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E-Book

Depression

Psychodynamik und Therapie

AutorGudrun Banck, Günter Völkl, Herbert Will, Yvonne Grabenstedt
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl261 Seiten
ISBN9783170329805
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Depressive Störungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen unseres Kulturkreises. Die Autoren stellen die Phänomenologie, Psychogenese und -dynamik des Krankheitsgeschehens dar, diskutieren Indikation und Settingfragen und erläutern Möglichkeiten der Behandlung. Sie gehen auf das Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung ein und berichten vom Umgang mit Aggression, Negativität und Suizidalität. Fallbeispiele bereichern die Darstellung. Die aktuelle Auflage enthält ein neues Kapitel von G. Klug und D. Huber zur Psychotherapieforschung.

Dr. med. Mag. theol. Herbert Will und die Diplom-Psychologen Yvonne Grabenstedt und Gudrun Banck sind in eigener Praxis und als Dozenten, Supervisoren und Lehranalytiker an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München tätig. Günter Völkl arbeitet als Supervisor und Lehrtherapeut in Passau.

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Leseprobe

2          Ein Behandlungsbericht


Günter Völkl


 

Frau Hanna H., die vor einigen Jahren bei mir in Behandlung war, hat den folgenden Bericht über ihre Psychoanalyse gelesen und seiner Veröffentlichung zugestimmt. Dafür danke ich ihr sehr. Sie meint dazu: »Das wiederum heißt aber nicht, dass ich alles genau so sehen würde wie Sie. Ich denke aber, es ist unser beider gutes Recht, manches anders zu sehen und anders erlebt haben zu dürfen als der andere.« Sie hat meine Darstellung mit vielen Anmerkungen versehen, die mich sehr berührt haben und die manches, was unsere gemeinsame Arbeit blockiert oder gestört hatte, im Nachhinein verstehbar werden ließen.

Ihre Kommentare erscheinen mir außerordentlich wertvoll und hilfreich zum Verständnis eines psychoanalytischen Prozesses, der von zwei Personen gewollt, mit Leben gefüllt, auf die Probe gestellt, gerettet und zu Ende gebracht wurde. Deshalb habe ich an einigen, mir besonders markant erscheinenden Stellen des Behandlungsberichtes Frau H. zitiert, wie sie in der Rückschau unsere Arbeit sieht.

Die Patientin, eine kleine, aparte Frau, war mir von einem Kollegen mit dem Hinweis auf einen »sehr schwierigen Behandlungsfall« geschickt worden; sie habe schon einige Therapien hinter sich (Gesprächs-, Verhaltens- und tiefenpsychologisch orientierte Therapien). Das bestätigte die Patientin im Erstgespräch und verband damit das Resümee, dass ihre Leiden sich nicht gebessert hätten, sowie einige kritische Bemerkungen über ihre früheren Therapeuten (dass Frau H. dann relativ bald in der Therapie bei mir auch ihre aggressiven Affekte zeigen konnte, was depressiven Patienten, jedenfalls zu Beginn einer Therapie, eher selten gelingt, ist sicher ein positiver Effekt der therapeutischen Vorerfahrungen).

Als Frau H. ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählte, gehetzt und hoffnungslos, spürte ich bald in mir die Bereitschaft, mich in besonderer Weise für diese seit Jahrzehnten leidende Frau zu engagieren, und war beflügelt von Phantasien, dass die Suche nach dem »richtigen« Therapeuten nun für sie ein gutes Ende gefunden habe. Frau H. ihrerseits äußerte Zweifel, ob ein weiterer Therapieversuch hilfreich sein würde. Aber der Delegationsarzt habe ihr gut zugeredet, und so sei sie trotz ihrer Skepsis gekommen.

Im Zentrum der Beschwerden von Frau H. standen depressive Zustände, die bis zur Unfähigkeit reichten, auch nur irgendetwas zu tun, und schon das morgendliche Aufstehen zu einer schier unüberwindlichen Hürde werden ließen. Sie verzehrte sich offensichtlich in der Fürsorge und Arbeit für ihre Familie (sie war verheiratet und hatte vier Kinder), schätzte ihr Tun aber als unbedeutend und wertlos ein und fühlte sich als Versagerin. Dazu kam eine ganze Reihe von Symptomen (Allergien, Phobien, Angstzustände, Erstickungsanfälle), die z. T. der Abwehr von Gefühlen der Leere und Trostlosigkeit diente. Ihre Rechenzwänge sollten wohl dem Tagesablauf Struktur geben. All diese Beschwerden und Einschränkungen hatten sich mittlerweile dermaßen ausgeweitet, dass Frau H., wollte sie ihre Hausarbeit bewältigen, tatsächlich in einem Zustand chronischer Überforderung leben musste.

Sie hatte früh tüchtig sein müssen. Schon als kleines Kind schien sie in ständiger Angst vor den bizarren und bedrohlichen Verhaltensweisen ihrer Eltern gelebt zu haben, immer auf der Hut, vermittelnd und schlichtend, zu chronischem Verzicht auf einen eigenen, gesicherten Entwicklungsraum genötigt. Ihr knapp ein Jahr älterer Bruder war der Liebling der Mutter gewesen, ihre wesentlich ältere Schwester war ihr eher fremd geblieben.

