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Der Roman 'Ich' von Wolfgang Hilbig im Deutschunterricht in Frankreich

AutorErik Lautenschlager
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl70 Seiten
ISBN9783668089129
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Didaktik - Deutsch - Deutsch als Fremdsprache, Note: 16/20, , Veranstaltung: Master Métiers de l'Education, de l'Enseignement et de la Formation, Sprache: Deutsch, Abstract: Um einen guten Spracherwerb zu gewährleisten, sollten authentische Materialien im Fremdsprachenunterricht Verwendung finden. Dies scheint vor allem in einer ultraperipheren Region Europas, wie das Departement La Réunion, wichtig. Trotz des einfachen Zugangs zum Internet bleibt seitens der Schülerinnen und Schüler die Nutzung von fremdsprachlichen Internetseiten oder Radiosendungen eher begrenzt. Es ist notwendig, den Schülerinnen und Schülern möglichst viel und möglichst authentisches Material zum Lernen der fremden Sprache im Unterricht zur Verfügung zu stellen. Daher bietet es sich an, zum Beispiel mit Literatur zu arbeiten. Sicherlich sind Kenntnisse der Literatur aus verschiedenen Jahrhunderten wichtig, doch kann mit Romanen aus den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gegebenenfalls großes Interesse bei den Schülerinnen und Schülern erzeugt werden. Wolfgang Hilbig ist ein Autor der neunziger Jahre, der in der DDR gelebt hat und auch über sie schreibt. Da der heutige Fremdsprachenunterricht auch die Vermittlung von kulturellen Kenntnissen vorsieht, scheint es für den Deutschunterricht sinnvoll, die DDR zu behandeln. Hilbig bietet hierfür eine gute Möglichkeit, da er im Roman 'Ich' die Atmosphäre der DDR nachvollziehbar macht. Eine Behandlung des Romans kann möglicherweise zum besseren Verständnis der Teilung Deutschlands beitragen. Es stellt sich allerdings die Frage, wie ein sprachlich so gewandter Roman im Deutschunterricht in Frankreich seinen Platz finden kann.

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Leseprobe

3. Der Roman „Ich“


 

Hilbig thematisiert in seinem Roman die Unfähigkeit der DDR-Bürger, sich frei auszudrücken. Sie sind nicht in der Lage, „die untere Gesichtshälfte“[32] frei zu bewegen. Er behandelt vor allem die Überwachung der Bürger durch den Staat – die Staatssicherheit. Hilbig zeigt dies am Beispiel von Autoren, die überwacht werden. Er beschreibt somit auch die inoffizielle Kulturszene, die in der DDR tatsächlich existiert hatte. Inoffiziell, da vom eigenen Staat nicht anerkannt – oft jedoch im Westen veröffentlicht. Die Lesungen wurden im Osten in Kellern oder Privatwohnungen abgehalten und hatten dadurch ein begrenztes Publikum, dem der Autor vertraute, in dem aber auch Stasi-Mitarbeiter vertreten waren, welche die Lesungen minutiös protokollierten[33]. So erzählt W. im Roman, ohne bisher namentlich vorgestellt worden zu sein:

 

Man wusste, dass Reader, der Verfasser dieses Textes [...] inzwischen über ein ständig wachsendes Publikum verfügte, dessen Gemeinden in vielen Vierteln der Stadt nisteten, ja dass Readers Ruf seit einiger Zeit sogar über die Stadtgrenze hinweg reichte, dass er es aber strikt vermied, eine über seine Leseveranstaltungen hinausgehende Öffentlichkeit in Anspruch zu nehmen, wiewohl er dazu beste Chancen gehabt hätte. Freilich war es geschehen, dass irgendein Radiosender von drüben den Bandmitschnitt eines seiner Vorträge ins Programm nahm, da Reader jedoch nicht zu bewegen schien, sich mit den Rundfunkredaktionen oder den Journalisten über sich und seine Absichten näher einzulassen, erlosch deren Interesse bald wieder; es gab bereitwilligere Figuren in jener Szene, die man als die inoffizielle Kulturszene im Ostteil Berlins bezeichnen mochte, und es gab genug bereitwilligere Figuren in jener Szene, die spektakulärer aussahen.[34]

 

