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E-Book

Dachschaden kann man nicht versichern

Die wunderbare Welt unserer Psyche

AutorCarina Heer, Kristina Fisser
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641210496
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jeden Abend ein Gläschen Wein? Schon wieder prokrastiniert und eine wichtige Aufgabe vor sich hergeschoben? Oder beim Streit mit dem Nachbarn zu einem kleinen Tobsuchtsanfall hinreißen lassen? Wir alle fragen uns manchmal: Ist das noch normal oder bin in ich nicht ganz richtig im Kopf? Kristina Fisser erklärt auf humorvolle Weise, warum es nichts Ungewöhnliches ist, ein bisschen 'verrückt' zu sein, wie wir unsere kleinen Dachschäden in den Griff kriegen und ab wann wir uns wirklich Gedanken über unsere geistige Gesundheit machen sollten.

Kristina Fisser, geboren 1987, hat Psychologie studiert und arbeitet seit mehreren Jahren unter anderem mit Borderline-Patienten, Depressiven, Angsterkrankten und auch frischgebackenen Mamas mit psychischen Problemen, seit 2018 in eigener Praxis.

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Leseprobe

Vorweg: Es ist normal, nicht normal zu sein

2002, ein Schulhof in der Oberpfalz. Ich sitze mit einer Freundin in der Sonne, und sie macht Witze über unsere Schulkameraden. Dann schaut sie mich an. »Weißt du, Kristina, manchmal denke ich, wir sind die zwei einzigen Normalen hier.«

Seit dieser Szene sind über 15 Jahre vergangen, doch ein Gedanke, der mir damals bei den Worten meiner Freundin durch den Kopf ging, ist bei mir hängen geblieben: Sind wir wirklich normal? Vielleicht sind ja nicht die anderen die Durchgeknallten, sondern wir? Gedanken einer 15-Jährigen, wie sie typisch sind für die pubertäre Suche nach der eigenen Identität – und doch ist an dieser Frage etwas dran:

Was ist eigentlich normal?

Inzwischen konnte ich einiges an Lebenserfahrung sammeln. Ich habe Psychologie studiert und eine fünfjährige Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin erfolgreich mit der Approbation zu Ende gebracht. In verschiedenen Kliniken habe ich so einige psychisch Kranke in Gruppen- und Einzeltherapie betreut und tue das nun auch in meiner eigenen Praxis. Der Antwort auf die Frage »Was ist eigentlich normal?« bin ich dabei jedoch nicht wirklich näher gekommen.

Vielleicht können wir es ja gemeinsam herausfinden. Machen wir doch die Probe aufs Exempel:

Sabrina ist chipssüchtig. Sie liebt das Rascheln einer prall gefüllten Tüte. Das salzige Knuspern der Chips. Das Gefühl auf der Zunge, wenn sie über die geriffelte Oberfläche fährt. Weil sie weiß, dass man nicht jeden Tag Chips essen sollte, erlaubt sie sich jeden Donnerstagabend eine Tüte, während sie Germany’s Next Topmodel anschaut. Die kauft sie – Vorfreude ist schließlich die schönste Freude – bereits am Dienstag. Und manchmal isst sie sie dann schon am Mittwoch auf. Dann kauft Sabrina eben noch eine Tüte.

Peter ist langweilig. Nicht am Sonntag. Nicht am Feierabend. Nein, im Büro. Er hat einfach nicht genug zu tun. Und das schon seit einiger Zeit. Genauer gesagt seit drei Jahren. Am Anfang hat er sich nicht getraut, das anzusprechen. Und jetzt ist es irgendwie auch zu spät. Wenn er an seinem Schreibtisch sitzt und vor sich hin starrt, stellt er sich vor, wie er aus dem Fenster springt und sich sein Blut unten auf dem Gehweg in tausend kleinen Rinnsalen verzweigt. Er hat mit seinen Kumpels über die Langeweile gesprochen, die ihn so quält. Sie sagen, er soll sich nicht so anstellen und lieber froh sein, dass er ein bisschen chillen kann.

