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Das Menschenbild als fundamentaler Baustein sonderpädagogischer Theorie und Praxis im historisch-gesellschaftlichen Wandlungsprozess

AutorPia Weidenbach
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl155 Seiten
ISBN9783638560528
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,0, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 100 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Werde ich nach meinem Studiengang gefragt und gebe zur Antwort, dass ich Lehramt an Sonderschulen studiere und später am liebsten mit Kindern mit geistiger Behinderung arbeiten würde, reagieren die Menschen sehr stark darauf. In den meisten Fällen sind sie erst einmal völlig überrascht und sagen mir, wie gut sie es finden, dass ich 'so etwas' mache. Danach bekomme ich meist die Sätze zu hören: 'Da hast du dir aber ganz schön was vorgenommen'; 'Hast du dir das gut überlegt?' oder 'Das könnte ich nicht'. Manchmal wird mir die Frage gestellt, ob es überhaupt Sinn mache Kindern mit geistiger Behinderung in Mathe oder Deutsch zu unterrichten. Die extremste Reaktion war die von einem mir fremden Mann, der mich im Zug nach meinem zukünftigen Beruf fragte. Auf meine Antwort reagierte er, indem er mir mehr als zwei Mal hintereinander sagte, dass ihn dies schockiere. Selbst beim Verlassen des Zuges, als das Thema gar nicht mehr im Raum stand, sagte er mir noch ein erneutes Mal, dass er geschockt sei. Zum einen verunsicherte es mich, weil ich diese Reaktion nicht verstehen konnte und versuchte mich auf einmal zu rechtfertigen, zum anderen wurde ich verärgert und auf eine gewisse Weise auch traurig, denn welche Sichtweise musste dieser Mann von Menschen mit geistiger Behinderung haben, dass er auf eine mir so unverständliche Weise reagierte? Ich fragte mich daraufhin aber auch selbst, welche menschenbildbezogene Sichtweise von Menschen mit Behinderung ich habe und welchen Einfluss diese auf mein Tun hat. Genau hier liegt der Ursprung zur Idee des Themas dieser Arbeit. Im ersten Teil meiner Arbeit möchte ich versuchen zu klären, was man unter einem Menschenbild versteht und verschiedene Menschenbilder im historischen Rückblick vorstellen. Hieran soll deutlich gemacht werden, welche fatalen Auswirkungen das Menschenbild auf die Behandlung von, in diesem Fall, Menschen mit geistiger Behinderung, haben kann. Die Geschichte der Erziehung und Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung war nämlich von Anfang an von einem Menschenbild geprägt, welches die so genannte geistige Behinderung gleichsetzte mit einer, alle Lebensbereiche betreffenden durchdringenden Abhängigkeit von Hilfe, einer völligen Überwachungs-, Kontroll- und Anleitungsbedürftigkeit. Den Menschen wurde damit Personalität, Persönlichkeit bzw. ein 'Selbstsein-dürfen' (Theunissen 2002, 48) in weitem Maße abgesprochen. Menschen mit geistiger Behinderung wurden als Mängel- oder Defizitwesen angesehen.

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Leseprobe

3.4.1 Aus „Aktion Sorgenkind“ wird „Aktion Mensch“


Die „Aktion Sorgenkind“ entstand 1964. Auslöser war der Schock über die Contergan-Katastrophe. Das Fernsehen wagte einen neuen Schritt und verband Unterhaltung mit sozialem Engagement. Kinder mit Behinderung wurden zum ersten Mal in den Blickpunkt der Gesellschaft gerückt. Es kam zu einem, bis zu dieser Zeit einmaligen, Spendenaufruf und schließlich zur Soziallotterie. Mit diesen finanziellen Mitteln wurde die Behindertenhilfe und Behindertenselbsthilfe im heutigen Sinne erst ermöglicht. 1985 wurde der Name erweitert in „Deutsche Behindertenhilfe Aktion Sorgenkind e. v.“. Es wurden und werden auch heute noch zahlreiche Projekte unterstützt.

1995 gab es durch ein verändertes Logo, welches ‚Aktion’ in den Vordergrund stellte, ein Zeichen der inneren Neuorientierung. Durch die Pro-Respekt-Kampagne wurde die Wahrnehmung von Behinderung in Deutschland verändert. Seitdem werden zunehmend Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt der Berichterstattungen gerückt.

1999 beschließt die Mitgliederversammlung die Namensänderung von „Aktion Sorgenkind“ in „Aktion Mensch“ (vgl. Aktion- Mensch, Online im Internet).