Im zitierten Ausschnitt kommen verschiedene Aspekte zur Sprache. Zum einen wird gezeigt, dass die Anhänger der inoffiziellen Autoren eher als unerwünscht bezeichnet werden können. Dies drückt Hilbig mit dem Verb „nisten“ aus, das eigentlich Vögeln vorbehalten ist, jedoch auch für Ungeziefer benutzt werden kann, das sich in einem Haus einnistet, so wie für Nagetiere oder Insekten, die sich im Kornspeicher einnisten und die Ernte fressen, die eigentlich als Vorrat dort eingelagert wurde. Nisten bedeutet „ein Nest bauen“ und so kann man im Deutschen auch von einem „Verbrechernest“ sprechen. Die Andeutung ist schwach, jedoch im Kontext und durch den Ton des Textes klar spürbar.

 

„Reader“ wird im weiteren allein durch seinen vermutlich aus dem englischen Verb „read“ (lesen) abgeleiteten Namen als Stellvertreter für Autoren, die Lesungen abhalten, qualifiziert. Hilbig beschreibt die Tatsache, dass jener „Reader“ keine Erklärungen über seine „Absichten“ abgibt. Hier wird klar Bezug auf den Überwachungsstaat und die Begrenzung der Rede- und Meinungsfreiheit genommen – Reader kann natürlich auch vom deutschen Verb „reden“ abgeleitet worden sein. Dass der Name symbolisch zu verstehen ist, wird klar, da es kein typischer deutscher Name ist und Hilbig im Roman sehr sorgfältig mit Namen umgeht – meist nennt er nur Vornamen, nur den Nachnamen oder gar nur ein Akronym beziehungsweise Initialen. Dies ist vor allem für den Roman „Ich“ interessant, da auch die Stasi in ihren Akten Decknamen und Initialen verwendet hat.

 

Reader vermeidet eine Öffentlichkeit jenseits der Lesungen und scheint nicht dazu zu bewegen, über sich zu sprechen. Das bedeutet, er hat die bewusste Entscheidung getroffen, nicht zu sprechen, und hat dafür offensichtlich gute Gründe. Doch ist dies gleichzeitig wie immer mit Fiktion gemischt, auch ein autobiographischer Aspekt des Romans:

 

Wie man aus vergleichbaren Fällen etwa um Jürgen Fuchs oder Gerulf Pannach weiß, funktionierte die mediale Aufmerksamkeit im Westen als Schutz für im Osten kriminalisierte Künstler und Intellektuelle. Dennoch wurde auf die Weigerung, mit der Staatsicherheit zusammenzuarbeiten, mitunter auch mit körperlichen Überfällen reagiert. Laut Corino wurde Hilbig unmittelbar nach seiner Haftentlassung nachts überfallen und in eine Schaufensterscheibe geworfen. Das Vernehmungsprotokoll mehrerer Verhöre Hilbigs lässt nur ahnen, unter welchen Bedingungen der Untersuchungshäftling jede Zusammenarbeit mit der Stasi abgelehnt hatte.[35]

 

Hilbig nimmt also selbst Erlebtes auf, ohne in Details zu gehen, lässt die Brutalität, die ihm zu Teil wurde, implizit, macht sie aber dennoch spürbar. Dies wäre also eine Öffentlichkeit, die aus der Sicht des Spitzels zu begrüßen wäre. Der Autor soll sich gegenüber der Stasi äußern, mit der Stasi zusammenarbeiten. Es ist weniger die mediale Öffentlichkeit in Ostdeutschland gemeint, da die Medien der DDR vom Staat kontrolliert wurden. Welches Interesse hätte ein Autor, der nicht linientreu ist, sich zu äußern, wohl wissend, dass seine gegebenenfalls kritischen Worte nicht in dieser Form veröffentlicht werden?

 

Dies ist eine interessante Gegenüberstellung: Die Stasi wird als Öffentlichkeit auf eine Ebene mit den Westmedien gesetzt. Die Pressefreiheit des Westens wird der Überwachung im Osten gegenübergestellt. Wer Öffentlichkeit sucht, findet diese im Westen in den Medien und im Osten in der Stasi. Die Macht über die Bekanntheit eines Autors hat im Osten die Stasi und im Westen die Presse.

