Plötzlich war sie da, die Digitalisierung. Sie trat in mein Leben in Form eines klobigen, grauen Computers, den meine Eltern 1998 für unsere Familie gekauft hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt – ich war gerade zwölf Jahre alt geworden – hatte Technik in meiner Kindheit nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Ab und zu hörte ich Kassette, sah fern oder spielte mit meinem ferngesteuerten Auto. Im Urlaub durfte ich manchmal mit der Videokamera meines Vaters ein paar verwackelte Aufnahmen machen. Das einzige technische Gadget, das ich mir immer gewünscht hatte, war ein Bildtelefon, um meine 600 Kilometer entfernt lebende Großmutter beim Telefonieren sehen zu können.
Mit dem neuen Computer wusste ich anfangs nicht viel anzufangen, doch Internet, E-Mails und der Flugsimulator erwiesen sich schnell als interessanter Zeitvertreib. Als ich 13 Jahre alt war, bekam ich mein erstes Handy geschenkt, ein Nokia 3210. Mehrmals täglich checkte ich meinen SMS-Eingang und auf einmal spielte digitale Technik eine zentrale Rolle in meinem Leben. Mit 22 kaufte ich mir mein erstes Smartphone. Seitdem beantwortet mir Google innerhalb von Sekunden jede wichtige Alltagsfrage. Auch der Wunsch nach einem »Bildtelefon« wurde Realität. Meine Großmutter traute ihren Augen kaum, als auf dem Laptop plötzlich per Skype das Gesicht ihres Enkels aus dem Auslandssemester in Singapur erschien. Spätestens seit meinem Berufsstart dominierte ein digitales Gerät den Großteil meines Alltags.
In den letzten Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, wie die Digitalisierung, die nur 20 Jahre zuvor für mich völlig irrelevant war, mein Leben und unsere ganze Gesellschaft über die Zeit immer tiefgreifender geprägt hat. Dass dieser Trend sich noch weiter beschleunigt, faszinierte und beunruhigte mich zugleich. Je intensiver ich mich damit auseinandersetzte, desto geneigter war ich, mich einer scheinbar radikalen Meinung zahlreicher Digitalisierungsexperten und Zukunftsforscher anzuschließen: Der Fortschritt der Digitalisierung wird uns zeitnah mit der wohl größten zivilisatorischen Herausforderung konfrontieren, die es je zu bewältigen galt. Folgt man den progressiven Zukunftsprognosen, stehen wir menschheitsgeschichtlich nur einen Wimpernschlag vor dem Moment, in dem künstliche Intelligenz das bisherige Primat des Menschen als höchste Intelligenzform auf diesem Planeten ersetzt. Gleichzeitig führen Innovationen im Bereich der künstlichen Intelligenz, Genetik und Nanotechnologie unweigerlich dazu, dass Menschen sich künftig technisch »optimieren« können. In letzter Konsequenz könnten die Grenzen zwischen Mensch und Maschine tatsächlich verschwimmen – ein Szenario, das bis vor Kurzem im Reich der Science-Fiction angesiedelt war.
Falls Ihnen diese Gedanken zu weit hergeholt erscheinen, lassen wir an dieser Stelle die Aussagen von drei der weltweit einflussreichsten Köpfe für sich selbst sprechen. »Computer werden Menschen innerhalb der nächsten hundert Jahre mit künstlicher Intelligenz überholen«, sagt beispielsweise der berühmte Physiker Stephen Hawkings, und nennt dabei noch einen relativ weit gefassten Zeitrahmen.1 Sein Urteil zu dieser Entwicklung ist zwiespältig: Künstliche Intelligenz werde entweder »das Beste sein, das der Menschheit passieren kann. Oder das Schlechteste«.2 Der Visionär und Gründer von Tesla und Space X, Elon Musk, ist der Meinung, dass künstliche Intelligenz »das größte Risiko für unsere Zivilisation« sei. Die Menschheit müsste zudem ihre Fähigkeiten durch eine »Verschmelzung von biologischer und maschineller Intelligenz« erweitern, falls sie mit den Fähigkeiten künstlicher Intelligenzen mithalten wollte.3 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Elon Musks jüngst bekannt gegebenes Investment in die Firma Neuralink, die an der Technologie für Gehirn-Computer-Schnittstellen arbeitet. Der Chefingenieur von Google, Ray Kurzweil, geht in seinen Gedanken sogar noch einen Schritt weiter. Er behauptet, dass der technische Fortschritt sich in den nächsten drei Dekaden derart rasant entwickelt, dass nach dem Jahr 2045 »das menschliche Leben einen unwiderruflichen Wandel erfährt« und die Zukunft der Menschheit nicht mehr vorhersehbar ist.4
Natürlich gibt es auch moderatere Stimmen. Marc Zuckerberg glaubt zum Beispiel, dass künstliche Intelligenz menschliche Fähigkeiten nur in bestimmten Teilbereichen übertreffen wird. Darunter fallen Sinneswahrnehmungen wie Sehen und Hören oder die Spracherkennung. Er prognostiziert, dass es möglich sei, »in den nächsten fünf bis zehn Jahren an den Punkt zu kommen, an dem Computersysteme besser als Menschen in all diesen Fähigkeiten sind«. Die Furcht vor künstlicher Intelligenz hält er hingegen für »hysterisch«.5
Ich möchte Mark Zuckerberg mit allem Respekt entgegenhalten, dass die Furcht vor künstlicher Intelligenz keineswegs hysterisch ist. Zumindest eine ernsthafte Sorge ist angebracht, und zwar nicht nur vor künstlicher Intelligenz, sondern den Folgen der Digitalisierung im Allgemeinen. Wenn sich selbst die größten Experten nicht einig sind, wie viele Jahrzehnte der Mensch in seiner gegenwärtigen Daseinsform neben immer klügeren Maschinen eine vernünftige Lebensperspektive hat, sollte dann nicht jeder stutzig werden?
