nicht ohne Kontext verstehen können, steht dem Organismus ohne Verhalten auch kein Kontext zur Verfügung.
Dieser Punkt in Bezug auf das Verhalten eines Wissenschaftlers ist auch in generellerer Art und Weise zutreffend. Reiz und Reaktion (Verhalten) sind kodependent und sollten zusammen betrachtet werden. Sie bilden eine einzige Einheit (Kantor, 1970). Zwar können wir sie aus praktischen...