2. Typologie der Staaten Europas
Da die Thematik der Nationalstaatsbildung im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, muss zunächst geklärt werden, was überhaupt ein Nationalstaat ist. Der Nationalstaat sei „die weltliche Machtorganisation der Nation“[1], so Max Weber. Im Nationalstaat will das Staatsvolk nicht mehr einfach die Summe aller Angehörigen eines Staates sein. Das Volk ist vielmehr eins mit der Nation, die sich nicht nur als kulturelle, sondern auch als politische Gemeinschaft sieht. Die Volksnation erhebt den Anspruch, sich in ihrem eigenen Staat selbst zu verwirklichen und zu entfalten. Im Nationalstaat ist sie frei, sich selbst zu regieren, und sie ist frei von jeder fremden Herrschaft.
Dass die deutsche Entwicklung eine ganz besondere Rolle in der europäischen Nationalstaatsgenese einnimmt, wurde bereits erwähnt. Dies hat der Historiker Theodor Schieder in seinem Beitrag „Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa“[2] herausarbeitet. Er versuchte Ähnlichkeiten in den nationalstaatlichen Entwicklungen aller europäischer Staaten zu entdecken und die verschiedenen Typen zu ordnen und zu strukturieren. Dabei hat er Europa, was die Entstehung seiner Nationen betrifft, in drei unterschiedliche Regionen eingeteilt:
1. Die Staaten West- und Nordeuropas (integrierender Typus)
2. Die Staaten Mitteleuropas (unifizierender Typus)
3. Die Staaten Osteuropas (sezessionistischer Typus)
Zum integrierenden Typus der Nationalstaaten gehören die Königreiche West- und Nordeuropas (Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, die Niederlande und Schweden). In diesen entfaltete sich die Staatsnation frühzeitig im Zusammenhang mit der kulturellen Integration. In all diesen Königreichen „gab es seit langem gefestigte, in sich nicht nur politisch-administrativ, sondern auch kulturell geeinte Staatswesen, deren Herrschaftseliten sich bereits seit Jahrhunderten als „Nationen“ verstanden hatten“[3]. Auf harmonische Weise verband sich die Idee der Staats- mit der der Kulturnation. Betrachtet man beispielsweise die Verhältnisse im britischen Königreich fällt auf, dass es dort recht früh zu nationalstaatlichen Verhältnissen gekommen ist. Der Liberalismus war für die verfassungsrechtliche Entwicklung Englands von entscheidender Bedeutung und gipfelte im Jahre 1689 in der „Bill of Rights“.
Exkurs: Liberalismus
Alle liberalen Bewegungen auf dem europäischen Kontinent finden ihren Ursprung in der englischen „Bill of Rights“ von 1689, dem englischen Staatsgrundgesetz, in der erstmals die Rechte des englischen Parlaments gegenüber der Monarchie festgeschrieben wurden. Die „Glorious Revolution“ stand ganz im Zeichen der Aufklärung. Die „Bill of Rights“ gilt als eines der grundlegenden Dokumente des Parlamentarismus und hatte maßgeblichen Einfluss auf die amerikanischen und französischen Erklärungen der Menschenrechte von 1776 bzw. 1789. Der Liberalismus bezeichnet eine weltanschauliche Richtung, in der der einzelne Mensch und sein Recht auf Freiheit im Vordergrund stehen[4]. Er entwickelte sich zeitgleich mit der Aufklärung als politische Gegenbewegung zum Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Während der Liberalismus die politische Szene in England und den USA während des 18. und 19. Jahrhunderts fast vollkommen beherrschte, hatte er in den kontinentaleuropäischen Ländern bis zur Französischen Revolution weit weniger Einfluss.
Die Errungenschaften der „Glorious Revolution“ sollte in den folgenden Jahrzehnten eine enorme Wirkung auf die nationalen Entwicklungen vieler nord- und westeuropäischen Monarchien haben.
Der moderne Nationalstaat bildete sich also in den inneren Umwälzungen der Glorious Revolution in England 1688 und der Großen Revolution in Frankreich von 1789 durch innerstaatliche Revolutionen. In diesen Umwälzungen gründete die „Gemeinschaft der Bürger einen bereits bestehenden Staat auf bestimmte politische Werte“[5] neu. Der Volkswille wurde zum politischen Element und definierte die Nation als Willensgemeinschaft. Auf diese Weise verwandelten sich die „Adelsnationen“ West- und Nordeuropas in „Volksnationen“.
