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E-Book

Der Prager Frühling

Aufbruch in eine neue Welt

AutorMartin Schulze Wessel
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783159613123
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der Prager Frühling 1968: Aufstand der demokratischen Kräfte gegen ein autoritäres Gewaltsystem und ein Laboratorium für neue Gesellschaftsentwürfe, das in der kollektiven Erinnerung Europas bis heute fortwirkt. Der prominente Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel veranschaulicht die Prager Reformbewegung um Alexander Dub?ek als ein Zukunftsprojekt, als den Versuch, die Annäherung zwischen sowjetischem System und westlicher Gesellschaftsform in der Mitte Europas zu realisieren. Er zeichnet den Prager Frühling zudem als ein Projekt der Vergangenheitsbewältigung nach, im Zuge dessen die Schauprozesse der fünfziger Jahre, beispielsweise gegen Rudolf Slánský, erstmals öffentlich diskutiert wurden.Die Denkwelten der Reformer des Prager Frühlings, dargelegt anhand neuen Quellenmaterials, sind zeitgebunden und aktuell gleichermaßen. Darin liegt ein Teil ihrer historischen Anziehungskraft, die auch heute noch, nach einem halben Jahrhundert, von ihnen ausgeht.

Martin Schulze Wessel, geb. 1962, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Sprecher der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien und Direktor des Collegium Carolinum in München. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des deutschen Historikerverbands.

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Leseprobe

Einleitung


»Es war hörbar, sichtbar, greifbar, und doch nicht zu fassen. Jemand klopfte am Mittwoch früh an unsere Hoteltür und rief: ›Wir sind besetzt.‹« So erlebte Heinrich Böll den Morgen des 21. August 1968, als sowjetische Truppen im Verbund mit Armee-Einheiten anderer Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei einrückten, um dem Reformprozess dort ein Ende zu machen. Die meisten Westdeutschen verfolgten die Niederschlagung des Prager Frühlings nicht wie Böll von einem Prager Hotelzimmer aus, sondern an Radioempfängern und im Fernsehen. Wie kaum ein anderes Ereignis des Kalten Kriegs – vergleichbar allenfalls mit dem Ungarn-Aufstand, der Kuba-Krise, dem innerdeutschen Mauerbau und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen – prägte sich die sowjetische Invasion mit den Bildern von den Panzerkolonnen auf dem Prager Wenzelsplatz in das europäische Gedächtnis ein. Von Anfang an gingen die Deutungen der Invasion auseinander. »Die Schüsse«, so Böll weiter, »erklärten deutlich: Europa hat keinen Frieden, es lebt im Zustand unterschiedlicher Waffenstillstände, hier wurde ein Waffenstillstand gebrochen, in Prag.« Bölls Sorge galt zuerst dem Frieden. Das war für die westdeutsche Rezeption charakteristisch. Hingegen sahen sich die Tschechen und Slowaken vor allem ihrer Freiheit beraubt. Auch viele Ostdeutsche, die im Frühjahr und Sommer 1968 als Touristen die Tschechoslowakei besucht hatten und in ihrem Land auf eine Reform nach tschechoslowakischem Vorbild hofften, teilten diese Sicht.

Längst sind die unmittelbaren Eindrücke der Zeitgenossen durch die Literatur und vor allem durch Spielfilme überformt worden. Dem internationalen Publikum hat sich besonders der Film Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von 1988 eingeprägt, den der amerikanische Regisseur Philip Kaufman nach dem gleichnamigen Roman von Milan Kundera gedreht hat. Er verband Dokumentaraufnahmen des 21. August mit gespielten Szenen und führte ein akustisches Element ein, um die Überwältigung der Reformbewegung zu signalisieren: Das Klirren der Fensterscheiben und der Weingläser in den Vitrinen kündigt die einrückenden Panzer der Besatzungsmacht an. Das Geräusch weckt die überraschten Bürger, die immer noch arglos an die Friedfertigkeit des großen Verbündeten glauben. Mit ganz ähnlichen ästhetischen Verfahren arbeiteten nach 1989 tschechische Filme wie Jan Hřebejks Kuschelnester (Originaltitel: Pelíšky, 1999) und – als Reminiszenz an den Prager Frühling – Jan Svěráks Kolya (Originaltitel: Kolja, 1996). So etablierte sich ein Verfahren, das die Spezifik dieser militärischen Invasion, nämlich das überraschende Eindringen einer mit Panzern bewaffneten Macht in die schlafende Metropole, symbolisiert.

In der Memoirenliteratur der Akteure des Prager Frühlings spielt das Ereignis der Invasion eine wichtige, aber keine überragende Rolle. Die Zeitzeugen wie auch ein großer Teil der Geschichtsschreibung waren gefesselt von der Einzigartigkeit des Reformexperiments, das sich in den wenigen Monaten vom Januar bis August 1968 in der Tschechoslowakei vollzog. Sie sahen darin den weltweit ersten Versuch, eine sozialistische Gesellschaftsordnung nicht nur mit marktwirtschaftlichen Elementen, sondern auch mit Demokratie und Gewaltenteilung zu verbinden. Für einige Monate schien der Widerspruch zwischen Ost und West überbrückbar. In dem Bestreben, den Systemgegensatz zu überwinden, liegt auch weiterhin ein großer Teil der Faszination, welche die Frühlings- und Sommermonate 1968 in der historischen Rückschau ausüben. Doch fragt die neuere Zeitgeschichtsschreibung immer drängender nach den Phänomenen der »langen Dauer«: nach der allmählichen Vorbereitung des Reformprozesses seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre und den langfristigen Wirkungen, die vom Prager Frühling und seiner Niederschlagung ausgingen.

