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Der Kitt der Gesellschaft

Perspektiven auf den sozialen Zusammenhalt in Deutschland

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl357 Seiten
ISBN9783867937771
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Was hält die Gesellschaft zusammen? Was ist der sprichwörtliche Kitt, der die Menschen miteinander verbindet? Dieser Sammelband beleuchtet die unterschiedlichen Facetten von gesellschaftlichem Zusammenhalt in Deutschland. Die Autorinnen und Autoren verstehen diese soziale Kohäsion als ein mehrdimensionales Phänomen - vom zwischenmenschlichen Vertrauen und der Entwicklung sozialer Netzwerke über die Identifikation mit dem Gemeinwesen und das Vertrauen in Institutionen bis hin zu Solidarität, Hilfsbereitschaft und sozialer Teilhabe. In ihren Beiträgen reflektieren sie die aktuellen Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Zuwanderung, wachsende soziale Ungleichheit, Globalisierung und demographischen Wandel. Der Band bereichert die Debatte über die gesellschaftliche Entwicklung und analysiert drängende gesellschaftspolitische Fragen mit Blick darauf, wie wir als Gesellschaft künftig in Vielfalt zusammenleben.

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Leseprobe

Was die Gesellschaft
im Innersten zusammenhält


Kai Unzicker

Gemeinhin ist in öffentlichen Debatten dann von gesellschaftlichem Zusammenhalt die Rede, wenn sein Fehlen beklagt wird. In diesem Sinne handelt es sich um einen Krisenbegriff. Als Herausforderungen für einen stabilen Zusammenhalt gelten landläufig der Verlust traditioneller Werte sowie schrankenloser Individualismus, wachsende soziale Ungleichheit und zunehmende ethnisch-kulturelle Vielfalt. Damit verbunden ist das unspezifische Gefühl, dass in der modernen Gesellschaft etwas grundlegend falsch läuft, die Fliehkräfte zu groß werden und das Gerüst des Miteinanders in sich zusammenbricht.

Angesichts spürbarer Umbrüche in den westlichen Gesellschaften mag es nicht weiter verwundern, dass die Zahl derer wächst, die vermuten, mit fortschreitender Modernisierung gehe der Sinn der Menschen für Solidarität, Engagement und Miteinander verloren. Manch einer wünscht sich deshalb vergangene Zeiten zurück, in denen das gemeinschaftliche Miteinander vermeintlich menschlicher, stabiler, herzlicher oder moralischer war.

Gleichzeitig offenbart der Blick auf aktuelle Herausforderungen wie die Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlingen in Deutschland höchst unterschiedliche Reaktionen: Während sich auf der einen Seite ein Abwehrblock formierte, der »Untergang des Abendlandes« prognostiziert wurde, Flüchtlingsheime brannten und mit der Alternative für Deutschland (AfD) eine rechtspopulistische Partei in die Parlamente gelangte, entstand auf der anderen Seite eine beeindruckende Bewegung von Freiwilligen und Engagierten, die bewies, wie solidarisch und weltoffen die deutsche Gesellschaft heute ist. Diese beiden Reaktionsweisen stehen für deutliche Risse zwischen den Milieus, die im konsensorientierten Deutschland lange übersehen wurden (vgl. Bertelsmann Stiftung 2016). Seitdem hat die Debatte nicht an Schärfe verloren. Dazu beigetragen haben die sich in Europa häufenden Terroranschläge, die diejenigen, die sich für eine menschenfreundliche Flüchtlingspolitik und eine vielfältige Gesellschaft einsetzen, in die Defensive drängen.

Was ist mit Zusammenhalt gemeint?


Obwohl seine Krise so häufig beschworen wird, fehlt es an einer klaren Definition des Konzepts »Zusammenhalt«. Das kritisiert der kanadische Soziologe Paul Bernard (1999) und vermutet zugleich, dass das Konzept gerade aufgrund seiner Unschärfe so erfolgreich ist. Einerseits knüpfe es an nachprüfbare Daten über die Gesellschaft an und legitimiere sich auf diese Weise; andererseits sei es so vage, dass es im öffentlichen Diskurs in beliebigen Zusammenhängen Verwendung finden kann. Tatsächlich ist die Versuchung groß, alle denkbaren und wünschenswerten Qualitäten einer Gesellschaft unter dem Label »Zusammenhalt« zu vereinen. Um diesen aber als politische Zielgröße zu nutzen, ist ein klar definiertes Konzept erforderlich. Messbar wird Zusammenhalt jedenfalls nur dann, wenn er von anderen Phänomenen wie Ungleichheit, Armut oder Lebenszufriedenheit abgegrenzt wird – was nicht heißt, dass diese Faktoren den Zusammenhalt nicht beeinflussen können.

Im politischen Raum gibt es durchaus Bemühungen zu definieren, was mit Zusammenhalt gemeint ist und was ihn fördert. Sie illustrieren zugleich, wie weit das Spektrum an Themen reicht, das sich darunter subsumieren lässt. So hat die deutsche Politik den gesellschaftlichen Zusammenhalt bereits in den vergangenen Jahren zu einer prominenten Zielgröße gemacht: In der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (2002) wird er als einer von vier Zielblöcken definiert. Als Basis für den Zusammenhalt werden dort Gemeinsinn, Solidarität und Zivilcourage genannt, die, wenn vorhanden, eine »Kultur der wechselseitigen Anerkennung« erwachsen lassen (ebd.: 33). Die Herstellung von Zusammenhalt sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sowohl den Staat als auch Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände und Zivilgesellschaft angeht (ebd.: 121). Vier Bereiche der operativen Politik sind dabei im Blick: Beschäftigung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Gleichberechtigung sowie Integration von Ausländern.