Anna wird bald heiraten. Es soll der schönste Tag ihres Lebens werden. Deshalb will sie auch so schön sein wie nie zuvor – das heißt, so schlank wie nie zuvor. Weil die Crashdiät nicht wirklich gefruchtet hat, nimmt Anna nun seit vier Wochen Abführmittel. Und es funktioniert. Am Tag ihrer Hochzeit passt sie tatsächlich in das Kleid, das sie extra eine Nummer kleiner gekauft hat. Alle sagen, wie wunderschön sie ist. Es ist wirklich der schönste Tag in ihrem Leben.

Julian kann mit seiner Frau nicht in einem Bett schlafen. Nein, nicht weil sie sich zu viel herumwälzt. Oder schnarcht. Oder weil er sich innerlich längst von ihr getrennt hat. Nein, Julian schläft einfach gern allein. Aber seine Frau versteht das nicht. »Wenn man jemanden wirklich liebt, dann möchte man auch mit ihm in einem Bett schlafen«, sagt sie. »Geh doch endlich mal zum Psychologen und lass dir helfen.«

Claudias Mann Thomas ist vor fünf Jahren bei einem Unfall gestorben. Claudia war dabei und konnte ihm nicht helfen. Die beiden gemeinsamen Kinder hat Claudia seitdem allein aufgezogen. Die Steuererklärung macht sie jetzt auch selbst. Manchmal geht Claudia in den Wald und schreit die Bäume an, weil Thomas ihr so schrecklich fehlt. Und die Sonntage verbringt sie am liebsten im Bett und weint.

Und nun die Preisfrage: Sind Sabrina, Peter, Anna, Julian und Claudia noch normal oder doch schon irgendwie krank? Ganz schön schwierig, oder?

Schauen wir doch mal, was die Psychologie zum Thema »Normalität« sagt. Die ist überraschenderweise auch zwiegespalten. Einerseits sind wir Psychologen beim Thema Normalität sehr genau. In Katalogen wie dem ICD, der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), listen wir ganz genau auf, welche Kriterien ausschlaggebend dafür sind, dass jemand nicht mehr als »normal«, sondern als psychisch krank gilt. Das kann man sich durchaus vorstellen wie das Abhaken von Checklisten. Darüber hinaus arbeiten wir gerade in Studium und Forschung sehr viel mit der Normalverteilung, auch bekannt als Gauß’sche Glockenkurve, bei der wir das »Normale« häufig als maximal eine Standardabweichung vom Durchschnitt entfernt betrachten. Hört sich kompliziert an, meint aber: 68 Prozent aller Menschen gelten demnach als »normal« – der Rest nicht. Sind die dann wirklich alle durchgeknallt? So richtig? Und wie sind überhaupt die sogenannten Normalen? Sind die wirklich alle »normal«? Und bricht das ganze System zusammen, wenn ein einziger Normaler nicht normal ist?

In der Therapie wiederum hüten wir Psychologen uns vor Begriffen wie »normal«. Nie würde ich einen meiner Patienten fragen: »Ist das denn normal, wie Sie da denken?«, sondern ihn vielmehr dazu auffordern, sich selbst die Fragen zu stellen: »Ist dieser Gedanke hilfreich?«; »Ist das sinnvoll?«; »Will ich so sein?«

Obwohl der Begriff der »Normalität« also durchaus seine Tücken hat, teilen wir Menschen – gerade im Hinblick auf die psychische Gesundheit – die Welt und ihre Bewohner gerne in »normal« und »nicht normal« ein. Was in die Gesellschaft passt, was nicht stört, was keinen Stress bereitet, das ist für uns normal. Was nicht den üblichen Gebräuchen entspricht, ist »nicht mehr normal« – ja psychisch krank.

Mit 20 noch keine Freundin? Verklemmt? Mutterkomplex? Eine tickende Amokläufer-Zeitbombe?