Mit dem neuen Namen will die Aktion Mensch gleichfalls ihr verändertes Selbstverständnis zeigen. Der Begriff „Sorgenkind“ gilt als nicht mehr zeitgemäß. Es hat ein Umdenken stattgefunden. Das Fürsorge- und Abhängigkeitsdenken hat sich gewandelt zu einem Bild vom Menschen mit Behinderung als selbstbestimmt lebender Mensch, welcher nicht länger bemitleidet werden, sondern mit Respekt behandelt werden möchte.

Der neue Name „Aktion Mensch“ soll ausdrücken, dass es um die Gleichberechtigung aller Menschen geht. Es soll kein bestimmtes Bild vom Menschen vorgegeben werden, sondern es soll mit dem Begriff „Menschsein“ offen umgegangen werden, es soll die Möglichkeit bestehen, ihn immer wieder neu zu interpretieren (vgl. Respect, Online im Internet).

3.4.1 Vom Betreuer zum Begleiter

Die Berufsrolle des Betreuers ist geprägt durch ein defizitäres Menschenbild. Pflegen, Schützen und Bewahren gelten als Handlungsorientierung, wobei die Bewältigung des Alltags im Vordergrund steht. Der Betreuer übernimmt die Verantwortung und bestimmt somit über den Ablauf, welcher möglichst nicht gestört werden soll (vgl. Hähner 1997, 121). Das Eingehen auf individuelle Wünsche des Menschen mit Behinderung steht hinter der Aufrechterhaltung des Systems. Es gilt Faktoren, welche das System stören zu beseitigen und das System zu erhalten (vgl. Hähner 1997, 145). Häufig werden Menschen mit Behinderung zu „Opfern professioneller Betreuungsroutine“ (Hähner 1997, 145), da die Betreuer einerseits diesen institutionellen Auftrag, andererseits aber auch den gesellschaftlichen Auftrag des selbstlosen Handelns und der Fürsorge erfüllen müssen (vgl. Hähner 1997, 145). Es ist eine deutliche Hierarchie erkennbar. Macht, Einfluss und Dominanz sind prägende Merkmale der professionellen Helferrolle. Die Lebensqualität der Menschen mit Behinderung ist abhängig von

der persönlichen Einstellung des Betreuers. Somit bestimmen seine Werte, Vorlieben, sein ästhetisches Empfinden auch das Umfeld der Gruppe, die Aktivitäten innerhalb der Gruppe und vieles mehr (vgl. Hähner 1997, 144).

Diese traditionelle Hierarchie wird durch das Paradigma der Selbstbestimmung verkehrt. Das Berufsbild und das professionelle Selbstverständnis des Betreuers werden verändert zum Berufsbild des Begleiters. Dieser handelt im Auftrag des Menschen mit Behinderung, welcher nun als Kunde einer Leistung angesehen wird, die der professionelle Helfer erfüllt. Somit bestimmt der Mensch mit Behinderung selbst und befriedigt seine Wünsche und Bedürfnisse mit Hilfe des Begleiters (vgl. Hähner 1997, 145). Der Begleiter übernimmt nun nicht mehr die dominante Rolle, sondern hilft unterstützend und berät wenn er um Rat gebeten wird. Das Menschenbild des Begleiters ist geprägt durch die Vorstellung daran, dass auch der Mensch mit geistiger Behinderung fähig ist, aus sich selbst heraus zu wachsen und dass der Organismus, entgegen aller bestimmender äußerer Einflüsse, nach Unabhängigkeit von der Kontrolle dieser strebt und er in immer größerem Maße steuernd in die Entwicklung eingreifen kann (vgl. Stahl 1994, 66).

Begleitung bedeutet demnach „in der Begegnung mit Menschen mit Behinderung, in der Wahrnehmung ihrer wichtigen Probleme und Fragestellungen sowie in der Auseinandersetzung darüber, ihr Leben als Person zu sichern, Angebote zum kognitiven, kreativen und emotionalen Wachstum zu machen und ‚verletzte’ Persönlichkeiten wieder aufzubauen“ (Hähner 1997, 132).

Begleitung sollte aber immer dialogisch sein. Das bedeutet, dass Machtstrukturen nicht umgekehrt werden sollten, sich der Begleiter folglich nicht unreflektiert unterordnen sollte, sondern es bedeutet für das Handeln des Begleiters „aufmerksam zu sein und erfahren zu wollen, was der Mensch mit Behinderung will, was er fühlt, denkt, wie er die Welt sieht“ (Hähner 1997, 133).

