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Die Erzählungen von Alexander Kluge

Grundstrukturen und thematische Schwerpunkte des Klugschen Erzählwerkes am Beispiel des Erzählkomplexes 'Die Ostertage 1971'

AutorAntje Hellmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl101 Seiten
ISBN9783638514620
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,3, Friedrich-Schiller-Universität Jena (Germanistische Literaturwissenschaft), 37 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Drei dicke Bände mit einem Gewicht von schätzungsweise drei Kilo vereinen das erzählerische Gesamtwerk von Alexander Kluge. Im Jahr 2000 erschien die Chronik der Gefühle mit den zwei Bänden Basisgeschichten und Lebensläufe,die sowohl die teilweise überarbeiteten Erzählungen aus den 60er-, 70er- und 80er- Jahren als auch zahlreiche neue enthalten, die in den 90ern vor allem unter dem Eindruck der Wende und dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind. Kluge betrachtet alle diese Geschichten als eine Einheit. 2003 veröffentlichte er weitere 500 Erzählungen unter dem GesamttitelDie Lücke, die der Teufel läßt. Im Vorwort schreibt er, dass damit 'die SUCHE NACH ORIENTIERUNG' fortgesetzt wird, aber unter einem neuen Erzählinteresse. Während in derChronik der Gefühle'die subjektive Seite, d.h. das menschliche Gefühl und die Zeit' eine Rolle spielten, und es darum ging, 'die Lücken zu finden, in denen sich Leben bewegt', tritt in dem neuen Erzählband 'die Geisterwelt der objektiven Tatsachen' stärker in den Vordergrund. In Kluges Geschichten wird die Frage verhandelt, welchen Anteil subjektive Gefühle und objektive Tatsachen an der Konstitution der Welt, an der Vorstellung von Realität und Wahrheit haben. Schon die frühen Geschichten von Kluge beschäftigen sich mit der Welt der Tatsachen, und meistens erscheint diese als übermächtig. Die Erzählungen von 1973, die unter dem Titel Lernprozesse mit tödlichen Ausgang erstmalig veröffentlicht wurden, bezeichnet Wilhelm Heinrich Pott als 'durchweg melancholisch'. Ähnlich wie auch schon in dem 1962 erschienenen ErzählbandLebensläufe wird über die Menschen in der Bundesrepublik, im prosperierenden Nachkriegsdeutschland mit einer 'seismographische[n] Empfindlichkeit für die Regungen des Alltags' berichtet. Kluge, dem es darum geht, Zusammenhänge in der Gesellschaft sichtbar zu machen, wendet sich in einer Spektralanalyse allen sozialen Schichten und Generationen zu. Insbesondere interessieren ihn die gehobenen Mittelschichten; Ingenieure, Offiziere, Juristen, Ärzte, Philologen, generell Wissenschaftler. Ins Blickfeld geraten aber auch Arbeiter, Hausfrauen, Verkäuferinnen sowie diverse Vertreter der Unterwelt, Kriminelle, Zuhälter und Prostituierte. Es sind keine Erfolgsgeschichten. Das Leben der Menschen ist seltsam gefangen. [...]

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Leseprobe

3. Grundlegende erzähltechnische Mittel


 


3.1 Das Paradigmatische Erzählen am Beispiel von Pförtls Reise


 

Das Geschichtenerzählen ist für Kluge ein Mittel, seine theoretischen Gedanken zu veranschaulichen: „Kluge personalisiert eine abstrakte Erkenntnis, um sie einem Publikum aus ’Nicht-Theoretikern’ zu vermitteln“[56]. Dahinter steht ein konkreter Erzählansatz, wie Bosse mit einem Zitat aus Öffentlichkeit und Erfahrung belegt:

 

Es ist durchaus denkbar, daß sich Theorie und vermittelte Erfahrung überhaupt nur dann auf Nicht-Theoretiker übertragen lassen, wenn sie sich durch eine Person, und zwar durch deren Verhalten, Gesten, persönliche Integrität ausdrückt. Vermittelte Erfahrung muß unmittelbar nachgeahmt und nicht nur als Gedanke und Ergebnis angenommen werden können.“[57]     

 

Lewandowski bewertet den Erzählband Lernprozesse mit tödlichem Ausgang als „ästhetisches Gegenstück“[58] zu Öffentlichkeit und Erfahrung. Kluge nutzt mit seinen Geschichten die Möglichkeit, „Wissenschaftliches, Erfahrungen, Ideologie nicht nur abstrakt rational zu formulieren, wie es die Sozialwissenschaften tun, sondern sie ästhetisch, sinnlich zu fassen.“[59] So werden die von Kluge und Negt analysierten „Funktionsprinzipien der kapitalistischen Gesellschaft“ anhand von „Modellfällen und Parabeln“ im Erzählband Lernprozesse mit tödlichem Ausgang anschaulich illustriert.[60]

