Das Tier ist in der Lebenswelt des Kindes omnipräsent. In nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens treffen wir Tiere an. Auf der einen Seite ist die unmittelbare Begegnung mit Tieren zu nennen, wobei die „echten“ Tiere immer mehr aus dem Begegnungsfeld des Kindes verschwinden. Ausgenommen von diesem Trend sind lediglich Haustiere. Laut einer statistischen Umfrage des Industrieverbandes Heimtiere aus dem Jahre 2009 leben in 12 Millionen deutschen Haushalten 23,2 Millionen Tiere.[64] Diese Zahlen sind seit einigen Jahren relativ stabil.[65] Die Mehrheit der Kinder wächst heute in urbanisierten Lebensräumen auf und kann deshalb, abgesehen von Haustieren, wenig direkte Erfahrungen mit Tieren sammeln. Kinderdie aufdem Land aufwachsen haben grundsätzlich mehr Kontaktmöglichkeiten, da sie zusätzlich sowohl mit Nutztieren als auch mit Waldtieren in Berührung kommen können. Interessanterweise ist der Besuch eines zoologischen Gartens für Kinder weniger einer echten Begegnung, als vielmehr einer „tierischen Bild - schau“[66] gleichzusetzen: Das ausgestellte Tier hinter Gittern in einer unnatürlichen Umgebung hat zur Folge, dass der Blick des Tieres oftmals eine resignierte „Leere“ ausstrahlt, die aufgrund der Leblosigkeit mehr Ähnlichkeit mit einem Bild, als mit dem realen Tier aufweist. Eine Ausnahme bildet hier der Streichelzoo, welcher einen echten Kontakt zwischen Tier und Kind erlaubt.
Auf der anderen Seite nimmt die Präsenz des „künstlichen“ Tieres stetig zu. Der Einzug des Teddybären in die Kinderzimmer vor über einhundert Jahren markiert den Beginn einer erstaunlichen Entwicklung: Seitdem ist das Tier aus den Kinderzimmern nicht mehr wegzudenken und jedes Jahr kommen neue Tiere aus den Bereichen der Spielzeug-, Medien- und Textilindustrie und dem Kinderbuchmarkt hinzu. Derweltweite Erfolg japanischer Elektronikspielzeuge in den 90er Jahren, welcher durch das „Tamagotchi“[67] ausgelöst wurde, ist ein weiterer Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte des künstlichen Tieres. Als aktuelles Pendant sei hier der Roboter Hund „Mio Pup“[68]genannt, der in Japan aufgrund der Wohnraumknappheit als willkommener Ersatz zum echten Haustier gehalten wird.
Seit jeher spielt das Tier in Erzählungen, Märchen und Fabeln eine zentrale Rolle: In Klassikern der Kinderliteratur, wie beispielsweise „Das Dschungelbuch“ (1884), „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ (1912) oder „Pu der Bär“ (1926), ist es ebenso vertreten, wie in der Filmwelt Walt Disneys. Tiere in Kinderbüchern und -filmen haben in der Regel vermenschlichte Charaktere. Als Beispiel sei hier der Kater „Findus“ von Sven Nordquist (2002) genannt, eine literarische Figur, welche gleich mehrere menschliche Attribute besitzt. Findus kann sprechen, trägt Kleidung und durchlebt in seinen abenteuerlichen Geschichten Gefühle wie Trauer, Wut, Aufregung und freundschaftliche Liebe. Die „Pettersson und Findus“ Bücher erfreuen sich seit über einem Jahrzehnt anhaltender Beliebtheit. Es stellt sich die Frage nach dem "Warum?". Der Kater Findus ermöglicht eine geschlechtsneutrale Identifikation der Kinder. Mädchen und Jungen finden sich gleichermaßen in den Eigenschaften des Katers widergespiegelt. Diese Möglichkeit der „geschlechtsneutralen“ Identifikation ist übertragbar auf das Tier im Allgemeinen und ist insofern für das Tierbild in der Kunst ebenfalls von Bedeutung.
Ferner ist das Tierbild als Applikation auf Kleidungsstücken oder anderen Kinderprodukten sehr beliebt. Eine herausragende Rolle nimmt das stilisierte Kätzchen „Hello Kitty“ ein, welches als eines der weltweit erfolgreichsten Merchandising-Produkte angesehen werden kann: etwa 60.000 Hello-Kitty-Produkte befinden sich derzeit auf dem Markt.[69] Der prägende Einfluss, insbesondere auf Mädchen, welcher sich aus dieser enormen Präsenz ergibt, darf nicht unterschätzt werden.
Die hier aufgezeigten Beispiele sollen einen aktuellen Einblick vermitteln, um das Tier in der Lebenswelt des Kindes zeitgemäß verorten zu können. Weshalb diese tierischen Produkte für Kinder sich einer so großen Popularität erfreuen, soll im nachfolgenden Kapitel geklärt werden. Nur so viel vorab: Es gibt bestimmte Schlüsselreize, auf die alle Kinder weltweit in gleicher Weise reagieren. Dadurch erklärt sich beispielsweise auch der Erfolg von „Hello Kitty“.
