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E-Book

Deutschland, du bist mir fremd geworden

Das Land verändert sich und wir uns mit?

AutorErik Flügge
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783641232191
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Ein Insider knöpft sich das politische System vor
Etwas ist gekippt in diesem Land, überall liest man Hassbotschaften. Von Fortschritt ist kaum noch die Rede, stattdessen immerfort von der Krise. Als gäbe es keine Hoffnung mehr. Messerscharf analysiert Erik Flügge die Stimmung im Land, die Entfremdung zwischen Bevölkerungsteilen, zwischen Politik und Wählern, zwischen den Medien und ihren Nutzern. Sein Buch ist gespickt mit Vorschlägen, Teil einer guten Veränderung zu werden. Das gilt für die alten Volksparteien, für die Kommunen, die oft zu schnell entmutigt sind, aber auch für die Medien, die sich in permanenter Kritik sehen. Und vor allem für jeden Einzelnen. Damit Deutschland wieder ein Land wird, auf das man stolz sein kann - auch als jemand, der das schon lange nicht mehr gesagt hat.



Erik Flügge, geboren 1986, ist Geschäftsführer der Squirrel & Nuts Gesellschaft für strategische Beratung. Er ist politischer Stratege, Dozent und Experte für Beteiligungsprozesse. Flügge berät Spitzenpolitiker und Parteien bei der Kommunikation und viele Städte und Gemeinden bei der Entwicklung von Partizipationsprojekten.
Vor seiner Tätigkeit als Berater war er in der katholischen Bildungsarbeit tätig. Sein Interesse gilt weiterhin der Theologie - dies wird auch in seinem Blog deutlich.

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Leseprobe

Weltoffenheit, Baden-Württemberg und andere Illusionen

Weltoffenheit ist der Begriff, der die liberalen Kräfte unseres Landes eint. Ich bin euphorisiert von den Zehntausenden Demonstranten in Berlin. Weltoffenheit ist der zentrale Begriff aller Kräfte, die den einzelnen Menschen über das Volk stellen. Die vernünftigen Teile der FDP verteidigen die Weltoffenheit, die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linke ebenso. Zum Teil sogar die CDU. Weltoffenheit eint weite Teile deutscher Politik und deutscher Öffentlichkeit. Die Gewerkschaften verteidigen die Weltoffenheit, viele Arbeitgeber ebenso. Die Weltoffenheit wird erkämpft von Verbänden und Organisationen.

Das Bündnis, das sich für die Weltoffenheit schmieden lässt, ist so groß, dass es ganz Deutschland auf den Kopf stellen kann. Unsere Freiheit ist gefährdet, darum lohnt es sich, sie endlich wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Es geht um mehr als Umverteilung. Es geht in Deutschland um die demokratische Existenz.

Mit dem Ziel der Wahrung unserer Offenheit ließe sich selbst im heutigen Bundestag eine Mehrheit jenseits von AfD und CSU herstellen. Wir müssen nicht akzeptieren, dass Zäune hochgezogen werden, wir müssen nicht akzeptieren, dass immer neue wirkungslose Sicherheitsgesetze die Freiheit limitieren. Alles, was es braucht, ist, dass vier Parteien im Bundestag über ihren Schatten springen und zu einer Einigkeit für eine Offenheitspolitik gelangen.

Als ich anfing mit jungen Politikern aus diesen Parteien darüber zu sprechen, glühten alle Augen. Eine Hoffnung auf ein Mehr statt dem Immer-weiter-so. Eine Hoffnung auf Fortschritt in einem allgegenwärtigen Rückschrittsdiskurs. Eine Hoffnung darauf, dass aus Deutschland wieder mehr werden kann, als nur ein Schatten seiner Vergangenheit.

Warum nicht die Kräfte bündeln, die mehr statt eingeschränkter Freiheit wollen? Jeder von uns könnte auf dem Marktplatz eine Rede über die Weltoffenheit halten. Jeder von uns die gleiche. Es ist die eine Rede unserer Zeit, die uns Freiheitsliebende eint und die der Schlachtruf unserer Generation sein kann. Ein Schlachtruf, den man ins ganze Land tragen muss!

Ich steige in den Zug und fahre nach Baden-Württemberg. Hier stamme ich her. Das Land ist eher kein Hort der Liberalität. Am trefflichsten umschreibt man dieses Land so: Wenn zwei Familien aus zwei nebeneinander liegenden Reihenhäusern zusammen im Garten grillen, dann geht jeder bei sich zu Hause auf’s Klo.