Begleiten bedeutet dem Menschen mit Behinderung Wahlmöglichkeiten zu schaffen, ihn bekannt zu machen mit unterschiedlichen Eindrücken, durch gemeinsames Tun Optionen für Verhalten zu erweitern, Angebote zu machen, Neugier zu wecken, zu animieren, gemeinsam die Welt entdecken etc.. Aus all diesen Faktoren entstehen die Vorlieben, welche der Mensch mit Behinderung selbst einfordern kann (vgl. Hähner 1997, 133f.). Diese vorgestellte Paradigmen bezogene Änderung kann nicht von einzelnen professionellen Helfern oder einem Team beschlossen werden und so zur einfachen Umsetzung finden. Sie muss sich durch eine gesamte Einrichtung ziehen und in ihren Konsequenzen für alle diskutiert und getragen werden (vgl. Hähner 1997, 147).

3.4.4 Die Persönliche Assistenz

Mit dem Begriff „Assistenz“ wird die Rolle und Aufgabe von bezahlten und nicht bezahlten Helfern in der Behindertenhilfe umschrieben. Dies beinhaltet die professionelle Umorientierung weg von einem therapie- und förderzentrierten Modell in der Betreuung von Menschen mit Behinderung (vgl. Niehoff 1997, 53). Im Unterschied zum alten Pflegebegriff ist beim persönlichen Assistenzkonzept der Assistenznehmer nicht länger Objekt, sondern handelndes Subjekt. Unter persönlicher Assistenz versteht man „jede Form von Unterstützung, die AssistenznehmerInnen befähigt selbstbestimmt leben zu können“ (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. v.- isl., Online im Internet) und die Delegierung von Aufgaben, welche Menschen mit Behinderung nicht oder nur unzureichend ausführen können. Sie entscheiden selber, welche Aufgaben delegiert werden, wer sie zu erledigen hat und wann und wie sie zu erfüllen sind. Die Unterstützung muss somit auf die persönlichen Bedürfnisse der AssistenznehmerInnen zugeschnitten sein, d. h. dass die Unterstützung alle Bereiche des Lebens, Arbeit, Freizeit, Wohnen,

Bildung, Pflege Mobilitäts- und Kommunikationshilfen, umfassen muss (vgl. Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. v.- isl., Online im Internet).

Für die helfende Beziehung bedeutet dies, dass der Helfer den Menschen mit Behinderung bei der Verwirklichung seiner selbst gewählten Ziele unterstützt.

Die „Assistenzleistung setzt auf Seiten des Assistenten ‚Dolmetscher-Kompetenzen’ voraus: Zuhören, Interpretieren, Entschlüsseln nonverbaler Willensäußerungen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zur Förderung eines individuellen Lebensstils des Menschen mit Behinderung. Damit beinhaltet das Assistenzkonzept eine eindeutige individuelle Ausrichtung der Arbeit auf einen behinderten Menschen“ (Niehoff 1997, 53). Kritik am Assistenzkonzept äußert sich insofern, dass die Bemühung um die größtmögliche Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung zur Überforderung führen kann, da diese teilweise nicht einschätzen können, wie viel und welche Form von Hilfe benötigt wird und Schwierigkeiten haben Anleitungsfunktionen auszuüben (vgl. Niehoff 1997, 54). Heute ist das Assistenzkonzept insofern erweitert worden, dass es Assistenzgenossenschaften gibt, die den Menschen mit Behinderung bei den verschiedensten Entscheidungen unterstützen bzw. vertreten.

3.4.5 Das persönliche Budget: Der Mensch mit Behinderung als Arbeitgeber Menschen mit Behinderung und pflegebedürftige Menschen sollen heute stärker als bisher ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können. Durch eine weitere Ausgestaltung des persönlichen Budgets wird diese Forderung unterstützt. Man versteht darunter regelmäßige Geldleistungen, die es Menschen mit Behinderung möglich machen, bestimmte Betreuungsleistungen in Eigenregie zu organisieren und zu

bezahlen. Die gesetzliche Grundlage ist § 57 SGB XII und § 17 Absatz 2 bis 4 SGB IX. Vom 1. Juli 2004 bis zum 31. Dezember 2007 werden persönliche Budgets erprobt. Dabei sollen durch Modellversuche Bemessungsverfahren von budgetfähigen Leistungen in Geld und die Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen unter wissenschaftlicher Begleitung und Auswertung erprobt werden (vgl. BMGS - SGB IX, Online im Internet).

Die Forderung seitens der Behindertenbewegung gibt es schon sehr lange. Jedoch herrscht auch eine allgemeine Verunsicherung...

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