 

Die Beobachtung der Protagonisten gleicht einer Reagenzglassituation. Guntram Vogt versteht unter dem Begriff „Lernprozesse“ bei Kluge ein „Kräfte-Spiel“, das dieser in seinen Texten sichtbar macht. Die „Texte reagieren auf Prozesse, in denen sich menschliche Kräfte sammeln und verausgaben“ auf eine Weise, „dass jeder einzelne Vorgang als Spiel-Zug erkennbar wird.“[61] Was Vogt unter „Spiel-Zug“ versteht, bezeichnet Wolfram Schütte als „Planspiele mit der Phantasie“[62]. Er meint man könne Kluges Erzählungen auch als „Verhaltensforschungen, experimentelle Gedankenspiele“ lesen.[63] Schütte erkennt darin auch Parallelen zur juristischen Arbeitsweise, die dem Juristen Kluge nicht fremd sein dürfte: das genaue Fassen des „Falls“ und das Sammeln der Argumente und Gegenargumente. Dieser „Zug zum Planspiel“ dient der „Erprobung von Denkformen und Denkbewegungen samt deren widersprüchlicher, systematischer Ausbreitung“.[64]

 

Dieser Erzählansatz hat Auswirkungen auf die Darstellung der Protagonisten. „Es gibt bei Kluge weder detaillierte Personenbeschreibungen – er begnügt sich mit Hinweisen auf Augen, Mund, Hände oder ein besonders auffallendes Merkmal, nie sehen wir den ganzen Menschen – noch gibt es Beschreibungen der Landschaften und Städte, in denen sich die Personen bewegen“[65]. Die Figuren werden nicht individualisiert. Sie stehen beispielhaft für mittlerweile übliche Verhaltensweisen. Die Geschichten dienen vielmehr als Exemplum und zeichnen ein Gesellschaftsbild.

 

So gibt es in Die Ostertage 1971 kaum äußerliche Beschreibungen über die Protagonisten, und wenn, dann fokussiert auf ausgewählte Körperteile (Gesicht und Haare bei Steffie Haseloff, die Hand beim Chemiker Dralle, die Haare von Mutzlaff).

 

Pförtls Reise beschreibt beispielsweise den typischen Italienkurlauber. Pförtl ist gemeinsam mit seiner Freundin Hella unterwegs. Ihr Aussehen wird nicht erwähnt, trotzdem entwickelt man aufgrund des beschriebenen Reiseablaufes eine Vorstellung von ihnen. Die Reise beginnen sie mit einer Kampfeinstellung: „Sie müssen durchkommen, ehe der volle Osterverkehr einsetzt.“[66] Unterwegs trinken sie Kaffee, „um sich fahrtüchtig zu halten“[67]. Die Pförtls sind unentspannt und hektisch. Das Bild, was entsteht, korrespondiert mit den Bildern der Fernsehberichterstattung über Reisewellen und Verkehrsstaus. In Italien angekommen, setzt nicht etwa die Phase der Erholung ein. Sie haben es bis zur Küste geschafft, wollen baden, „trotz der Kälte des Wassers ist das möglich. Sie werden aber von Bademeistern angeschrien, weil man hier nicht baden darf.“[68] Über das Reiseland erfährt man wenig. Die aufgeführten Reisestationen Brenner, Apenninenkamm, Viareggio, Küstenstraße sind nur Orientierungspunkte der Fahrroute. Die Pförtls selbst besitzen offenbar auch keine konkretere Vorstellung von Italien. Es ist für sie ein Badeland, denn Baden ist das einzig erkennbare Ziel ihrer Reise gewesen. Der weitere Aufenthalt in Italien wirkt unkoordiniert und improvisiert. „Sie haben in dieser Gegend keine Bekannten und fahren weiter noch nach Florenz, wo man aber Ostersonntag nichts Interessantes kaufen kann.“[69] Warum sollten die Pförtls Bekannte besuchen wollen? Weil sie mit Reisen außer Baden und Einkaufen nur noch diesen Aspekt verbinden? An Kultur und Geschichte (Florenz!) sind die Pförtls demnach nicht interessiert. Erst auf dem Heimweg gewinnen sie organisatorisch wieder den Überblick: „Schlauerweise durchfahren sie diesmal die Brennerstrecke in der Nacht von Sonntag auf Ostermontag.“[70] Das Ziel besteht jetzt darin, vor den anderen wieder zu Hause anzukommen, um sich am Ostermontag von der anstrengenden Reise auszuruhen, denn „sie müssen Dienstag früh fit sein.“[71]