Ich habe diesen Satz schon oft getestet. In Baden-Württemberg schaut man mich an wie ein Auto – oder treffender wie ein Daimler –, wenn ich ihn sage. Es ist ein Ja-wie-denn-sonst-Blick. Im Rest von Deutschland denkt man, das wäre ein schlechter Scherz. Meine Lektorin, die nicht aus Baden-Württemberg stammt, wollte diesen Satz sogar streichen, weil sie ihn irritierend absurd fand. Überall außerhalb von Baden-Württemberg ernte ich den Nein-so-sind-nicht-mal-die-Schwaben-Blick. Doch, so sind sie.

Ich fahre nicht irgendwo hin in Baden-Württemberg, sondern nach Hause. In ein kleines Dorf am Rande des Schwäbisch-Fränkischen Waldes. Wir haben zu Hause einen ganz schlimmen Dialekt. Man klingt in meiner Heimat wie ein Bauer. Ich habe Jahre gebraucht, mir das abzugewöhnen. Wenn ich mal zum Spaß in meinen Dialekt wechsle, werden die Leute außerhalb von Baden-Württemberg sofort aggressiv. Hm, das mit der Freiheit und dem gegenseitigen Respekt und der Anerkennung und der Wertschätzung könnte vielleicht doch ein weiterer Weg werden, als ich mir das zu Anfang ausgemalt habe.

In der S-Bahn sprechen sie von »Asylanten«. Oh je, dieser Begriff, ich dachte, den hätten wir überwunden. Fehlanzeige! Hier am Ende der zivilisierten Welt heißen Flüchtlinge noch wie in den 1990ern. Ich kann es den Leuten verzeihen. Hier ist alles wie in den 1990ern.

Abends beim Italiener treffe ich ein paar verzweigt Verwandte. Irgendwie kommt das Gespräch auf das Thema Kirchenaustritt. Die Großtante oder Schwippschwagertante oder wie auch immer man dieses Tanten-Verhältnis korrekt nennt, sagt daraufhin einen kurzen Satz: »Es gibt drei Dinge, zu denen man stehen muss. Seine Familie, seine Religion und sein Vaterland.«

Ich stimme keiner der drei Thesen zu. Wirklich keiner. Ich habe Freunde, deren Familien sich so unsäglich ihnen gegenüber benommen haben, dass sie zu Recht jeden Kontakt abgebrochen haben und sich ihre eigene Familie suchten. Eine eigene Familie ohne Verwandtschaftsverhältnis, aber mit emotionaler Nähe. Ich finde auch nicht, dass man zu Deutschland stehen muss. Warum auch? Ich finde, dass sich die Nation längst überlebt hat. Ich würde niemals eine Deutschland-Fahne schwenken. Auf meinem Balkon hängt statt Schwarz-Rot-Gold eine Pride-Flagge und die ist weit die Straße entlang zu sehen.

Und die Religionsfreiheit ist sogar ein Grundsatz unserer Verfassung. Die Freiheit, jede Religion zu wählen, die Freiheit, keine Religion zu haben, die Freiheit, seine Religion auszuüben. Warum muss man zu seiner Religion stehen, wenn man sie vielleicht nicht glaubt? Warum sollte man zu seiner Familie, seinem Vaterland oder zu seiner Religion stehen müssen, wenn man es nicht will?

In meinem Heimatdorf schließt man nachts jetzt die Haustüre ab. Das haben sie da nie getan. Ich frage warum. »Man weiß ja nicht, es ist ja unsicherer geworden«, lautet die Antwort. Belege und Begründungen gibt es dafür keine. Statistisch ist Baden-Württemberg so sicher wie eh und je. Als ob Räuberbanden den Schwäbisch-Fränkischen Wald finden würden. Schon in Stuttgart weiß keiner, wo das sein soll. Aber etwas hat sich verändert. Wenn nicht in der Realität, dann eben in den Köpfen.

Auch meine Eltern sagen »Asylanten« und Rechte sind die nun wirklich nicht. Sie haben tapfer ein Leben lang die SPD gewählt. Das Vaterland haben sie auch nie zum höchsten Gut erklärt. Ihre Gartenstühle haben sie für eine Flüchtlingsunterkunft im Dorf gespendet. Dennoch, auch sie schließen jetzt die Haustüre ab.