Hier knüpft dieses Buch an: Es gewinnt aus der Vorgeschichte, die in den fünfziger Jahren beginnt, ein neues Verständnis der Reformepoche. Der Prager Frühling wurde, so die These, von zweierlei vorangetrieben: erstens von den Zukunftsvorstellungen einer neuen Gesellschaft, die auf eine Humanisierung des Sozialismus oder eine Konvergenz mit den liberalen, marktwirtschaftlich geprägten Demokratien des Westens hinausliefen, und zweitens von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der fünfziger Jahre. Deren Hypothek bestand darin, dass die bis 1968 amtierende Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) für die Justizverbrechen dieser Zeit zum Teil persönliche Verantwortung trug und deshalb an einer rückhaltlosen Aufarbeitung der Geschichte kein Interesse hatte. Ohne die öffentliche Rehabilitierung der politischen Opfer von damals und die namentliche Identifizierung der Schuldigen bestand aber keine Aussicht, eine wirksame gesellschaftliche Dynamik für umfassende Reformen anzustoßen. Das Jahr 1968 stand deshalb in der Tschechoslowakei ebenso im Zeichen von Zukunftsentwürfen, wie es von einer Debatte über die Vergangenheit geprägt war.

Die Geschichte des Prager Frühlings ist von seinen führenden Akteuren und der Geschichtsschreibung zumeist als Ideologiegeschichte erzählt worden. Auf der einen Seite standen demnach die »Reformer« mit Alexander Dubček als Galionsfigur und auf der anderen Seite die »Dogmatiker« und »Konservativen«. Diese Kategorisierung in einem Links/Rechts-Schema ist naheliegend, denn die Protagonisten des Prager Frühlings setzten sich in der Tat für Veränderungen ein, während die gegnerische Gruppe die bestehenden Verhältnisse verteidigte. Insofern ist die Darstellung entlang der ideologischen Linien von »links« und »rechts« nicht falsch, aber sie greift in zweierlei Hinsicht zu kurz:

Erstens wird allzu oft übersehen, dass es sich bei dem Gegensatz von »Reformern« und »Konservativen« um Positionen handelte, die die Akteure selbst konstruierten. In der Auseinandersetzung zwischen den beiden Flügeln der KSČ war es alles andere als selbstverständlich, dass sich eine Gruppierung, die Elemente der westlichen Gesellschaftsordnung in das eigene System implementieren wollte, als »progressiv« bezeichnen konnte. In der Geschichte des Kommunismus gibt es viele vergleichbare Bestrebungen, die sofort als »Rechtsabweichung« oder »Revisionismus« gebrandmarkt wurden. Der Gruppierung um Alexander Dubček hingegen gelang es, sich als »Erneuerer« und »Reformer« im Sinne der ursprünglichen Ideen des Sozialismus und damit als Fortsetzer der linken Tradition darzustellen. Mit dieser Sprachstrategie ließ sie ihre innerparteilichen Gegner als »Dogmatiker« und »Konservativen«, also als »Rechte«, erscheinen. Darin lag für das Dubček-Lager ein großer Erfolg. Nicht von ungefähr setzte die sowjetische Führung, als sie sich für den Gewaltakt gegen den Prager Frühling entschied, zuerst im Warschauer Pakt eine neue Sprachregelung durch: Die »Reformer« hießen jetzt »Konterrevolutionäre«. Erst danach schickte sie die Panzer. Ideologie war also weit mehr als eine Bemäntelung von politischen Interessen. Deshalb interessiert sich dieses Buch dafür, wie die »linken« bzw. »konservativen« Positionen konstruiert wurden: Wie entwarf eine Gruppierung, die den Status quo verändern wollte, von sich selbst das Bild einer »progressiven« Kraft im Sinne eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«? Wie reagierte das Gegenlager der Status-quo-Bewahrer darauf, und wie erhob die sowjetische Politik schließlich den Vorwurf der »Konterrevolution«?

Zum anderen greift die Literatur zum Prager Frühling aber auch deshalb vielfach zu kurz, weil sie dessen Geschichte in dem Gegensatz von »Reformern« und »Konservativen« aufgehen lässt. Die Links-Rechts-Schemata waren im Prager Frühling höchst wirkungsvoll, aber die Auseinandersetzung stand nicht nur unter den ideologischen Vorzeichen des Kalten Krieges. Vielmehr ist der Prager Frühling auch als eine Auseinandersetzung um die kulturellen Grundlagen der Nation zu begreifen. Eine große Rolle spielte dabei die Aufarbeitung der Justizverbrechen der fünfziger Jahre. Im Laufe der sechziger Jahre drängten Opfer der politischen Justiz auf ihre Rehabilitierung und wurden dabei von Kommunisten unterstützt, die von der Aufarbeitung der Verbrechen eine Selbstreinigung der Partei und eine Rückkehr zu den »ursprünglichen« Traditionen des Marxismus erhofften. Dieser Konflikt berührte die Gemengelage von alten, ethnisch codierten Konflikten, zu denen auch der Antisemitismus der fünfziger Jahre gehörte, und bewegte sich in der Tradition von Nationalitätenkonflikten der Zwischenkriegszeit. Auch die slowakischen Kommunisten waren von den Prozessen in besonderer Weise betroffen. Tatsächlich erforderte die Aufarbeitung der Vergangenheit mehr als nur eine Rehabilitierung der zu Unrecht verurteilten ideologischen »Abweichler«. Es ging auch darum, einen Antisemitismus zu erkennen und zu entkräften, welcher den Justizverbrechen der fünfziger Jahre eine rassistische Begründung geliefert hatte....

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