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Die fremde Stadt

Breslau nach 1945

AutorGregor Thum
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783641033873
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine deutsche Stadt wird polnisch.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde aus Breslau, der damals größten deutschen Stadt östlich von Berlin, Wroclaw, eine Stadt im westlichen Polen. Für Militärs und Diplomaten ein Federstrich, bedeutete es für die Menschen vor Ort einen dramatischen Bruch, der das Leben Breslaus bis heute bestimmt. Eindrucksvoll schildert Gregor Thum diesen Prozess von Vertreibung und Ansiedlung, Zerstörung und Aufbau, Verdrängung und Erinnerung. Wer einen Ort sucht, an dem sich das Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn in dieser Stadt.


Gregor Thum, 1967 in München geboren, studierte Geschichte und Slavistik in Berlin und Moskau. Er war von 1995 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. Heute lehrt er Geschichte an der University of Pittsburgh in den USA.
Sein Buch 'Die fremde Stadt' (2003) wurde sowohl mit dem Europa Sonderpreis des VBKI (Verband der Berliner Kaufleute und Industriellen) als auch mit dem Georg Dehio-Buchpreis 2004 ausgezeichnet.

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Leseprobe
Prolog Die doppelte Tragödie
Was für Wien das Fin de siècle und für Berlin die Goldenen Zwanziger – das ist das 16. Jahrhundert für Breslau. Damals war die Stadt an der Oder eine der größten und bedeutendsten Städte Europas, eine glänzende Handelsmetropole genau dort, wo sich zwei der wichtigsten europäischen Fernhandelswege kreuzten – die Bernsteinstraße von der Ostsee in den Donauraum und weiter bis zur Adria sowie die Hohe Straße, die von der Rheinmündung an der Nordsee bis zum Schwarzen Meer oder weiter auf der Seidenstraße bis nach China führte. Breslau war ein wichtiger Punkt im Netz der Metropolen. Von Breslau aus führten die Wege nach Thorn, Danzig und Königsberg im Norden, nach Krakau, Lemberg und Kiew im Osten, nach Prag, Wien, Nürnberg, Augsburg, Mailand, Genua und Venedig im Süden, nach Leipzig, Frankfurt am Main, Köln, Brügge und Antwerpen im Westen. Auf Breslaus großen Marktplätzen und in den ausgedehnten Tuchhallen kamen die Kaufleute aus dem ganzen Reich, aus Polen-Litauen und aus Russland zusammen, um ihre Waren umzuschlagen und neue Geschäfte abzuschlie ßen. Breslau war durch dieses Treiben reich und mächtig geworden und zu einer imposanten Stadt herangewachsen. Eine weiträumige städtebauliche Anlage, prachtvolle Patrizierhäuser, ein gewaltiges Rathaus und monumentale Kirchen, deren Türme schon von weitem den Stolz der Stadt verkündeten, prägten das Antlitz dieser mitteleuropäischen Metropole.
Doch dieser Glanz sollte nicht von Dauer sein. Er verblich in dem Maße, wie sich im Laufe des 17. Jahrhunderts durch den Aufstieg der Niederlande und Englands die Gewichte im europäischen Wirtschaftsleben nach Norden und Westen verschoben. Der Raum zwischen Prag und Krakau, Breslau und Danzig, der im Spätmittelalter im Zentrum Europas gelegen hatte, wurde zur Peripherie. Im Zuge dieser Entwicklung begann Breslaus Stern zu sinken. Die Stadt fiel in der Hierarchie der europäischen Städte, in der sie lange ganz oben gestanden hatte, nach und nach zurück. Zwei Jahrhunderte später, als die Metropolen Wien und Berlin ihre große Zeit erlebten, war Breslau nur noch eine mittlere Großstadt. Zwar hatte die Bevölkerungsexplosion des 19. Jahrhunderts auch ihre Einwohnerzahl binnen weniger Jahrzehnte vervielfacht und die Stadt weit über ihre alten Grenzen hinaus ins Umland wachsen lassen. Breslau war zu einer modernen Großstadt geworden, besaß eine ansehnliche Industrie und hatte als Handelsplatz noch immer einen Namen, verfügte über bedeutende Bildungs- und Forschungseinrichtungen und war ein Knotenpunkt im sich verdichtenden europäischen Eisenbahnnetz. Aber die urbanen Zentren in den aufstrebenden Industrieregionen des Rheinlandes sowie in Sachsen begannen eines um das andere die Stadt an der Oder an Einwohnerzahl zu überflügeln. Wenn Breslau am Beginn des 20. Jahrhunderts auch immer noch die größte deutsche Stadt östlich von Berlin war, so sagte man ihr doch eine gewisse Provinzialität und Rückständigkeit nach. Das damals kursierende Sprichwort, der echte Berliner komme aus Breslau, verrät nicht nur etwas über Berlin. In ihm spiegelt sich auch wider, dass Breslau zu einer Stadt geworden war, die ihre ehrgeizigen und talentierten Bürger oft nicht halten konnte. So sind zwar viele berühmte Persönlichkeiten in Breslau aufgewachsen oder haben dort Stationen ihres Lebens verbracht, doch die allerwenigsten von ihnen sind dort auch begraben worden.
Breslau verfügtüber eine der eindrucksvollstenAltstädteMitteleuropas. Auf diesem Luftbild von 1934 ist der noch unversehrteRing mit dem Rathaus und den einstigen Tuchhallen zu sehen, dahinterdie Türme der Maria-Magadalena- Kirche.
Dennoch ist Breslau eine der Städte des 20. Jahrhunderts. Wer einen einzigen Ort sucht, an dem sich das ganze Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn in dieser Stadt. Breslau ist das Prisma, durch das sich Europas Selbstzerstörung erkennen lässt: Nationalismus und Provinzialisierung, Xenophobie und Antisemitismus, die Zerstörungswut des Zweiten Weltkrieges, die Germanisierungsphantasien des Dritten Reiches und die Ermordung der europäischen Juden, der totale Zusammenbruch von 1945, die Verschiebung der Staatsgrenzen in Mitteleuropa und die Zwangsumsiedlungen, schließlich die Spaltung des Kontinents im Kalten Krieg und die geistige Erstarrung im Ost-West-Gegensatz. Breslau befand sich stets im Zentrum dieses Geschehens. Im Jahr 1945 erfuhr Breslau einen Bruch, den man sich dramatischer kaum vorstellen kann. In den letzten Kriegswochen wurde die Stadt, die eine der schönsten Europas war, in ein Trümmerfeld verwandelt und anschließend, weil die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beschlossen hatten, dass Breslau polnisch wird, einem vollständigen Bevölkerungsaustausch unterworfen. In nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche Einwohnerschaft nach Westen transferiert und durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt. Friedrich Otto Jerrig hat das Ungeheure dieses Vorgangs 1949 in Worte zu fassen versucht:
Es ist, als habe ein Erdrutsch stattgefunden. Ein Erdrutsch des Bodens, auf dem Breslau durch die Jahrhunderte das geworden ist, was es seinen Menschen war, ehe »damals« das Inferno ausbrach. Mit der Wucht eines Naturereignisses hat sich eine politische Umwandlung vollzogen, in der sechshunderttausend Breslauer ihre Vaterstadt verloren. Das ist ein Erdrutsch! Umso mehr, als gleichsam in diesem Erdrutsch Breslaus deutsche Note zerbarst. Sie wurde zerschlagen, ausgetrieben von dem, was irgendwie spürbar noch, aber ohne tonangebende Bedeutung, im Untergrunde geschlummert hatte – der einst slawischen Grundlage einer reich bewegten Vergangenheit, bevor das Deutsche, das Ostdeutsch-Schlesische mit Breslau identisch wurde. An der Grenze nach Osten hin, wo sich über Hundsfeld nach Oels und Namslau zu, wo sich jenseits Ohlau und Oppeln Polens Grenzen erhoben, konnte man den Schritt spüren von Mitteleuropa in den Osten, in das Land zwischen Europa und der Weite Vor-Asiens. Das hat den Horizont über der Stadt gezeichnet. Und in ihrem Untergrund ahnte man Dinge der Vergangenheit. Sie waren begraben. Dass sie auferstehen würden, war nicht zu ermessen. Die Möglichkeit schreckte die Menschen nicht, sie sahen ihr furchtlos ins Gesicht. Breslau war ebenso sehr Stadt zwischen Traum und Tatsache, wie es Frage an seine Vergangenheit und an seine Zukunft war.
Als der Boden aufbrach, der die große Grenzstadt mit all ihren Spannungen und Gleichungen trug, als die verdämmernde Möglichkeit einer längst versunken geglaubten Vergangenheit Wahrheit wurde, war das, als revoltiere ein unwilliges Ursprüngliches gegen Unachtsamkeit und Unbewusstheit, die in Jahrhunderten darüber eine hastlebige Großstadt aufgebaut hatten. Das ist so, als sei es deshalb geschehen, weil man in den letztvergangenen Jahren nicht genug bedacht hatte, dass die Stadt an der Oder mehr Brücke ist zu den Ländern im Osten, nicht so sehr Trutzburg und Mittelpunkt nationaler Versteifung gegen das, auf dem sie einst selbst emporgewachsen ist.1
Es lag im Ermessensspielraum einzelner militärischer Führer, und Breslau hätte zu den wenigen Großstädten in Europa gehört, die den Zweiten Weltkrieg äußerlich unversehrt überstanden. Auch dass Breslau heute eine Stadt in Polen ist, hing von Entscheidungen einzelner Politiker ab, die unter den damaligen Umständen durchaus anders hätten ausgehen können. Und doch hatte Breslau Anteil an einer Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg, die geradewegs in die Katastrophe führte. Vielleicht kann man sogar behaupten, dass sich Breslau gerade wegen seiner Randlage, als deklassierte Stadt, für den pathologischen Nationalismus des 20. Jahrhunderts besonders anfällig erwiesen hat.