Insgesamt habe ich mir das mit dem liberalen Aufbruch anders vorgestellt. Eher als so eine Bewegung, in der wir von »Geflüchteten« sprechen und Integration als wechselseitigen Begriff verstehen. Bei mir im Dorf sagt man eher: »Wenn die hierherkommen, dann müssen die sich auch anpassen.« Wohlgemerkt, das sagen die Linken. Die anderen wollen die Asylanten am liebsten aus dem Vaterland werfen.

Weltoffenheit, der zentrale Begriff, mit dem sich Deutschland auferwecken lässt? Die Vision einer Gesellschaft, hinter der sich eine Masse sammeln kann? Welche Masse eigentlich? Freiheit, Weltoffenheit und Modernität sind Begriffe, auf die die FDP bei ihrer Wiederauferstehung setzte und die sie beflügelten. Immerhin fast elf Prozent holten die Liberalen mit dieser Idee. Ein Wahnsinnsergebnis – obwohl: Elf Prozent sind noch lange keine Mehrheit. Mit den Grünen dazu sind’s nicht mal zwanzig Prozent im Bundestag.

Wie viel Prozent sind denn aktuell für einen Aufbruch in Deutschland? Wo steht die Mitte unseres Landes? Will irgendjemand, was ich will?

Ich schaue Deutschlandtrend. Was soll man auch sonst machen auf dem Dorf? 89 Prozent der Deutschen finden, kulturelle Unterschiede seien ein Problem in unserem Land. 89 Prozent? Das wären ja fast alle und ich nur eine Minderheit.

Ich greife zum Telefonhörer. Bestimmt liegen die bei der ARD daneben. Zumindest hoffe ich das. Die besten Zahlen in Deutschland hat die Forschungsgruppe Wahlen. Ich rufe die Geschäftsführerin der Forschungsgruppe Yvonne Schroth an, die Woche für Woche die Zahlen für das ZDF-Politbarometer erhebt. Wir kennen uns schon lange. Ihre Antwort ist ernüchternd. Der Zug ist abgefahren. Die Mitte steht nicht mehr bei der Liberalität, sie will jetzt Ordnung um jeden Preis. Kulturelle Unterschiede halten die Leute auch bei der Forschungsgruppe Wahlen für ein Problem. Zwar nicht ganz so dramatisch wie in der ARD, aber trotzdem noch viel zu massiv. Ich könnte kotzen.

Mein nächster Anruf gilt Manfred Tautscher vom SINUS-Institut. Meinem ehemaligen Chef, der zu den Einstellungen von Milieus in der deutschen Gesellschaft forscht. Einer der besten Kenner der Mitte der Gesellschaft. Er sagt mir das Gleiche. Die Leute wollen was für sich, einen starken Staat, Sicherheit und Ordnung, speziell in unsicheren Zeiten. Freiheit ist einem Großteil der Mitte mittlerweile weitgehend egal. Auch ihm macht das zurzeit Angst.

Wir haben die Mitte verloren. Für unsere Demokratie ist das ein echtes Drama. Denn die Mitte definiert, wohin sich die gesamte Politik dreht. An der Mitte orientiert sich das Handeln der großen Parteien – und wenn es das nicht tut, dann werden aus großen Parteien eben kleine.

Mir gehen die Ideen aus, wen ich noch überzeugen sollte. »Hey, Sozialdemokratie, auf, kommt, lasst uns antreten gegen 89 Prozent der Deutschen.« Wahrlich eine schlechte Idee. Das wäre das Ende der SPD. Das weiß sie nur zu genau. Obwohl, wenn eine Idee geeignet ist, die SPD untergehen zu lassen, dann ist die doch eigentlich immer sofort dabei. Diesmal aber wohl eher nicht.

Der beste Trick in solchen Momenten ist, das Thema zu wechseln. Aber welches andere Thema fällt einem heute noch ein? Datenschutz – man denke nur an die europäische Datenschutzgrundverordnung zurück. Ja, das Thema war geeignet, Deutschland für den Moment komplett in eine Panik zu versetzen, die mit Ausländern ausnahmsweise nichts zu tun hatte, aber schon wenige Tage nach dem Inkrafttreten war der Weltuntergang durch Datenschutz schon wieder vorbei. Grundeinkommen? Reden viele drüber, will glaub ich in Wirklichkeit auch kein Mensch. Alle gehen...

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