 

Gleichzeitig kritisiert Hilbig die Oberflächlichkeit der Westmedien, die an einem solchen „stummen“ Autor, welcher sich nicht äußert, schnell das Interesse verlieren, auch wenn sie zuvor einen Mitschnitt der Lesung im Westradio senden. Die Worte „Freilich war es geschehen“ zeigen, wie selbstverständlich es offensichtlich ist, dass diese „underground“-Kunst des Ostens im Westen publiziert wird. Natürlich war dies nicht so selbstverständlich. Hilbig verwendet hier Ironie. Es war schwierig, Aufzeichnungen der von der Stasi beobachteten Lesungen in den Westen zu bringen, ohne an der Grenze abgefangen zu werden. Und nicht jeder Künstler fand das Interesse des Westens. Hier wird ein sensibles deutsch-deutsches Thema angesprochen. Warum wurden manche Künstler vom Westen unterstützt und andere nicht? Darauf kann hier aber nicht eingegangen werden. Hilbig selbst wurde zuerst im Westen veröffentlicht und niemals unzensiert im Osten. Er spielt hier auf die Sensationslust der Westmedien an, die ohne spektakuläre Aussagen einen Autor sehr schnell fallen lassen. Dieser kleine Ausschnitt zeigt, wie subtil Hilbig Informationen über die ehemalige DDR aber auch die BRD im Roman versteckt. Es zeigt, dass für ein tiefgehendes Verständnis sehr gute Deutsch-Kenntnisse notwendig sind, aber auch landeskundlich-historisches Hintergrundwissen.

 

Der Roman „Ich“ situiert sich im Bereich der sogenannten Prenzlauer Berg-Connection, benannt nach dem damals Ostberliner Stadtteil sowie der netzwerkartigen Verbindung der Mitglieder – der Anglizismus „Connection“ kann als regimekritischer Aspekt (den man auch im Namen „Reader“ sehen kann) betrachtet werden. Ebenso kann er als Merkmal für Erneuerung, Modernität und Jugendlichkeit angesehen werden. Bekannte Namen wie Wolf Biermann oder Rainer Schedlinski waren Mitglieder, aber auch andere Schriftsteller, alle mit einer Gemeinsamkeit: kein Mitglied des Schriftstellerverbands der DDR zu sein. Diese subkulturellen Künstlergemeinschaften entstanden vor dem Hintergrund der auch in der DDR nicht ohne Echo gebliebenen Ereignisse der Liberalisierung in den siebziger Jahren einerseits und der wirtschaftlichen Entwicklung andererseits. Im Vorfeld hatte die brutale Beendigung des Volksaufstandes des 17. Juni 1953, 1961 der Bau des „anti-imperialistischen Schutzwalls“, wie die Mauer im Osten offiziell genannt und begründet wurde, und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 den Bürgern im Osten klargemacht, dass dieser sozialistische Staat, die sogenannte „Demokratische Republik“ und das von Moskau dominierte sozialistische System, nicht sehr viel von Freiheiten seiner Bürger hielt, soweit diese über die Freiheiten hinausgingen, die vom Staat zugestanden und von der Stasi überwacht wurden.

 

Am Ende der siebziger Jahre wurde evident, dass die ökonomische, kulturelle, gesamtgesellschaftliche Entwicklung in der DDR in eine tiefgreifende Krise geriet: Sichtbare Symptome dafür waren die Verschlechterung der Versorgungslage, der Zerfall der Innenstädte, die überall sichtlichen Verheerungen der natürlichen Umwelt. Die Biermann-Ausbürgerung zerschlug die in den frühen siebziger Jahren gekeimten Hoffnungen auf eine allmähliche Liberalisierung und Demokratisierung des kulturellen und politischen Lebens. In dieser Situation waren immer mehr „Hineingeborene“ (Uwe Kolbe), die nie etwas anderes kennengelernt hatten als den DDR-Sozialismus, nicht mehr bereit, die stillschweigenden und stillstellenden Agreements zwischen Staat und Bevölkerung weiter ungefragt zu akzeptieren. Ende der siebziger Jahre entstanden urbane Jugendkulturen in den größeren Städten, in Leipzig, Dresden und vor allem in Berlin, die ihre eigenen Strukturen abseits staatlicher Bevormundung zu entwickeln versuchten, wiewohl die Staatssicherheit von Anfang an informelle Mitarbeiter zu platzieren wusste.[36]

 

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