Als ich vermehrt begann, mit Bekannten über diese Fragen zu sprechen, erlangte ich zwei Erkenntnisse. Erstens: In Bezug auf digitale Zukunftstrends sind oft wenig mehr als Schlagworte und einige oberflächliche Fakten bekannt. Zweitens: Selbst wenn weitreichendere Kenntnisse vorhanden sind, erschwert ein mangelndes Verständnis technischer und konzeptioneller Grundlagen die Diskussion. Von diesem mangelnden Verständnis möchte ich mich selbst nicht ausschließen, im Gegenteil. Je mehr ich versuchte, eine ganzheitliche Perspektive auf das Thema Digitalisierung zu gewinnen, desto mehr Lücken entdeckte ich in meinem Grundwissen. Um diese persönlichen Beobachtungen einmal zu verallgemeinern, möchte ich die Behauptung aufstellen, dass sich das gesellschaftliche Verständnis von Digitalisierung grob in vier Personengruppen widerspiegelt:
- Die erste Gruppe sind die »Verweigerer«. Ich denke hier zum Beispiel an meine Großmutter, Jahrgang 1920. Sie hat niemals Ambitionen gehegt, die Welt des Internet und der Smartphones für sich zu erschließen.
- Die zweite Gruppe sind die »Neuland-Entdecker«, um Angela Merkels berühmte Aussage aus dem Jahr 2013 aufzugreifen, dass das Internet »für uns alle Neuland« sei.6 Zu dieser Gruppe würde ich beispielsweise meine Eltern zählen. Sie haben den Schritt in die digitale Welt gewagt und nutzen digitale Hilfsmittel im Alltag. Wenn Geräte aber nicht wie erwartet funktionieren, benötigen sie schnell Hilfe.
- Die dritte Personengruppe sind die »Digital-Affinen«. Sie setzen sich privat oder beruflich mit manchen Digitalthemen intensiv auseinander und würden das Internet daher sicher nicht als »Neuland« bezeichnen. Doch auch sie sind über einige Digitalthemen nur oberflächlich informiert. Die meisten der sogenannten Digital Natives zählen zur digital-affinen Personengruppe, also Menschen, die seit 1980 geboren wurden und bereits früh in ihrer Jugendzeit mit der Digitalisierung in Kontakt gekommen sind. Natürlich gibt es auch aus den vorherigen Generationen viele Menschen, die digital versiert sind.
- Schließlich gibt es noch die relativ kleine Gruppe der »Digital-Experten« und »Nerds«, die sich extrem gut im »Neuland« auskennen. Die Digitalisierung ist ihr Leben oder zumindest ihr Beruf. Sie arbeiten in der Start-up-Welt und den Innovationsabteilungen großer Unternehmen. Ihre Vorbilder sind die Vordenker, Erfinder und Konzernlenker aus dem Silicon Valley.
Es dürfte niemanden überraschen, dass der Kreis von Experten aus der vierten Gruppe mit seinen Unternehmungen und Entscheidun gen unsere Gesellschaft immer stärker prägt. Ihr Handeln hat bereits heute fundamentale Implikationen für unseren Alltag – und mehr noch in unserer Zukunft. Daraus sollten wir folgende Schlussfolgerung ziehen: Niemand darf sich beim Thema Digitalisierung abhängen lassen, der mit offenen Augen in die eigene Zukunft blicken und das Zepter der Zukunftsgestaltung nicht an einen kleinen Kreis von Digitalisierungsexperten abgeben möchte. Niemand darf sich beim Thema Digitalisierung abhängen lassen, der unsere Gesellschaft als Bürger und Wähler, als Angestellter oder Unternehmer dauerhaft mitgestalten möchte. Dabei ist es nicht notwendig, dass jeder selbst Experte wird. Ein guter Anfang ist es, sich ein umfassendes Grundlagenverständnis von Digitalisierung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung anzueignen. Ein solches Vorhaben kostet Zeit – zu viel Zeit meiner Meinung nach.
Es gibt viele großartige Bücher über Digitalisierung, aber tatsächlich haben weder die Buchhandlung um die Ecke noch Amazon mir mit einem einzelnen Buch weiterhelfen können, das den gesamten Themenkomplex umreißt. Daher habe ich selbst den Versuch gewagt, dieses Buch zu schreiben und die 50 wichtigsten Aspekte der Digitalisierung jeweils auf wenigen Seiten zu erläutern. Als potenziellen Leser hatte ich dabei vor allem Menschen aus dem oben beschriebenen zweiten und dritten Personenkreis vor Augen – also Personen, die weder digitaler Laie noch Digitalexperte sind.
Vielleicht fragen Sie sich, warum gerade ich ein solches Buch schreibe. Ich bin weder Journalist noch selbsterklärter Digitalisierungsguru; doch durch meine frühere Tätigkeit als Unternehmensberater und durch den Aufbau eines digitalen Start-ups habe ich mit verschiedenen Digitalthemen einschlägige Erfahrungen gemacht, auf denen ich bei der Recherche für dieses Buch aufbauen konnte. Ich möchte vor diesem Hintergrund...