Es darf in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben, dass diesen Nationalstaaten auf ihrem Entwicklungsweg das blutige Geschäft der Zentralisierung von Staatlichkeit durch Unterwerfung von Herrschaftskonkurrenten von ihren Vorgängern abgenommen wurde. Ernest Renan hat dies für Frankreich in seinem Vortag „Qu’est-ce qu’une nation?“ (Was ist eine Nation?) von 1882 beschrieben: „Die Vereinigung vollzieht sich immer auf brutale Weise. Die Vereinigung von Nord- und Südfrankreich beispielsweise ist das Ergebnis von fast einem Jahrhundert Ausrottung und Terror gewesen“[6]. Die Revolutionäre von 1789 konnten aus diesem Erbe des absolutistischen Staates einen Nationalstaat formen. Dies war in den beiden anderen Typen, dem unifizierenden und dem sezessionistischen Typus, nicht möglich.
In Mitteleuropa gehört neben dem Alten Reich das zersplitterte Italien dem unifizierenden Typus an. Auch in Italien gab es eine starke politische Zersplitterung und daher viele kulturelle Zentren. „La Patria“, das Vaterland war für die meisten Italiener die Vaterstadt und deren Umland. Ähnlich wie Deutschland war Italien eine Kulturnation, „fern von jeder gesamtstaatlichen Gestalt“[7]. Allerdings gab es neben den vielen Gemeinsamkeiten auch tiefe Unterschiedlichkeiten zwischen Deutschland und Italien. Mit Rom gab es einen ständig vorhandenen, zumindest spirituellen Mittelpunkt Italiens. Neben klaren Umrissen war Italien ein konfessionell geeintes Land. Außerdem waren viele italienische Territorien von fremden Mächten okkupiert. Deutsche, Spanier und Franzosen herrschten von Mailand bis Neapel. Dass die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Italien überwiegen, wird besonders deutlich, wenn man den mitteleuropäischen Streifen zwischen Jütland und Sizilien mit West- und Nordeuropa vergleicht, wo die Verbindung von Staats- und Kulturnationen frühzeitig triumphierte.
Auch die Staaten Osteuropas zeigten am Ende des 18. Jahrhunderts typische Strukturen: Es dominieren die transnationalen Großreiche wie die Habsburger Monarchie, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich. Später reihte sich mit Preußen ein weiterer Staat in diese Riege ein. Deutsche, Russen und Türken beherrschten eine „Vielzahl potentieller Nationalkulturen“[8]. Individualrechte wurden den nationalen Minderheiten nicht zugestanden, denn große Reiche erforderten laut Montesquieu eine despotische Autorität[9], deren rasche Beschlüsse die weiten Entfernungen auszugleichen hätten, wohingegen die kleinteilige Vielfalt Westeuropas keine unumschränkte Machte ertrage würde. Das politische Bewusstsein nationaler Bewegungen in diesen Großreichen wurde nicht im und am Staat entwickelt, sondern „durch die Gegnerschaft gegen den bestehenden Staat geprägt“[10]. Die Nationalstaaten des sezessionistischen Typus bildeten sich überwiegend erst im 20. Jahrhundert, als sich die Großreiche Österreich-Ungarn und die Sowjetunion auflösten.
Die beiden letzten Typen haben eine Gemeinsamkeit: Unifikation und Sezession gelang, von sehr wenigen Ausnahmen mal abgesehen, stets nur durch Krieg[11]. Hier wurde im Akt der Nationalstaatsgründung an Vereinigungs- oder Sezessionsgewalt nachgeholt, was im westeuropäischen Transformationstypus dem Nationalstaat vorausgegangen war.
Europa bestand also, was die Entstehung seiner Nationen anging, aus drei sehr unterschiedlich gestalteten Regionen, die mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in das Zeitalter der weltgeschichtlichen Umwälzungen eintraten. Die nationalstaatliche Entwicklung begann im Westen und endete erst im 20 Jahrhundert im Osten Europas. Sicherlich ist diese Einteilung nicht gänzlich auf jeden Staat anwendbar, denn wie so oft betätigen Ausnahmen die Regel. Außerdem fehlt einer systematischen Zuordnung häufig die letzte Präzision. Vielfach überschneiden sich Phasen und immer wieder gibt es Staaten, die sich keinem System zuordnen lassen. Man sollte also nicht in jedem Einzelfall auf diese Einteilung bestehen.
Die Typologie von Schieder stellt in dieser Arbeit die Grundlage dar, die deutsche Nationalstaatsbildung als mitteleuropäische Erscheinungsform einem europäischen Vergleich zu unterziehen. Frankreich als typische Volks- bzw. Willensnation soll beispielhaft den west-, bzw. den nordeuropäischen, Polen als lange Zeit von vielen Mächten regierter Staat den osteuropäischen Typus repräsentieren. Um die Nationalstaatsbildung dieser Staaten hinreichend vergleichen zu können, soll zunächst die nationale Entwicklung...