Elf Jahre später, im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD von 2013, ist das vierte Kapitel, »Zusammenhalt der Gesellschaft«, das umfangreichste (Bundesregierung 2013: 68–100). Es umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Themen wie Familie, Sexualität, Alter, Behinderung, freiwilliges Engagement, Wohnen, Religion, Kultur sowie Integration, Zuwanderung und Minderheiten. Auf all diesen Feldern sollen politische Entscheidungen getroffen werden, die den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherstellen. Jüngst, im ersten Halbjahr 2016, hat die Regierung zudem ein Investitionspaket verabschiedet, das als »Grundlage für den sozialen Zusammenhalt in Städten und Gemeinden« vorgestellt wurde (BMUB 2016).

Auch im Vertrag über die Europäische Union aus dem Jahr 2009 ist in Artikel 3 (3) zu lesen: »Sie [die Europäische Union] fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten« (Europäische Union 2009). Nicht zuletzt vertritt der Europarat eine Strategie zur Förderung des sozialen Zusammenhalts (Europarat 2010), worunter dort die Fähigkeit einer Gesellschaft verstanden wird, das Wohlbefinden und Wohlergehen ihrer Mitglieder sicherzustellen.

Zusammenhalt als programmatischer Arbeitsschwerpunkt


In einer Reihe von Veröffentlichungen, die Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders behandeln, stellte die Bertelsmann Stiftung Ende der 1990er-Jahre den Zusammenhalt in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Neben verschiedenen kleineren Publikationen (Weidenfeld und Rumberg 1994; Berger und Luckmann 1995; Dettling 1995) ragen vor allem zwei Sammelbände heraus. Mit Peter L. Berger wurde 1999 »Die Grenzen der Gemeinschaft« als Bericht an den Club of Rome veröffentlicht. Zwei Jahre später folgte, diesmal unter der Herausgeberschaft von Robert D. Putnam, der Band »Gesellschaft und Gemeinsinn«. Darin wurden die Veränderungen des Sozialkapitals in acht Ländern näher untersucht: Australien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Schweden, Spanien und den USA.

In der Einleitung zu »Die Grenzen der Gemeinschaft« (1999: 21 f.) formulierte Volker Then eine Leitfrage, die heute so aktuell wie damals ist: Wie ist mit den Konflikten umzugehen, die durch den zunehmenden Pluralismus und die Erosion einheitlicher Wertesysteme in sich rasch wandelnden Gesellschaften immer wahrscheinlicher werden? Eine klare Absage erteilt er der Vorstellung, dass die Restauration vergangener Werthomogenität eine Lösung sein könnte. Vielmehr müsse es darum gehen, ein Arrangement zu finden, das die Verschiedenartigkeit akzeptiert und dennoch den Zusammenhalt herstellt.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen Homogenität und Konformität auf der einen sowie Heterogenität und Individualität auf der anderen Seite bestimmt auch heute noch die gesellschaftliche Realität. Weder das eine noch das andere Extrem kann dabei künftig den Zusammenhalt sichern. Welche geteilten Werte sind notwendig, um als gesellschaftliche Einheit zu existieren, ohne die Vielfalt zu sehr einzuschränken?

Lange Zeit galt Religion als ultimative Quelle des gesellschaftlichen Wertefundaments und als integrierende Institution. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts richtete die Bertelsmann Stiftung folgerichtig zunächst ihren Blick auf die Rolle der Religion für das Miteinander in der Gesellschaft. Im Jahr 2008 erschien der erste Religionsmonitor, eine quantitative Befragung zu Glauben und Religiosität in 21 Ländern (Bertelsmann Stiftung 2008). Seit der zweiten Ausgabe des Religionsmonitors 2012 steht das Thema »gesellschaftlicher Zusammenhalt« auch explizit auf dessen Agenda. Untersucht wurde in 13 Ländern (Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Kanada, Schweden, der Schweiz, Spanien, Südkorea, der Türkei und den USA) die Frage, ob Religion oder Religiosität heute eher ein verbindendes oder ein trennendes Element in Gesellschaften sind (Bertelsmann Stiftung 2013a). Die Ergebnisse waren ambivalent: Besorgniserregend hoch fiel beispielsweise die ablehnende Haltung der Bevölkerung in den untersuchten Ländern (mit Ausnahme der Türkei) gegenüber dem Islam aus. Dieser wurde als bedrohlich und nicht dem Westen zugehörig angesehen.

Aber der Religionsmonitor zeigte auch, dass faktisch viele Brücken zwischen den Religionen existieren, weswegen keineswegs von einer religiösen Spaltung der Gesellschaften gesprochen werden kann. Richard Traunmüller hat das interreligiöse Beziehungsgeflecht mit Daten des Religionsmonitors untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass die Befürchtungen, eine wachsende religiöse Vielfalt könne sich negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken, unbegründet seien (Traunmüller 2014: 86). Dennoch können Trennlinien zwischen den Religionen und ihren Angehörigen zu Konflikten...

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