Für das kommende Kapitel habe ich mich, neben der Evolutionstheorie, im Wesentlichen mit der Dissertation „Das Tier im Leben des Kindes“ von Dietrich Rüdiger (1956) und Ulrich Gebhards „Kind und Natur“ (2001) auseinandergesetzt. Der Autor Gebhard stützt seine entwicklungspsychologische Argumentation unter anderem auf Rüdigers empirische Befunde. Neuere empirische Untersuchungen zeigen, dass sich die grundlegenden Einstellungen von Grundschulkindern gegenüber Tieren in den letzten fünfzig Jahren nicht nennenswert verändert haben. Die Begegnung und Einstellung von Kindern gegenüber Tieren basiert auf bestimmten biologischen und entwicklungspsychologischen Gegebenheiten, welche ich im Folgenden darlegen werde. Daraus ergeben sich am Ende Schlussfolgerungen für die Auswahlkriterien der Tierbilder im Kunstunterricht.
Dass uns der Anblick der Tiere so ergötzt, beruht hauptsächlich darauf, dass es uns freut, unser eigenes Wesen so vereinfacht vor uns zu sehen.[70]
Das Zitat von Arthur Schopenhauer legt eine fundamentale Begründung offen, weshalb wir Tiere gerne ansehen: Der Mensch sieht sein eigenes Wesen im Tier vereinfacht widergespiegelt. Damit vertritt Schopenhauer die Ansicht der Evolutionsbiologen, die den Homo sapiens zu den höheren Säugetieren aus der Ordnung der Primaten zählt, genauer zu den sogenannten Trockennasenaffen aus der Familie der Menschenaffen. Die Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier ist demnach eine biologische Tatsache, auch wenn die Evolutionstheorie im Widerstreit zu religiösen Weltbildern steht. Kinder kann man als Grenzgänger zwischen den Arten bezeichnen. „Sie besitzen ein intuitives Verständnis dafür, dass wir als Lebewesen auch Tiere sind, und die Tiere Lebewesen wie wir“, so beschreibt es die Pädagogin Donata Elschenbroich.[71] Grundsätzlich sind wir Menschen mit dem Lebendigen an sich verwandt. Die wissenschaftliche Erkenntnis einer bestehenden Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier geht auf Darwin zurück. Das Kind erlebt diese Verwandtschaft noch nicht als „darwinistische Kränkung“[72], im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen, die im Verlauf ihrer Enkultivierung einen falschen Stolz diesbezüglich entwickeln. Genau genommen gibt es die Differenzierung zwischen Mensch und Tier nur auf abstrakter sprachlicher Ebene. Die Begriffe Mensch und Tier sind bereits Abstraktionen: Den Menschen gibt es ebenso wenig wie das Tier. Es gibt lediglich verschiedene Spezies, die sich aufgrund ihrer artspezifischen „Kultur“ unterscheiden. Reduziert man den Kulturbegriff auf seine biologische Essenz, sind darunter Innovationen zu verstehen, die in einer Gruppe weitergegeben werden. Und das findet man nicht nur bei Menschen, sondern auch bei anderen Primaten, beispielsweise dem Orang Utan.[73] Mit dieser Feststellung des Anthropologen Peter Schmid wird ein Tabubruch begangen, denn das würde bedeuten, Kultur wäre „keine ausschließlich menschliche Angelegenheit“ mehr, „sondern auch eine tierische“.[74] Wir Menschen verfügen zweifelsohne über vielfältigere und ausgereiftere Kulturtechniken als unsere Mitgeschöpfe; und damit kann man den Bogen zurück zu Schopenhauer spannen, der von dem Tier als unser „vereinfachtes“ Wesen spricht. Bei dieser Kulturfrage geht es mir in erster Linie um die Bewusstwerdung des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen Mensch und Tier. Dieses Verhältnis ist im Rahmen meiner Arbeit von Bedeutung, denn es bildet die Ausgangslage für die Begegnung und Einstellung des Kindes gegenüber dem Tier.
Ein wesentliches Merkmal der Begegnung zwischen Kindern und Tieren ist, dass Kinder Tiere spontan und wertfrei als ihre Mitgeschöpfe erkennen können. Gebhard vertritt die These, dass Kinder die Natur zwingend brauchen, um sich psychisch und physisch gesund entwickeln zu können. Dabei unterscheidet er zwischen belebter- und unbelebter Natur[75].
In dem Kapitel „Kinder und Tiere“ beschäftigt sich Gebhard mit der emotionalen Bedeutung von Tieren. Dem Tier wird die Funktion des sozialen Bezugspartners zugeschrieben und kann deshalb das Gefühlsleben des Kindes im positiven, als auch im negativen Sinne beeinflussen. Dem Tier wird in erster Linie eine heilende und erziehende Wirkung auf den Menschen zugesprochen. Die therapeutische Anwendung findet im Rahmen sogenannter „tiergestützter Therapien“ statt. Der Mensch entfernt sich im Laufe seiner Enkulturation immer mehr von der Natur. Das junge Kind differenziert noch nicht zwischen belebter- und unbelebter Natur: Es betrachtet sich selbst als Naturwesen inmitten der Natur. An dieser Stelle kommt der Animismus und in diesem Kontext die kindliche Tendenz des Anthropomorphisierens zum Vorschein. Animismus ist die Lehre von der Beseeltheit der Dinge und...