Breslaus Zerstörung


Breslau, das mit der Dynamik der westeuropäischen Städte nicht mithalten konnte, war der kulturellen Homogenisierung weniger unterworfen als die aufstrebenden Wirtschaftszentren.2 An der Peripherie hatte sich länger etwas von jener kulturellen Mehrdeutigkeit des vormodernen Europa gehalten, als »Nationalität« für die Menschen noch ganz unverständlich oder aber von untergeordneter Bedeutung gewesen war. Breslau war das urbane Zentrum, der »Brückenlandschaft«3 Schlesien, einem Grenzland der kulturellen Überlagerungen und fließenden Übergänge zwischen Deutschland, Böhmen und Polen. Kulturelle Vielschichtigkeit war hier das Ergebnis immer wieder wechselnder staatlicher Zugehörigkeiten und vielfältiger kultureller Einflüsse. Breslau war im Lauf seiner Geschichte nacheinander polnisch, böhmisch, österreichisch und preu ßisch. Sein Antlitz war schillernd, hatte etwas von Prag und Krakau, war hier das preußisch strenge Berlin und dort das sinnlich barocke Wien. Die Stadt war protestantisch und katholisch und verfügte zudem über die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands. An Breslaus Universität, die 1811 aus der Verschmelzung der Jesuitenakademie Leopoldina mit der protestantischen Viadrina aus Frankfurt an der Oder hervorgegangen war, gab es theologische Fakultäten für beide christlichen Konfessionen und darüber hinaus in der Stadt mit dem...
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