Frau H. meint heute: »Nicht richtig ist – glaube ich – dass der Bruder der Liebling meiner Mutter gewesen wäre. Der Liebling meiner Mutter war als Kind sicherlich ich. Der Bruder kam eher zu kurz. In der Pubertät wurde er dann mehr und mehr so etwas wie ein ›Ersatzehemann‹. Ich hatte ab da sehr viel Kontakt und eine ganz gute Beziehung zu der Schwester gegen Mutter und Bruder.«

Zum Zeitpunkt der Anamnese hat sich mir eindeutig das Bild des bevorzugten Bruders vermittelt, wie die Überprüfung meiner damaligen Aufzeichnungen ergab. Vielleicht hat sich die persönliche Biographie im Laufe der Analyse verändert, vielleicht war ich in meiner Gegenübertragung zu einseitig konkordant mit der Selbstrepräsentanz der Patientin als benachteiligtem Kind identifiziert.

Später hatte sie trotz eines glänzenden Studienabschlusses auf eine berufliche Karriere verzichtet (aber bis zur Geburt ihres zweiten Kindes halbtags gearbeitet). Sie begründete dies mit der Rücksichtnahme auf ihre Partnerbeziehung. Aber es waren wohl die überhöhten Ansprüche ihres Ich-Ideals, die sie fürchtete, nicht einlösen zu können, die ihr den Karriereweg verstellten. Jetzt war sie unzufrieden mit ihrem Leben, ihre Kinder wurden selbständiger, und sie dachte an einen beruflichen Wiedereinstieg, war jedoch überzeugt, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sein würde.

Sie war das Kind eines manisch-depressiven Vaters und einer paranoiden Mutter, die ihr immer wieder nachstellte, der sie sich aber in Fürsorge verpflichtet fühlte. Man musste also von einer gewissen pathogenen Disposition ausgehen. Tatsächlich hatten einige psychiatrische Kollegen, bei denen Frau H. in Behandlung gewesen war, eine endogene Depression diagnostiziert. Es hatte aber auch die Diagnose »schwere neurotische Depression« gegeben. Jedenfalls war die familiäre Belastung neben der realen Lebenssituation, die nur begrenzte äußere und innere Entwicklungsräume offen zu lassen schien, ein weiterer Faktor, der die Prognose einer psychoanalytischen Behandlung eher bedenklich erscheinen ließ.

Was mich – neben den schon beschriebenen Gegenübertragungsgefühlen – dennoch bewog, Frau H. in Therapie zu nehmen, waren ihre spürbaren sthenischen Qualitäten und ihre Reflexionsfähigkeit. Ihre desolate Situation ließ in mir intensive Bilder entstehen, etwa dieses, dass ihre Lebensumstände sich dermaßen zugespitzt hatten, dass die verfestigten Strukturen aufbrechen mussten – sei es in Richtung einer malignen, psychotischen Regression, sei es, dass dadurch der Boden für eine fruchtbare Entwicklung bereitet würde. Denn der sekundäre Krankheitsgewinn, der vor allem in der Bindung von Verlassenheitsängsten bestand, solange Frau H., wie sie einmal sagte, »das Öfchen der Familie« sein konnte, an dem sich jeder wärmte, wurde von der zunehmenden Lebenseinschränkung aufgezehrt, die durch die Krankheit eingetreten war, und die Familie schien eigene Individuationswünsche zu haben, die für Frau H. bedrohlich zu werden begannen.

Die Sympathie und der Respekt vor der Lebensleistung der Patientin und meine Lust auf die Auseinandersetzung mit ihren Konflikten waren letztlich wohl ausschlaggebend dafür, dass ich Frau H. eine Analyse mit drei Wochenstunden vorschlug. Sie stimmte zu, spürbar erschöpft von ihrem Leiden und scheinbar ohne große Hoffnung, meinte aber, sie habe sich von mir verstanden gefühlt. Die Behandlung dauerte dann vier Jahre. Die Krankenkasse übernahm die Kosten für 300 Stunden, die weiteren 130 Therapiestunden finanzierte die Patientin selbst.

Bald waren die analytischen Flitterwochen vorbei. Schon nach wenigen Wochen begann Frau H., die Therapie und mich massiv zu entwerten. »Von Ihnen kommt nichts, bei Ihnen verhungere ich … die Stunden hier könnte ich mir schenken« (45. Stunde). Sie fühlte sich von mir »abgeschnitten, durchgestrichen und abgewürgt«. Dabei fiel mir auf, dass sie sich selbst fast nie aggressiv erlebte – es sei denn reaktiv – und ganz in ihrer Opferposition eingemauert zu sein schien. Obwohl bis über die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit hinaus für ihre Familie und den Haushalt engagiert, nannte sie sich selbst eine »Schmarotzerin« und gab so einen Hinweis auf ihre unendlich großen, ungestillten und verurteilten oralen Bedürfnisse, die an andere delegiert werden mussten, ohne dass aber dadurch ihre unbewussten Schuldgefühle nachließen. Die Projektion dieses grausamen Über-Ichs mit sadistischen prägenitalen Vorläufern in der Übertragung ließ mich spüren, wie aussichtslos der Versuch der Patientin sein musste, sich selbst zu mögen und ihren eigenen Begrenztheiten mit Verständnis oder gar Humor zu begegnen.

Und es waren dann auch die Selbstentwertungen und Schuldzuschreibungen an die eigene Person, die endlos viele Therapiestunden füllten und es mir oft schwer machten, die scheinbare Wirkungslosigkeit meiner therapeutischen Bemühungen zu ertragen, ohne zu resignieren....

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