 

Man kann das Verhalten der Pförtls jedoch nicht als einen ungewöhnlichen Einzelfall betrachten vor dem Hintergrund, dass mit ihnen gleichzeitig viele andere in den Süden reisen: „Die Fernstraßen sind verstopft.“[72] Und ein bisschen von Pförtls Reise, so muss man vermuten, ist immer dabei, und sei es nur das Kaffeetrinken, um durchzuhalten. Obwohl sich die Pförtls mit ihrer Taktik des Früherlosfahrens und Früherankommens von der Masse der Reisenden abzuheben scheinen, gewissermaßen schneller sein wollen als die anderen, handeln sie durchaus repräsentativ, sind ein Beispiel unter vielen.

 

3.2 Perspektivwechsel, Parodie, Komik und Ironie


 

Kluges Erzählweise, schreibt Voigt, sei „nicht mit den herkömmlichen Charakterisierungen – auktorial, personal etc. – allein zu ’fassen’; eher gleicht er ebenso oft einem ‚grundsätzlichen’ Erzähler, weil er an die Wurzeln, an den Kern der Erscheinungen geht.“[73] In Die Ostertage 1971 berichtet überwiegend ein distanzierter Erzähler, der außerhalb des Geschehens steht, meist in nüchterner, sachlicher Weise über die Handlungen der Protagonisten. Es finden sich Vorausdeutungen, „Eine falsche Wahl, und schon ist für Schmidt der Nachmittag vertan.“[74], Reflexionen und Bewertungen, die für einen auktorialen Erzähler sprechen.

 

Obgleich die auktoriale Erzählsituation vorwiegend anzutreffen ist, gibt es (ganz abgesehen davon, dass die auktoriale Erzählform innerhalb einer Geschichte oft durch Dialog, Monolog, Interview durchbrochen wird)[75] auch Geschichten, die durchgängig, in Dialog-, Monolog-, oder Interviewform oder als Ich-Erzählungen gestaltet sind, beispielsweise Für meine Trauerarbeit möchte ich bezahlt werden[76], wo jemand in der Ich-Form berichtet, dass ein Blumenladen geschlossen, oder ein zweites Beispiel: in Wir putschten mit Zahlen, berichtet ein Mitarbeiter des „VEB Zentrales Rechnungswesen“[77] überwiegend in der DDR-typischen „Wir-Form“ über die Vorgänge während der Wendezeit.  

 

Betrachtet man die Erzählungen Kluges im Ganzen, dann ist eines besonders auffällig: Kluge erzählt nie von seinen eigenen persönlichen Erfahrungen und Gefühlen. Lindner bezeichnet ihn deshalb sogar als einen „Bauchredner“[78]: „Kluge läßt Menschen auftreten, die in imitierten Sprachen reden, es ist ein imitiertes dokumentarisches Sprechen und insofern auch ein anonymes.“[79] Drews führt dazu an:

 

„Kluges künstlerisches Arbeitsinstrument ist nicht mehr seine ’Persönlichkeit’, in der – als einem eine unverwechselbare Weltsicht verbürgendem Medium – sich Wirklichkeit bräche und in deren Sprache Welt zum Vorschein käme, abgerundet ’gestaltet’, von einem personalen Zentrum aus organisiert.“[80]

 

Kluge stellt seine Protagonisten häufig aus unterschiedlichen, abrupt wechselnden Perspektiven dar.[81] So geht beispielsweise die Außenperspektive des Erzählers ganz unvermittelt über in die Innenperspektive der Protagonisten: „Er ist vollgegessen, aber alles andere als zufrieden.“[82] Es gibt in Kluges Geschichten Sätze, „die die beschriebene Figur im Sprachgestus nachzeichnet“[83]. Oft fällt das dadurch auf, weil die vom Erzähler ausgeführten Begründungen für bestimmte Handlungen doch sehr komisch wirken.

 

Allein in Die Ostertage 1971 sind dafür zahlreiche Beispiele zu finden. Bei Pförtls Reise übernimmt der Erzähler stellenweise einen Erzählgestus, der dem Charaktertypus der beschriebenen Personen entspricht und deren Handlungslogik widerspiegelt, wenn er beispielsweise die Richtigkeit ihrer Entscheidung zur frühzeitigen Rückfahrt begründet mit: „Es ist doch wesentlich weniger Verkehr als...

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