Der Mann, der nicht über seine Gefühle sprechen kann, sondern alles mit sich selbst ausmacht? Der braucht wohl Therapie. »Lass doch endlich mal jemanden an dich ran!«

Ein Kind, das mit fünf Jahren noch in die Hose macht? Traumatisiert, auf jeden Fall. Sexueller Missbrauch? Oder vielleicht einfach nur geistig ein bisschen, nun ja, zurückgeblieben?

Bei all diesen Klagen und Unterstellungen klingt im Hintergrund leise die Aufforderung mit: Mein Kind, mein Freund, mein Verwandter funktioniert nicht – bitte reparieren!

Tatsächlich ist es jedoch so, dass unglaublich viele Menschen, mit denen ich zu tun habe, selbst Angst davor haben, möglicherweise nicht ganz normal zu sein. »Was sagst du als Psychologin dazu?« »Analysierst du mich jetzt gleich?« »Sag mal, ist es eigentlich normal, dass …?« »Ich habe da so ein Problem …« »Du wirst lachen, aber manchmal …« In so vielen von uns – ich würde beinahe behaupten: in fast jedem von uns – schlummert die Angst, nicht normal zu sein, anders zu sein als die anderen.

Und tatsächlich begegne ich in meinem Alltag – und ich meine damit nicht meinen beruflichen Alltag – ziemlich vielen Menschen, die nicht so wirklich alle Tassen im Schrank zu haben scheinen.

Notorische Lügner, die, ohne rot zu werden, hanebüchene Geschichten aus dem Hut zaubern – und das ganz ohne Not.

Mein Kumpel, der ständig über Geldknappheit klagt und trotzdem nur Markenklamotten trägt. »Man gönnt sich ja sonst nichts.«

Eine Freundin, die sich nicht traut, an der Ampel die Musik im Auto laut aufzudrehen, wenn dort eine Oma wartet, gleichzeitig aber gern mal »ein paar Drogen ausprobieren« würde. »Stelle ich mir irgendwie aufregend vor.«

Und ich selbst bin auch nicht besser. In Kapitel 3 beschreibe ich das kleine HB-Männchen, das früher in der Zigarettenwerbung bei jeder Kleinigkeit in die Luft ging; im Grunde hätte ich auch mich an den Anfang des Kapitels stellen können – zumindest wenn es ums Tennisspielen geht. Da bin ich nämlich unglaublich ehrgeizig und gerne auch mal jähzornig. Wenn ein Schlag häufiger nicht klappt, ärgere ich mich so sehr über mich selbst, dass schon ab und zu mal der Schläger fliegt oder ich das Spiel unterbrechen muss – ein Grund, weshalb ich keine Turniere spiele. Übrigens ein Beispiel dafür, dass wir Psychologen uns auch nicht unbedingt besser im Griff haben als andere Menschen.

Einen kleinen Dachschaden hat also anscheinend so ziemlich jeder von uns. Und über die Grenze zum Krankhaften hin ist es häufig nur ein kleiner Schritt. Manchmal bin ich kurz davor, jemandem professionelle Hilfe ans Herz zu legen:

Der Freundin beispielsweise, die nach einer Fehlgeburt nicht mehr wirklich auf die Beine kommt. Dem Verwandten, der mit einer stressbedingten Darmerkrankung immer wieder in Behandlung muss. Dem Kumpel, der durch seine ausufernde Eifersucht wieder und wieder seine eigentlich glückliche Beziehung aufs Spiel setzt.

Was ist nun normal? Was schon krank? All diese Beispiele zeigen: Es ist normal, nicht normal zu sein. Der Übergang ist fließend. Wie viele von uns sind erfüllt von Neid, manchmal sogar von Hass, erschöpft, unfähig, aus ihrer Einsamkeit auszubrechen, süchtig nach Perfektion, süchtig nach anderen Dingen. Wir schieben zu erledigende Dinge ewig vor uns her, wir sind wütend, wir leiden. Und über diese Dachschäden – und auch über das, was darüber hinausgeht – möchte ich mit Ihnen in diesem Buch sprechen. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen,...

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